Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

die Schule und beginne Turner zu sein. Zunächst sind es die atmosphärischen
Erscheinungen im Lande des Nebels, die ihn beschäftigen. Dann, als ihm das
ewige Grau zu spleeuig wird, sucht er im Lande der Sonne die volle Ver¬
körperung seiner Lichttrüume. Es ist unmöglich, in Worten eine Vorstellung
von dem Wesen Turners zu geben, auch Nachbildungen können nur falsche
Vorstellungen erwecken. Um auf kleinem Raum möglichst viel Licht zu sammeln,
nimmt er die Perspektive weit und tief, den Himmel grenzenlos, das Meer als
Reflektor des Lichts. Überall, bis an den Rand des Gemäldes ist Licht.
Me Abstufungen des Lichtes, von der silbernen Morgendämmerung bis zum
goldnen Glanz des Abendroth hat er gemalt. Dabei wird die Anordnung
immer freier und leichter, die Pinselführung immer duftiger nud zügelloser,
die Färbung und Gesamtstimmung immer märchenhafter und phantastischer.
Bald ist es die Menschenkraft im Kampf mit Naturphänomenen, wie "Feuer
auf See," "Das Dampfschiff im Seesturm," "Der Eisenbahnzug im Regen
und Sturm," bald sind es ganz der Phantasie entsprungene pvesiereiche Farben¬
spiele wie "Die Sonne Venedigs." Ich möchte sagen, daß er der größte
Farbendichter gewesen sei, der je gelebt habe.

Aber in England ist manches verdreht, und so war auch die Weiterent¬
wicklung der englischen Malerei ein Krebsgang. Kurz vor der Mitte des
Jahrhunderts begann in England ganz unvorhergesehen die Strömung, die
etwa mit unsrer deutschen Romantik parallel geht. Sie hing zusammen mit
der religiösen Bewegung, mit der Restauration der Gothik und der Romantik
im allgemeinen, zum nicht geringen Teil aber mit kunsthistorischen Stadien in
Italien und der Richtung des Sammeleifers, Strömungen, die naturgemäß zu
archaischen Formen und Techniken wie zu legendarischer und allegorischer
Stosfwahl pietistischen oder klassizistischen Charakters führen mußten. Auf die
Zeit des gesunden Mannesalters folgte also die Kinderkrankheit des Prü-
rafaelitcntums, das unter der Protektion des Kunstphilosophen Ruskin das ganze
Highlife ansteckte. Die englische Kunst, die nie eine Jugend gehabt hat, wollte
sich auf diese Weise eine künstliche Kindheit erträumen. Man hatte die
frömmsten Fra Angelicos, die süßesten Botticellis tagtäglich in der MtioimI
vor Angen, auf den jährlichen Reisen nach Italien sog man sich voll
von dem Blute der alten Meister und begann nun kindlich fromm wie sie zu
stammeln, aus dem nebligen London der Eisenbahnen sich in das sonnige
Italien Botticellis zu flüchten. Es war die Zeit, wo die Londoner Backfische
wie- Frühitalienerinnen aus Dantes Intsrno einhergingen, wo Jellabh
Postlethwaite zur Mittagsstunde in ein Restaurant ging, sich ein Glas Wasser
kommen ließ und eine Lilie, die er mitgebracht hatte, hineinstellte. Was darf
ich sonst bringen? fragte der Kellner. Nichts, hauchte er, das ist alles, was
ich zum Sattwerden brauche. Zu der ältern englischen Kunst verhält sich
diese prärafaelitische wie Thee zu Beefsteak. Sie vertritt das ästhetisch


die Schule und beginne Turner zu sein. Zunächst sind es die atmosphärischen
Erscheinungen im Lande des Nebels, die ihn beschäftigen. Dann, als ihm das
ewige Grau zu spleeuig wird, sucht er im Lande der Sonne die volle Ver¬
körperung seiner Lichttrüume. Es ist unmöglich, in Worten eine Vorstellung
von dem Wesen Turners zu geben, auch Nachbildungen können nur falsche
Vorstellungen erwecken. Um auf kleinem Raum möglichst viel Licht zu sammeln,
nimmt er die Perspektive weit und tief, den Himmel grenzenlos, das Meer als
Reflektor des Lichts. Überall, bis an den Rand des Gemäldes ist Licht.
Me Abstufungen des Lichtes, von der silbernen Morgendämmerung bis zum
goldnen Glanz des Abendroth hat er gemalt. Dabei wird die Anordnung
immer freier und leichter, die Pinselführung immer duftiger nud zügelloser,
die Färbung und Gesamtstimmung immer märchenhafter und phantastischer.
Bald ist es die Menschenkraft im Kampf mit Naturphänomenen, wie „Feuer
auf See," „Das Dampfschiff im Seesturm," „Der Eisenbahnzug im Regen
und Sturm," bald sind es ganz der Phantasie entsprungene pvesiereiche Farben¬
spiele wie „Die Sonne Venedigs." Ich möchte sagen, daß er der größte
Farbendichter gewesen sei, der je gelebt habe.

