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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

bietet so erstaunliche Gegensätze im geistigen Leben eines Volkes wie das acht¬
zehnte Jahrhundert: ruhige, kalt abwägende Verstandesthütigkeit und nervöse
Überspanntheit, stürmisches Auflodern und thränenselige Weichheit, leidenschaft-
liches Angreifer und zaghafte Resignation, hochtrabende Menschenwürde und
sittliche Verkommenheit. Lotheißen hat diese haltlosen Zustände, die notwendig
zum Sturz aller bestehenden Einrichtungen führen mußten, in seiner Abhand¬
lung "Das Königtum" vortrefflich dargestellt. Dasselbe Lob verdienen die
beiden folgenden Aufsätze "Die Prinzen von Conde" und "Im Hause der
Conde," von denen der erste auf einem Werke des Herzogs von Anmale beruht,
der zweite auf der biographischen und geschichtlichen Studie Allaires: I^g-Lru^vis
ains 1a maison ceo LonÜL. Beide geben ein deutliches Bild von Lotheißens
sichtender und bei aller Anlehnung selbständiger Arbeitsweise. Wahre Knbinet-
stücke kulturgeschichtlicher Darstellungskuust siud die drei Abhandlungen: "Aus
dem Rigel-IM des vorigen Jahrhunderts," "Ein Arzt im siebzehnten Jahr¬
hundert" und "Galeeren und Galeerensklaven." Obgleich sie dem Kultur¬
historiker wenig Neues bieten, so halten sie doch durch ihre lebendige Dar¬
stellung und gediegene Form die Aufmerksamkeit des Lesers in fortwährender
Spannung. In dem ersten Aufsatze sucht Lotheißen nachzuweisen, daß das
ganze gesellschaftliche Leben im achtzehnten Jahrhundert lediglich von den
Frauen beherrscht worden sei, daß niemals die Macht der Frauen, obwohl sie
damals zeitlebens als unmündig galten und gesetzlich fast rechtlos waren,
höher gestiegen sei, als vor dem Ausbruch der Revolution. "Es bedürfte
dazu einer entschiednen, aber bereits absterbenden Despotie, einer gebildeten,
jedoch innerlich zersetzten Gesellschaft, scharf ausgeprägter Stnndesunterschiede
bei steigender demokratischer Ausgleichung, politischer Schwäche bei regem
geistigen Leben. Es bedürfte dazu jener Schwüle, die dem Ausbruch des
Wirbelstnrmes vorausgeht und nervenschwache Menschen antreibt, sich um jeden
Preis zu zerstreuen und zu vergessen." In der folgenden Abhandlung schildert
der Verfasser sehr anschaulich den Bildungsgang, die praktische Thätigkeit und
die gesellschaftliche Stellung der französischen Ärzte im siebzehnten Jahrhundert.
Es war damals keineswegs die Hauptaufgabe dieser Herren, sich eine genaue
Kenntnis des menschlichen Körpers und der verschiednen Krankheiten zu er¬
werben, sie hatten im Gegenteil vor allein die Pflicht, sich in dem Gebrauch
der alten Sprachen zu üben und sich in der Kunst der Dialektik gründlich
auszubilden. Llyswrinnr cloimrö -- ?0se<zg, ssiM^rs -- Lnsuitg, xnrAars --
in diesen Vorschriften lag das ganze Geheimnis ihrer Arzneiwissenschaft. Das
litterarische Leben ihrer eignen Zeit war den Ärzten wie allen Gelehrten des
siebzehnten Jahrhunderts ziemlich gleichgiltig. Einer der bedeutendsten Ärzte
jener Zeit, Guy Patin, kannte nicht einmal die Werke von Corneille, Boileau,
Molisre und Racine, noch weniger hatte er also eine Ahnung von der kultur¬
geschichtlichen Bedeutung dieser Männer. Ist es heutzutage anders geworden?


