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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Zum socialen Frieden

seine klare Scheidung der Erscheinungen von dem Wesen der Dinge den
Glauben ans Jenseits wieder wissenschaftlich möglich gemacht und durch Ab¬
weisung aller selbstsüchtigen Beweggründe in seiner Sittenlehre die Abkehr von
der individualistischen Richtung eingeleitet zu haben. Goethe aber, der ur¬
sprünglich pessimistisch und revolutionär gesinnt war, habe sich zu einem Stand¬
punkte durchgearbeitet, von dein ans ihm die Welt nicht nur erträglich, sondern
voll vo" Erhabenheit und Lieblichkeit erschien; ihm sei es gelungen, die Wider¬
sprüche seiner Zeit dnrchzulebeu, zu überwinden und innere Klarheit und Ge¬
sundheit zu erreichen, jene Einheit und Harmonie, wie sie in frühern, gläubigen
Zeiten vielen beschieden war. Zugleich zeige er den Weg zur Gesundung,
indem er entsagende unermüdliche Thätigkeit preist.

Indem nun Carlyle seine Anschauungsweise auf die Heilung der sozialen
Gebrechen seines Landes anwandte, empfahl er jene Wege, die seitdem that¬
sächlich und mit gutem Erfolg eingeschlagen worden sind. Vor allem müsse
jeder sich selbst reformiren. Der wiedergewonnene Glaube, die Hingebung für
den Nächsten werde die Menschen wieder zu Genossenschaften vereinigen und
die zersetzte Gesellschaft muss neue gliedern. Die Genossenschaft oder Körper¬
schaft, die den positiven Perioden angehört, unterscheidet sich von dem Verein,
der sie in negative" Perioden äußerlich nachahmt, dadurch, daß sie uicht auf
selbstsüchtiger Berechnung beruht, sondern Aufopferung und Hingebung voraus¬
setzt, das ganze Leben der Genossen beeinflußt und den Standes- oder Korps¬
geist erzeugt, während beim Verein jedes Mitglied nur insoweit beteiligt ist,
als sein persönlicher Nutzen oder der besondre Vereinszweck es fordert. Die
englischen Gewerkvereine und Genossenschaften sind in der That keine bloßen
Vereine, sondern Körperschaften. Von Reaktion, kirchlicher wie politischer,
wollte Carlyle nichts wissen. Die notwendige Vindnng der Einzelnen an das
Gemeinwesen müsse von innen heraus im Geiste der neuen Zeit erfolgen, die
feudalen "Halsbandmethoden" seien nicht mehr anwendbar. Auch die kathvli-
sirende Richtung der anglikanischen Kirche bekämpfte er; jeden Versuch, Glaubens¬
bekenntnisse aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen, die sich seiner Ansicht
nach überlebt haben, verwarf er als "Jesuitismus." Am nllerentschiedensten
aber verurteilte er die Anwendung der Religion zu Polizeizwecken. "Denke dir
einen Menschen, sagt er in ?We -mal ^rssönt, der seinen Mitmenschen empfiehlt,
an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die
Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee
ist toller als irgend eine von denen, die man ans Plakatstangen liest. Du
wirst finden, mein Freund, daß aller Chartismus, Manchestererzesse, parla¬
mentarische Inkompetenz, Windbeutelministerien, die wildeste soziale Auflösung,
ja die Verbrennung unsers ganzen Planeten im Vergleich damit Kleinigkeiten
sind. Ebensogut würde ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnen-
systeme als Wegweiser für kleine Heringsschiffe zu schaffen, als Religion zu


Zum socialen Frieden

seine klare Scheidung der Erscheinungen von dem Wesen der Dinge den
Glauben ans Jenseits wieder wissenschaftlich möglich gemacht und durch Ab¬
weisung aller selbstsüchtigen Beweggründe in seiner Sittenlehre die Abkehr von
der individualistischen Richtung eingeleitet zu haben. Goethe aber, der ur¬
sprünglich pessimistisch und revolutionär gesinnt war, habe sich zu einem Stand¬
punkte durchgearbeitet, von dein ans ihm die Welt nicht nur erträglich, sondern
voll vo» Erhabenheit und Lieblichkeit erschien; ihm sei es gelungen, die Wider¬
sprüche seiner Zeit dnrchzulebeu, zu überwinden und innere Klarheit und Ge¬
sundheit zu erreichen, jene Einheit und Harmonie, wie sie in frühern, gläubigen
Zeiten vielen beschieden war. Zugleich zeige er den Weg zur Gesundung,
indem er entsagende unermüdliche Thätigkeit preist.