Aber in England ist manches verdreht, und so war auch die Weiterent¬
wicklung der englischen Malerei ein Krebsgang. Kurz vor der Mitte des
Jahrhunderts begann in England ganz unvorhergesehen die Strömung, die
etwa mit unsrer deutschen Romantik parallel geht. Sie hing zusammen mit
der religiösen Bewegung, mit der Restauration der Gothik und der Romantik
im allgemeinen, zum nicht geringen Teil aber mit kunsthistorischen Stadien in
Italien und der Richtung des Sammeleifers, Strömungen, die naturgemäß zu
archaischen Formen und Techniken wie zu legendarischer und allegorischer
Stosfwahl pietistischen oder klassizistischen Charakters führen mußten. Auf die
Zeit des gesunden Mannesalters folgte also die Kinderkrankheit des Prü-
rafaelitcntums, das unter der Protektion des Kunstphilosophen Ruskin das ganze
Highlife ansteckte. Die englische Kunst, die nie eine Jugend gehabt hat, wollte
sich auf diese Weise eine künstliche Kindheit erträumen. Man hatte die
frömmsten Fra Angelicos, die süßesten Botticellis tagtäglich in der MtioimI
vor Angen, auf den jährlichen Reisen nach Italien sog man sich voll
von dem Blute der alten Meister und begann nun kindlich fromm wie sie zu
stammeln, aus dem nebligen London der Eisenbahnen sich in das sonnige
Italien Botticellis zu flüchten. Es war die Zeit, wo die Londoner Backfische
wie- Frühitalienerinnen aus Dantes Intsrno einhergingen, wo Jellabh
Postlethwaite zur Mittagsstunde in ein Restaurant ging, sich ein Glas Wasser
kommen ließ und eine Lilie, die er mitgebracht hatte, hineinstellte. Was darf
ich sonst bringen? fragte der Kellner. Nichts, hauchte er, das ist alles, was
ich zum Sattwerden brauche. Zu der ältern englischen Kunst verhält sich
diese prärafaelitische wie Thee zu Beefsteak. Sie vertritt das ästhetisch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0562" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208499"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1762" prev="#ID_1761"> die Schule und beginne Turner zu sein. Zunächst sind es die atmosphärischen<lb/>
Erscheinungen im Lande des Nebels, die ihn beschäftigen. Dann, als ihm das<lb/>
ewige Grau zu spleeuig wird, sucht er im Lande der Sonne die volle Ver¬<lb/>
körperung seiner Lichttrüume. Es ist unmöglich, in Worten eine Vorstellung<lb/>
von dem Wesen Turners zu geben, auch Nachbildungen können nur falsche<lb/>
Vorstellungen erwecken. Um auf kleinem Raum möglichst viel Licht zu sammeln,<lb/>
nimmt er die Perspektive weit und tief, den Himmel grenzenlos, das Meer als<lb/>
Reflektor des Lichts. Überall, bis an den Rand des Gemäldes ist Licht.<lb/>
Me Abstufungen des Lichtes, von der silbernen Morgendämmerung bis zum<lb/>
goldnen Glanz des Abendroth hat er gemalt. Dabei wird die Anordnung<lb/>
immer freier und leichter, die Pinselführung immer duftiger nud zügelloser,<lb/>
die Färbung und Gesamtstimmung immer märchenhafter und phantastischer.<lb/>
Bald ist es die Menschenkraft im Kampf mit Naturphänomenen, wie &#x201E;Feuer<lb/>
auf See," &#x201E;Das Dampfschiff im Seesturm," &#x201E;Der Eisenbahnzug im Regen<lb/>
und Sturm," bald sind es ganz der Phantasie entsprungene pvesiereiche Farben¬<lb/>
spiele wie &#x201E;Die Sonne Venedigs." Ich möchte sagen, daß er der größte<lb/>
Farbendichter gewesen sei, der je gelebt habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1763" next="#ID_1764"> Aber in England ist manches verdreht, und so war auch die Weiterent¬<lb/>
wicklung der englischen Malerei ein Krebsgang. Kurz vor der Mitte des<lb/>
Jahrhunderts begann in England ganz unvorhergesehen die Strömung, die<lb/>
etwa mit unsrer deutschen Romantik parallel geht. Sie hing zusammen mit<lb/>
der religiösen Bewegung, mit der Restauration der Gothik und der Romantik<lb/>
im allgemeinen, zum nicht geringen Teil aber mit kunsthistorischen Stadien in<lb/>
Italien und der Richtung des Sammeleifers, Strömungen, die naturgemäß zu<lb/>
archaischen Formen und Techniken wie zu legendarischer und allegorischer<lb/>
Stosfwahl pietistischen oder klassizistischen Charakters führen mußten. Auf die<lb/>
Zeit des gesunden Mannesalters folgte also die Kinderkrankheit des Prü-<lb/>
rafaelitcntums, das unter der Protektion des Kunstphilosophen Ruskin das ganze<lb/>