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

bietet so erstaunliche Gegensätze im geistigen Leben eines Volkes wie das acht¬
zehnte Jahrhundert: ruhige, kalt abwägende Verstandesthütigkeit und nervöse
Überspanntheit, stürmisches Auflodern und thränenselige Weichheit, leidenschaft-
liches Angreifer und zaghafte Resignation, hochtrabende Menschenwürde und
sittliche Verkommenheit. Lotheißen hat diese haltlosen Zustände, die notwendig
zum Sturz aller bestehenden Einrichtungen führen mußten, in seiner Abhand¬
lung „Das Königtum" vortrefflich dargestellt. Dasselbe Lob verdienen die
beiden folgenden Aufsätze „Die Prinzen von Conde" und „Im Hause der
Conde," von denen der erste auf einem Werke des Herzogs von Anmale beruht,
der zweite auf der biographischen und geschichtlichen Studie Allaires: I^g-Lru^vis
ains 1a maison ceo LonÜL. Beide geben ein deutliches Bild von Lotheißens
sichtender und bei aller Anlehnung selbständiger Arbeitsweise. Wahre Knbinet-
stücke kulturgeschichtlicher Darstellungskuust siud die drei Abhandlungen: „Aus
dem Rigel-IM des vorigen Jahrhunderts," „Ein Arzt im siebzehnten Jahr¬
hundert" und „Galeeren und Galeerensklaven." Obgleich sie dem Kultur¬
historiker wenig Neues bieten, so halten sie doch durch ihre lebendige Dar¬
stellung und gediegene Form die Aufmerksamkeit des Lesers in fortwährender
Spannung. In dem ersten Aufsatze sucht Lotheißen nachzuweisen, daß das
ganze gesellschaftliche Leben im achtzehnten Jahrhundert lediglich von den
Frauen beherrscht worden sei, daß niemals die Macht der Frauen, obwohl sie
damals zeitlebens als unmündig galten und gesetzlich fast rechtlos waren,
höher gestiegen sei, als vor dem Ausbruch der Revolution. „Es bedürfte
dazu einer entschiednen, aber bereits absterbenden Despotie, einer gebildeten,
jedoch innerlich zersetzten Gesellschaft, scharf ausgeprägter Stnndesunterschiede
bei steigender demokratischer Ausgleichung, politischer Schwäche bei regem
geistigen Leben. Es bedürfte dazu jener Schwüle, die dem Ausbruch des
Wirbelstnrmes vorausgeht und nervenschwache Menschen antreibt, sich um jeden
Preis zu zerstreuen und zu vergessen." In der folgenden Abhandlung schildert
der Verfasser sehr anschaulich den Bildungsgang, die praktische Thätigkeit und
die gesellschaftliche Stellung der französischen Ärzte im siebzehnten Jahrhundert.
Es war damals keineswegs die Hauptaufgabe dieser Herren, sich eine genaue
Kenntnis des menschlichen Körpers und der verschiednen Krankheiten zu er¬
werben, sie hatten im Gegenteil vor allein die Pflicht, sich in dem Gebrauch
der alten Sprachen zu üben und sich in der Kunst der Dialektik gründlich
auszubilden. Llyswrinnr cloimrö — ?0se<zg, ssiM^rs — Lnsuitg, xnrAars —
in diesen Vorschriften lag das ganze Geheimnis ihrer Arzneiwissenschaft. Das
litterarische Leben ihrer eignen Zeit war den Ärzten wie allen Gelehrten des
siebzehnten Jahrhunderts ziemlich gleichgiltig. Einer der bedeutendsten Ärzte
jener Zeit, Guy Patin, kannte nicht einmal die Werke von Corneille, Boileau,
Molisre und Racine, noch weniger hatte er also eine Ahnung von der kultur¬
geschichtlichen Bedeutung dieser Männer. Ist es heutzutage anders geworden?


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[0558] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte bietet so erstaunliche Gegensätze im geistigen Leben eines Volkes wie das acht¬ zehnte Jahrhundert: ruhige, kalt abwägende Verstandesthütigkeit und nervöse Überspanntheit, stürmisches Auflodern und thränenselige Weichheit, leidenschaft- liches Angreifer und zaghafte Resignation, hochtrabende Menschenwürde und sittliche Verkommenheit. Lotheißen hat diese haltlosen Zustände, die notwendig zum Sturz aller bestehenden Einrichtungen führen mußten, in seiner Abhand¬ lung „Das Königtum" vortrefflich dargestellt. Dasselbe Lob verdienen die beiden folgenden Aufsätze „Die Prinzen von Conde" und „Im Hause der Conde," von denen der erste auf einem Werke des Herzogs von Anmale beruht, der zweite auf der biographischen und geschichtlichen Studie Allaires: I^g-Lru^vis ains 1a maison ceo LonÜL. Beide geben ein deutliches Bild von Lotheißens sichtender und bei aller Anlehnung selbständiger Arbeitsweise. Wahre Knbinet- stücke kulturgeschichtlicher Darstellungskuust siud die drei Abhandlungen: „Aus dem Rigel-IM des vorigen Jahrhunderts," „Ein Arzt im siebzehnten Jahr¬ hundert" und „Galeeren und Galeerensklaven." Obgleich sie dem Kultur¬ historiker wenig Neues bieten, so halten sie doch durch ihre lebendige Dar¬ stellung und gediegene Form die Aufmerksamkeit des Lesers in fortwährender Spannung. In dem ersten Aufsatze sucht Lotheißen nachzuweisen, daß das ganze gesellschaftliche Leben im achtzehnten Jahrhundert lediglich von den Frauen beherrscht worden sei, daß niemals die Macht der Frauen, obwohl sie damals zeitlebens als unmündig galten und gesetzlich fast rechtlos waren, höher gestiegen sei, als vor dem Ausbruch der Revolution. „Es bedürfte dazu einer entschiednen, aber bereits absterbenden Despotie, einer gebildeten, jedoch innerlich zersetzten Gesellschaft, scharf ausgeprägter Stnndesunterschiede bei steigender demokratischer Ausgleichung, politischer Schwäche bei regem geistigen Leben. Es bedürfte dazu jener Schwüle, die dem Ausbruch des Wirbelstnrmes vorausgeht und nervenschwache Menschen antreibt, sich um jeden Preis zu zerstreuen und zu vergessen." In der folgenden Abhandlung schildert der Verfasser sehr anschaulich den Bildungsgang, die praktische Thätigkeit und die gesellschaftliche Stellung der französischen Ärzte im siebzehnten Jahrhundert. Es war damals keineswegs die Hauptaufgabe dieser Herren, sich eine genaue Kenntnis des menschlichen Körpers und der verschiednen Krankheiten zu er¬ werben, sie hatten im Gegenteil vor allein die Pflicht, sich in dem Gebrauch der alten Sprachen zu üben und sich in der Kunst der Dialektik gründlich auszubilden. Llyswrinnr cloimrö — ?0se<zg, ssiM^rs — Lnsuitg, xnrAars — in diesen Vorschriften lag das ganze Geheimnis ihrer Arzneiwissenschaft. Das litterarische Leben ihrer eignen Zeit war den Ärzten wie allen Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts ziemlich gleichgiltig. Einer der bedeutendsten Ärzte jener Zeit, Guy Patin, kannte nicht einmal die Werke von Corneille, Boileau, Molisre und Racine, noch weniger hatte er also eine Ahnung von der kultur¬ geschichtlichen Bedeutung dieser Männer. Ist es heutzutage anders geworden?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/558>, abgerufen am 29.06.2024.