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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Kunst in England

fehlen auch die großen Kraftproben, die, zwar oft totgeborne Kinder, doch den
französischen und deutschen Ausstellungen ihr Gepräge geben. Die englischen
Bilder werden nur für den or^vin^ room des Privathauses geschaffen und
folgen in Stoff und Behandlung durchweg der nicht ganz unberechtigten An¬
schauung, daß das Gemälde in erster Linie ein behagliches Möbel des Wohn¬
zimmers sein solle. Die Trägerin des Kunstsinnes in England aber ist die
Lady; der Mann, der wichtigeres zu thun und zu denken hat, kümmert sich
am Kunstsport nur insoweit, als er in der Familie dafür interessirt wird.
Daher der einseitig weibliche Charakter der englischen Malerei, in der das ge¬
waltige soziale Ringen der Gegenwart, der struMls t'or Ms, nicht im geringsten
zu Worte kommt, sondern die sich, als ob es kein Whitechapel gäbe, durchweg
in den Grenzen der Liebenswürdigkeit, Wohlsituirtheit und Wohlgemessenheit
bewegt. Neben Landschaften und Porträts, die wie ehedem obenan stehen,
giebt es nur kleine Genrebilder. Hier ist noch immer der Zusammenhang mit
der Litteratur, der Anschluß an Dichtungen beliebt, Stoffen aus dem gewöhn¬
lichen Volksleben wird irgend ein rührender Zug, eine zarte Episode, ein süßer
Ausdruck eingemischt. Es kommt nicht vor, daß ein Bild bloß um der
"malerischen Qualitäten" willen treu nach dem Leben gemalt würde. Der Eng¬
länder will, wenn er seine Arbeit hinter sich hat, durch nichts an die Prosa
des Lebens erinnert sein. "Darum wollen wir -- sagt Redgrave, der Geschicht¬
schreiber der englischen Malerei -- auch im Bilde nur solche Gegenstände sehen,
die wir lieben können, die uns eine Erquickung in den Augenblicken der Ruhe
nach der harten Arbeit des Tages gewähren. Deshalb finden heimische oder
fremde Dichter an den englischen Malern ihre liebevollen Interpreten, und
selbst wenn diese ihre Stoffe aus dem gewöhnlichen Volksleben schöpfen, wissen
sie daraus solche Züge zu wählen, durch die auch diese Gegenstünde mit
der edlern Menschlichkeit in uns selbst verknüpft werden." In der Kunst keines
andern Volkes finden die entzückend anmutigen englischen Kinderdarstellungen
ihresgleichen, nirgend anderswo findet man eine solche Liebe zu Tieren; aber
das soziale und gesellschaftliche Leben wird als unantastbares Gebiet betrachtet.
Und ebenso wenig, wie in den Stoffen ein engerer Zusammenhang mit dem
Leben gewünscht wird, strebt die Farbengebung eine genaue Wiedergabe der
Wirklichkeit an. Die Farben sind mit Zurückhaltung gewühlt, da giebt es
nichts Lautes, Kreischendes, alles ist gedämpft, gemildert, wie der Leisetritt
des Bedienten im Schlosse des Lords. Die besondre Eigenart aller englischen
Bilder besteht in einem grünlich oder bläulich leuchtenden Gesamtton, dein sich
jeder englische Maler wie einer zwingenden Gesellschaftsform zu beugen scheint,
und der selbst durch die englischen Landschaften hindurchgeht. Man wird des¬
halb trotz Constable kaum berechtigt sein, die Engländer als die Vorläufer
der heutigen Freilichtmaler zu bezeichnen. Das Luft- und Lichtelement, das
die Formen durchtränkt, ist erst dnrch die großen Meister von Fontainebleau


