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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Predigen, damit der Konstabler möglich bleibe." Auch von Produktivgenossen-
schaften und lindern sozialistischen Experimenten erwartete er nicht viel. Da¬
gegen empfahl er Aufhebung der Kornzölle, Anbau der Ödländereien, eine
wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung, Schulzwang und allgemeine Wehrpflicht zur
Erhebung der Arbeiter aus ihrer geistigen, sittlichen und leiblichen Verwahr¬
losung, als Mittel gegen Übervölkerung endlich Regelung der Auswanderung
und Eroberungskriege.

Carlyle hat keine Schule gegründet, sagt Dr. von Schutze (1. S. 295),
much nicht unmittelbar ans das Leben eingewirkt. "Dagegen hat er alle jene
Bewegungen, die im Gegensatz zum Individualismus der vorhergehenden Jahr¬
zehnte die sozialen Verhältnisse ihrer Zeit umzugestalten sich bemühten, aufs
tiefgehendste beeinflußt. Gerade darin zeigt sich seine zentrale Stellung, das;
diese Bewegungen durchaus verschiedenartig, ja einander entgegengesetzt sind";
dem freilich, der die Grundgedanken Carlyles kennt, erscheinen sie durch diese
verknüpft. Ihre Darstellung bildet den Gegenstand des zweiten Buches. Es
sind teils konservative, wie der in den Genossenschaften fortlebende christliche
Sozialismus und die Uuiversitätsbeweguug, teils radikale, wie der Positivismus
und der gewöhnliche Sozialismus.

Unter den christlichen Sozialisten ging Denison Maurice so weit, zu sagen:
"Die Meinung, daß wir ein Selbst haben, ist eine Lüge des Teufels." Kiugsleh
rief zu einer Zeit, wo die Chartisten als der Auswurf der Gesellschaft ver¬
abscheut wurden, den obern Klassen und namentlich den Geistlichen zu, sie
wären schuld daran, daß die Chartisten den christlichen Glauben verloren
hätten, weil man die Bibel mißbraucht habe "als Leitfaden für Polizeidiener,
eine Dosis Opium für Lasttiere, ein Buch, um die Armen in Ordnung zu
halten." Er war der erste, dem es gelang, das Mißtrauen der Arbeiter gegen
jeden, der einen bessern Rock anhat, zu überwinden. Diese beiden Männer
und die zahlreichen Freunde, die sie gewonnen hatten, schlössen sich am
18. Februar 1850 unter dem Namen einer "Gesellschaft zur Förderung von
Nrbeitergenosfenschaften" zusammen. Ihnen hauptsächlich ist der kräftige Fort¬
gang der fünfundzwanzig Jahre vorher durch den Sozialisten Owen ein¬
geleiteten genossenschaftlichen Bewegung zu danken. Der Grundgedanke der
Geuosseuschaftslitteratur ist der, daß jeuer Zustand der Gesellschaft, worin der
eine mit dem audern im Kampfe ums Dasein ringt, den frühern Ent-
wicklungsstufen der Menschheit angehöre, der Fortschritt aber darin bestehe,
diesen Kampf zurückzudrängen, sodaß jeder Einzelne, anstatt sein Dasein auf
Kosten der andern zu fristen, mehr und mehr in Gemeinschaft mit andern und
mit ihrer Hilfe lebt. Christus habe die Aufhebung des Kampfes geradezu
geboten und die Einigung zur Grundlage der Gesellschaft gemacht. Die Ge¬
nossenschaften bekennen sich demnach zum Christentum, aber nicht zu einer
bestimmten Konfession. Das Soimtagschristentum, sei es, über das man Streite,


Predigen, damit der Konstabler möglich bleibe." Auch von Produktivgenossen-
schaften und lindern sozialistischen Experimenten erwartete er nicht viel. Da¬
gegen empfahl er Aufhebung der Kornzölle, Anbau der Ödländereien, eine
wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung, Schulzwang und allgemeine Wehrpflicht zur
Erhebung der Arbeiter aus ihrer geistigen, sittlichen und leiblichen Verwahr¬
losung, als Mittel gegen Übervölkerung endlich Regelung der Auswanderung
und Eroberungskriege.

Carlyle hat keine Schule gegründet, sagt Dr. von Schutze (1. S. 295),
much nicht unmittelbar ans das Leben eingewirkt. „Dagegen hat er alle jene
Bewegungen, die im Gegensatz zum Individualismus der vorhergehenden Jahr¬
zehnte die sozialen Verhältnisse ihrer Zeit umzugestalten sich bemühten, aufs
tiefgehendste beeinflußt. Gerade darin zeigt sich seine zentrale Stellung, das;
diese Bewegungen durchaus verschiedenartig, ja einander entgegengesetzt sind";
dem freilich, der die Grundgedanken Carlyles kennt, erscheinen sie durch diese
verknüpft. Ihre Darstellung bildet den Gegenstand des zweiten Buches. Es
sind teils konservative, wie der in den Genossenschaften fortlebende christliche
Sozialismus und die Uuiversitätsbeweguug, teils radikale, wie der Positivismus
und der gewöhnliche Sozialismus.

Unter den christlichen Sozialisten ging Denison Maurice so weit, zu sagen:
„Die Meinung, daß wir ein Selbst haben, ist eine Lüge des Teufels." Kiugsleh
rief zu einer Zeit, wo die Chartisten als der Auswurf der Gesellschaft ver¬
abscheut wurden, den obern Klassen und namentlich den Geistlichen zu, sie
wären schuld daran, daß die Chartisten den christlichen Glauben verloren
hätten, weil man die Bibel mißbraucht habe „als Leitfaden für Polizeidiener,
eine Dosis Opium für Lasttiere, ein Buch, um die Armen in Ordnung zu
halten." Er war der erste, dem es gelang, das Mißtrauen der Arbeiter gegen
jeden, der einen bessern Rock anhat, zu überwinden. Diese beiden Männer
und die zahlreichen Freunde, die sie gewonnen hatten, schlössen sich am
18. Februar 1850 unter dem Namen einer „Gesellschaft zur Förderung von
Nrbeitergenosfenschaften" zusammen. Ihnen hauptsächlich ist der kräftige Fort¬
gang der fünfundzwanzig Jahre vorher durch den Sozialisten Owen ein¬
geleiteten genossenschaftlichen Bewegung zu danken. Der Grundgedanke der
Geuosseuschaftslitteratur ist der, daß jeuer Zustand der Gesellschaft, worin der
eine mit dem audern im Kampfe ums Dasein ringt, den frühern Ent-
wicklungsstufen der Menschheit angehöre, der Fortschritt aber darin bestehe,
diesen Kampf zurückzudrängen, sodaß jeder Einzelne, anstatt sein Dasein auf
Kosten der andern zu fristen, mehr und mehr in Gemeinschaft mit andern und
mit ihrer Hilfe lebt. Christus habe die Aufhebung des Kampfes geradezu
geboten und die Einigung zur Grundlage der Gesellschaft gemacht. Die Ge¬
nossenschaften bekennen sich demnach zum Christentum, aber nicht zu einer
bestimmten Konfession. Das Soimtagschristentum, sei es, über das man Streite,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/589>, abgerufen am 29.06.2024.