Highlife ansteckte. Die englische Kunst, die nie eine Jugend gehabt hat, wollte<lb/>
sich auf diese Weise eine künstliche Kindheit erträumen. Man hatte die<lb/>
frömmsten Fra Angelicos, die süßesten Botticellis tagtäglich in der MtioimI<lb/>
vor Angen, auf den jährlichen Reisen nach Italien sog man sich voll<lb/>
von dem Blute der alten Meister und begann nun kindlich fromm wie sie zu<lb/>
stammeln, aus dem nebligen London der Eisenbahnen sich in das sonnige<lb/>
Italien Botticellis zu flüchten. Es war die Zeit, wo die Londoner Backfische<lb/>
wie- Frühitalienerinnen aus Dantes Intsrno einhergingen, wo Jellabh<lb/>
Postlethwaite zur Mittagsstunde in ein Restaurant ging, sich ein Glas Wasser<lb/>
kommen ließ und eine Lilie, die er mitgebracht hatte, hineinstellte. Was darf<lb/>
ich sonst bringen? fragte der Kellner. Nichts, hauchte er, das ist alles, was<lb/>
ich zum Sattwerden brauche. Zu der ältern englischen Kunst verhält sich<lb/>
diese prärafaelitische wie Thee zu Beefsteak.  Sie vertritt das ästhetisch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0562] die Schule und beginne Turner zu sein. Zunächst sind es die atmosphärischen Erscheinungen im Lande des Nebels, die ihn beschäftigen. Dann, als ihm das ewige Grau zu spleeuig wird, sucht er im Lande der Sonne die volle Ver¬ körperung seiner Lichttrüume. Es ist unmöglich, in Worten eine Vorstellung von dem Wesen Turners zu geben, auch Nachbildungen können nur falsche Vorstellungen erwecken. Um auf kleinem Raum möglichst viel Licht zu sammeln, nimmt er die Perspektive weit und tief, den Himmel grenzenlos, das Meer als Reflektor des Lichts. Überall, bis an den Rand des Gemäldes ist Licht. Me Abstufungen des Lichtes, von der silbernen Morgendämmerung bis zum goldnen Glanz des Abendroth hat er gemalt. Dabei wird die Anordnung immer freier und leichter, die Pinselführung immer duftiger nud zügelloser, die Färbung und Gesamtstimmung immer märchenhafter und phantastischer. Bald ist es die Menschenkraft im Kampf mit Naturphänomenen, wie „Feuer auf See," „Das Dampfschiff im Seesturm," „Der Eisenbahnzug im Regen und Sturm," bald sind es ganz der Phantasie entsprungene pvesiereiche Farben¬ spiele wie „Die Sonne Venedigs." Ich möchte sagen, daß er der größte Farbendichter gewesen sei, der je gelebt habe. Aber in England ist manches verdreht, und so war auch die Weiterent¬ wicklung der englischen Malerei ein Krebsgang. Kurz vor der Mitte des Jahrhunderts begann in England ganz unvorhergesehen die Strömung, die etwa mit unsrer deutschen Romantik parallel geht. Sie hing zusammen mit der religiösen Bewegung, mit der Restauration der Gothik und der Romantik im allgemeinen, zum nicht geringen Teil aber mit kunsthistorischen Stadien in Italien und der Richtung des Sammeleifers, Strömungen, die naturgemäß zu archaischen Formen und Techniken wie zu legendarischer und allegorischer Stosfwahl pietistischen oder klassizistischen Charakters führen mußten. Auf die Zeit des gesunden Mannesalters folgte also die Kinderkrankheit des Prü- rafaelitcntums, das unter der Protektion des Kunstphilosophen Ruskin das ganze Highlife ansteckte. Die englische Kunst, die nie eine Jugend gehabt hat, wollte sich auf diese Weise eine künstliche Kindheit erträumen. Man hatte die frömmsten Fra Angelicos, die süßesten Botticellis tagtäglich in der MtioimI vor Angen, auf den jährlichen Reisen nach Italien sog man sich voll von dem Blute der alten Meister und begann nun kindlich fromm wie sie zu stammeln, aus dem nebligen London der Eisenbahnen sich in das sonnige Italien Botticellis zu flüchten. Es war die Zeit, wo die Londoner Backfische wie- Frühitalienerinnen aus Dantes Intsrno einhergingen, wo Jellabh Postlethwaite zur Mittagsstunde in ein Restaurant ging, sich ein Glas Wasser kommen ließ und eine Lilie, die er mitgebracht hatte, hineinstellte. Was darf ich sonst bringen? fragte der Kellner. Nichts, hauchte er, das ist alles, was ich zum Sattwerden brauche. Zu der ältern englischen Kunst verhält sich diese prärafaelitische wie Thee zu Beefsteak. Sie vertritt das ästhetisch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/562
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/562>, abgerufen am 29.06.2024.