Die Kunst in England

fehlen auch die großen Kraftproben, die, zwar oft totgeborne Kinder, doch den
französischen und deutschen Ausstellungen ihr Gepräge geben. Die englischen
Bilder werden nur für den or^vin^ room des Privathauses geschaffen und
folgen in Stoff und Behandlung durchweg der nicht ganz unberechtigten An¬
schauung, daß das Gemälde in erster Linie ein behagliches Möbel des Wohn¬
zimmers sein solle. Die Trägerin des Kunstsinnes in England aber ist die
Lady; der Mann, der wichtigeres zu thun und zu denken hat, kümmert sich
am Kunstsport nur insoweit, als er in der Familie dafür interessirt wird.
Daher der einseitig weibliche Charakter der englischen Malerei, in der das ge¬
waltige soziale Ringen der Gegenwart, der struMls t'or Ms, nicht im geringsten
zu Worte kommt, sondern die sich, als ob es kein Whitechapel gäbe, durchweg
in den Grenzen der Liebenswürdigkeit, Wohlsituirtheit und Wohlgemessenheit
bewegt. Neben Landschaften und Porträts, die wie ehedem obenan stehen,
giebt es nur kleine Genrebilder. Hier ist noch immer der Zusammenhang mit
der Litteratur, der Anschluß an Dichtungen beliebt, Stoffen aus dem gewöhn¬
lichen Volksleben wird irgend ein rührender Zug, eine zarte Episode, ein süßer
Ausdruck eingemischt. Es kommt nicht vor, daß ein Bild bloß um der
„malerischen Qualitäten" willen treu nach dem Leben gemalt würde. Der Eng¬
länder will, wenn er seine Arbeit hinter sich hat, durch nichts an die Prosa
des Lebens erinnert sein. „Darum wollen wir — sagt Redgrave, der Geschicht¬
schreiber der englischen Malerei — auch im Bilde nur solche Gegenstände sehen,
die wir lieben können, die uns eine Erquickung in den Augenblicken der Ruhe
nach der harten Arbeit des Tages gewähren. Deshalb finden heimische oder
fremde Dichter an den englischen Malern ihre liebevollen Interpreten, und
selbst wenn diese ihre Stoffe aus dem gewöhnlichen Volksleben schöpfen, wissen
sie daraus solche Züge zu wählen, durch die auch diese Gegenstünde mit
der edlern Menschlichkeit in uns selbst verknüpft werden." In der Kunst keines
andern Volkes finden die entzückend anmutigen englischen Kinderdarstellungen
ihresgleichen, nirgend anderswo findet man eine solche Liebe zu Tieren; aber
das soziale und gesellschaftliche Leben wird als unantastbares Gebiet betrachtet.
Und ebenso wenig, wie in den Stoffen ein engerer Zusammenhang mit dem
Leben gewünscht wird, strebt die Farbengebung eine genaue Wiedergabe der
Wirklichkeit an. Die Farben sind mit Zurückhaltung gewühlt, da giebt es
nichts Lautes, Kreischendes, alles ist gedämpft, gemildert, wie der Leisetritt
des Bedienten im Schlosse des Lords. Die besondre Eigenart aller englischen
Bilder besteht in einem grünlich oder bläulich leuchtenden Gesamtton, dein sich
jeder englische Maler wie einer zwingenden Gesellschaftsform zu beugen scheint,
und der selbst durch die englischen Landschaften hindurchgeht. Man wird des¬
halb trotz Constable kaum berechtigt sein, die Engländer als die Vorläufer
der heutigen Freilichtmaler zu bezeichnen. Das Luft- und Lichtelement, das
die Formen durchtränkt, ist erst dnrch die großen Meister von Fontainebleau


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[0565] Die Kunst in England fehlen auch die großen Kraftproben, die, zwar oft totgeborne Kinder, doch den französischen und deutschen Ausstellungen ihr Gepräge geben. Die englischen Bilder werden nur für den or^vin^ room des Privathauses geschaffen und folgen in Stoff und Behandlung durchweg der nicht ganz unberechtigten An¬ schauung, daß das Gemälde in erster Linie ein behagliches Möbel des Wohn¬ zimmers sein solle. Die Trägerin des Kunstsinnes in England aber ist die Lady; der Mann, der wichtigeres zu thun und zu denken hat, kümmert sich am Kunstsport nur insoweit, als er in der Familie dafür interessirt wird. Daher der einseitig weibliche Charakter der englischen Malerei, in der das ge¬ waltige soziale Ringen der Gegenwart, der struMls t'or Ms, nicht im geringsten zu Worte kommt, sondern die sich, als ob es kein Whitechapel gäbe, durchweg in den Grenzen der Liebenswürdigkeit, Wohlsituirtheit und Wohlgemessenheit bewegt. Neben Landschaften und Porträts, die wie ehedem obenan stehen, giebt es nur kleine Genrebilder. Hier ist noch immer der Zusammenhang mit der Litteratur, der Anschluß an Dichtungen beliebt, Stoffen aus dem gewöhn¬ lichen Volksleben wird irgend ein rührender Zug, eine zarte Episode, ein süßer Ausdruck eingemischt. Es kommt nicht vor, daß ein Bild bloß um der „malerischen Qualitäten" willen treu nach dem Leben gemalt würde. Der Eng¬ länder will, wenn er seine Arbeit hinter sich hat, durch nichts an die Prosa des Lebens erinnert sein. „Darum wollen wir — sagt Redgrave, der Geschicht¬ schreiber der englischen Malerei — auch im Bilde nur solche Gegenstände sehen, die wir lieben können, die uns eine Erquickung in den Augenblicken der Ruhe nach der harten Arbeit des Tages gewähren. Deshalb finden heimische oder fremde Dichter an den englischen Malern ihre liebevollen Interpreten, und selbst wenn diese ihre Stoffe aus dem gewöhnlichen Volksleben schöpfen, wissen sie daraus solche Züge zu wählen, durch die auch diese Gegenstünde mit der edlern Menschlichkeit in uns selbst verknüpft werden." In der Kunst keines andern Volkes finden die entzückend anmutigen englischen Kinderdarstellungen ihresgleichen, nirgend anderswo findet man eine solche Liebe zu Tieren; aber das soziale und gesellschaftliche Leben wird als unantastbares Gebiet betrachtet. Und ebenso wenig, wie in den Stoffen ein engerer Zusammenhang mit dem Leben gewünscht wird, strebt die Farbengebung eine genaue Wiedergabe der Wirklichkeit an. Die Farben sind mit Zurückhaltung gewühlt, da giebt es nichts Lautes, Kreischendes, alles ist gedämpft, gemildert, wie der Leisetritt des Bedienten im Schlosse des Lords. Die besondre Eigenart aller englischen Bilder besteht in einem grünlich oder bläulich leuchtenden Gesamtton, dein sich jeder englische Maler wie einer zwingenden Gesellschaftsform zu beugen scheint, und der selbst durch die englischen Landschaften hindurchgeht. Man wird des¬ halb trotz Constable kaum berechtigt sein, die Engländer als die Vorläufer der heutigen Freilichtmaler zu bezeichnen. Das Luft- und Lichtelement, das die Formen durchtränkt, ist erst dnrch die großen Meister von Fontainebleau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/565>, abgerufen am 28.09.2024.