Indem nun Carlyle seine Anschauungsweise auf die Heilung der sozialen
Gebrechen seines Landes anwandte, empfahl er jene Wege, die seitdem that¬
sächlich und mit gutem Erfolg eingeschlagen worden sind. Vor allem müsse
jeder sich selbst reformiren. Der wiedergewonnene Glaube, die Hingebung für
den Nächsten werde die Menschen wieder zu Genossenschaften vereinigen und
die zersetzte Gesellschaft muss neue gliedern. Die Genossenschaft oder Körper¬
schaft, die den positiven Perioden angehört, unterscheidet sich von dem Verein,
der sie in negative» Perioden äußerlich nachahmt, dadurch, daß sie uicht auf
selbstsüchtiger Berechnung beruht, sondern Aufopferung und Hingebung voraus¬
setzt, das ganze Leben der Genossen beeinflußt und den Standes- oder Korps¬
geist erzeugt, während beim Verein jedes Mitglied nur insoweit beteiligt ist,
als sein persönlicher Nutzen oder der besondre Vereinszweck es fordert. Die
englischen Gewerkvereine und Genossenschaften sind in der That keine bloßen
Vereine, sondern Körperschaften. Von Reaktion, kirchlicher wie politischer,
wollte Carlyle nichts wissen. Die notwendige Vindnng der Einzelnen an das
Gemeinwesen müsse von innen heraus im Geiste der neuen Zeit erfolgen, die
feudalen „Halsbandmethoden" seien nicht mehr anwendbar. Auch die kathvli-
sirende Richtung der anglikanischen Kirche bekämpfte er; jeden Versuch, Glaubens¬
bekenntnisse aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen, die sich seiner Ansicht
nach überlebt haben, verwarf er als „Jesuitismus." Am nllerentschiedensten
aber verurteilte er die Anwendung der Religion zu Polizeizwecken. „Denke dir
einen Menschen, sagt er in ?We -mal ^rssönt, der seinen Mitmenschen empfiehlt,
an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die
Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee
ist toller als irgend eine von denen, die man ans Plakatstangen liest. Du
wirst finden, mein Freund, daß aller Chartismus, Manchestererzesse, parla¬
mentarische Inkompetenz, Windbeutelministerien, die wildeste soziale Auflösung,
ja die Verbrennung unsers ganzen Planeten im Vergleich damit Kleinigkeiten
sind. Ebensogut würde ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnen-
systeme als Wegweiser für kleine Heringsschiffe zu schaffen, als Religion zu


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[0588] Zum socialen Frieden seine klare Scheidung der Erscheinungen von dem Wesen der Dinge den Glauben ans Jenseits wieder wissenschaftlich möglich gemacht und durch Ab¬ weisung aller selbstsüchtigen Beweggründe in seiner Sittenlehre die Abkehr von der individualistischen Richtung eingeleitet zu haben. Goethe aber, der ur¬ sprünglich pessimistisch und revolutionär gesinnt war, habe sich zu einem Stand¬ punkte durchgearbeitet, von dein ans ihm die Welt nicht nur erträglich, sondern voll vo» Erhabenheit und Lieblichkeit erschien; ihm sei es gelungen, die Wider¬ sprüche seiner Zeit dnrchzulebeu, zu überwinden und innere Klarheit und Ge¬ sundheit zu erreichen, jene Einheit und Harmonie, wie sie in frühern, gläubigen Zeiten vielen beschieden war. Zugleich zeige er den Weg zur Gesundung, indem er entsagende unermüdliche Thätigkeit preist. Indem nun Carlyle seine Anschauungsweise auf die Heilung der sozialen Gebrechen seines Landes anwandte, empfahl er jene Wege, die seitdem that¬ sächlich und mit gutem Erfolg eingeschlagen worden sind. Vor allem müsse jeder sich selbst reformiren. Der wiedergewonnene Glaube, die Hingebung für den Nächsten werde die Menschen wieder zu Genossenschaften vereinigen und die zersetzte Gesellschaft muss neue gliedern. Die Genossenschaft oder Körper¬ schaft, die den positiven Perioden angehört, unterscheidet sich von dem Verein, der sie in negative» Perioden äußerlich nachahmt, dadurch, daß sie uicht auf selbstsüchtiger Berechnung beruht, sondern Aufopferung und Hingebung voraus¬ setzt, das ganze Leben der Genossen beeinflußt und den Standes- oder Korps¬ geist erzeugt, während beim Verein jedes Mitglied nur insoweit beteiligt ist, als sein persönlicher Nutzen oder der besondre Vereinszweck es fordert. Die englischen Gewerkvereine und Genossenschaften sind in der That keine bloßen Vereine, sondern Körperschaften. Von Reaktion, kirchlicher wie politischer, wollte Carlyle nichts wissen. Die notwendige Vindnng der Einzelnen an das Gemeinwesen müsse von innen heraus im Geiste der neuen Zeit erfolgen, die feudalen „Halsbandmethoden" seien nicht mehr anwendbar. Auch die kathvli- sirende Richtung der anglikanischen Kirche bekämpfte er; jeden Versuch, Glaubens¬ bekenntnisse aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen, die sich seiner Ansicht nach überlebt haben, verwarf er als „Jesuitismus." Am nllerentschiedensten aber verurteilte er die Anwendung der Religion zu Polizeizwecken. „Denke dir einen Menschen, sagt er in ?We -mal ^rssönt, der seinen Mitmenschen empfiehlt, an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee ist toller als irgend eine von denen, die man ans Plakatstangen liest. Du wirst finden, mein Freund, daß aller Chartismus, Manchestererzesse, parla¬ mentarische Inkompetenz, Windbeutelministerien, die wildeste soziale Auflösung, ja die Verbrennung unsers ganzen Planeten im Vergleich damit Kleinigkeiten sind. Ebensogut würde ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnen- systeme als Wegweiser für kleine Heringsschiffe zu schaffen, als Religion zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/588>, abgerufen am 29.06.2024.