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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

hebt hervor, daß die kartesianischc Philosophie des Maßhaltens alles Burleske
aus der klassischen Litteratur verbannt habe, und Übersicht dabei, daß diese
Veränderung die notwendige Folge einer strengen Etikette sein mußte, die sich
aus dem Hofleben in das geistige Leben übertragen hatte. Man führt die
Abwendung von der Natur und der Wirklichkeit auf die spiritualistische Macht
jener Lehre zurück und bedenkt nicht, daß diese Gleichgiltigkeit gegen das Natur¬
leben, dieser auffallende Mangel an warmem Naturgefühl, der die Litteratur
des siebzehnten Jahrhunderts charakterisirt, schon im sechzehnten Jahrhundert
bei Rabelais und Montaigne, bei Marvt und Regnier, bei Ronsard und Du
Bellay zu finden ist. Als unmittelbare Folge des Kartesianismus wird ferner
der klassischen Litteratur von französische" Kritikern eine optimistische Richtung
zugeschrieben, und doch wird man zweifeln müssen, ob die Weltanschauung eines
Racine, eines Molivre, eines La Fontaine, eines La Rochefoucauld oder La
Bruyvre mit Descartes Optimismus zu versöhnen sei.

Lotheißen scheinen diese Thatsachen nicht entgangen zu sein, denn er hebt
hervor, daß es schwer sei, zu sagen, ob Descartes mehr von seiner Zeit oder
diese mehr von dem Philosophen beeinflußt worden sei. Sehr richtig bemerkt
er an der Stelle, wo er auf die leitenden Ideen des achtzehnten Jahrhunderts
übergeht: "Wenn eine Epoche sich am Ziel der Wünsche sieht, die sic lange
gehegt und die zu erreichen sie ihre besten Kräfte eingesetzt hat, so tritt natur¬
gemäß eine Wandlung ein, und im Sinne des Volkes erheben sich neue Ideen,
die es auch neuen Zielen entgegenführen. Diese Ideen lebten schon früher,
aber nur in wenigen, und sie warteten auf ihre Zeit, um kräftig hervorzutreten
und ihrerseits nach der Herrschaft zu streben. Es sind zumeist solche, welche
im Gegensatz zu den früher giltigen Anschauungen stehen, sodaß die Epochen,
die einander folgen, oft in grellem Widerspruch erscheinen, während sie doch
nur eifrig bestrebt sind, die Gegensätze, die schon lange bestehen, in einer
höhern Einheit zu versöhnen." Zwei große Ideen beherrschen, nach Lotheißen,
das gesamte geistige Leben des achtzehnten Jahrhunderts: die Idee der Auf¬
lehnung und die Idee der Humanität, Auf die erstere sind die meisten
charakteristischen Erscheinungen jener Zeit zurückzuführen: die philosophische
Skepsis, der religiöse Zweifel, der Kampf gegen die Kirche, die politischen
Reformbestrebungen und die sozialen Umwandlungen. Die Idee der Humanität
rief das Streben nach allgemeiner Gleichberechtigung, nach Aufhebung aller
Standesunterschiede hervor, nach Unabhängigkeit der Gedanken und der Schrift¬
steller, auf ihr beruht das Wesen der sogenannten Aufklärung, das immer
mächtiger auftretende Verlangen nach Erleichterung des Volkes von seinen
drückenden Lasten, nach Beseitigung der Frvhnden, der Leibeigenschaft, der
Haftbefehle, der Tortur, der Sklaverei; aus dieser Idee entsprang auch die
Überzeugung von dem unbegrenzten Fortschritt der Menschheit, aus ihr floß
der Strom der Gefühlsseligkeit und der Naturschwärmerei. Kein Zeitalter


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

hebt hervor, daß die kartesianischc Philosophie des Maßhaltens alles Burleske
aus der klassischen Litteratur verbannt habe, und Übersicht dabei, daß diese
Veränderung die notwendige Folge einer strengen Etikette sein mußte, die sich
aus dem Hofleben in das geistige Leben übertragen hatte. Man führt die
Abwendung von der Natur und der Wirklichkeit auf die spiritualistische Macht
jener Lehre zurück und bedenkt nicht, daß diese Gleichgiltigkeit gegen das Natur¬
leben, dieser auffallende Mangel an warmem Naturgefühl, der die Litteratur
des siebzehnten Jahrhunderts charakterisirt, schon im sechzehnten Jahrhundert
bei Rabelais und Montaigne, bei Marvt und Regnier, bei Ronsard und Du
Bellay zu finden ist. Als unmittelbare Folge des Kartesianismus wird ferner
der klassischen Litteratur von französische» Kritikern eine optimistische Richtung
zugeschrieben, und doch wird man zweifeln müssen, ob die Weltanschauung eines
Racine, eines Molivre, eines La Fontaine, eines La Rochefoucauld oder La
Bruyvre mit Descartes Optimismus zu versöhnen sei.

Lotheißen scheinen diese Thatsachen nicht entgangen zu sein, denn er hebt
hervor, daß es schwer sei, zu sagen, ob Descartes mehr von seiner Zeit oder
diese mehr von dem Philosophen beeinflußt worden sei. Sehr richtig bemerkt
er an der Stelle, wo er auf die leitenden Ideen des achtzehnten Jahrhunderts
übergeht: „Wenn eine Epoche sich am Ziel der Wünsche sieht, die sic lange
gehegt und die zu erreichen sie ihre besten Kräfte eingesetzt hat, so tritt natur¬
gemäß eine Wandlung ein, und im Sinne des Volkes erheben sich neue Ideen,
die es auch neuen Zielen entgegenführen. Diese Ideen lebten schon früher,
aber nur in wenigen, und sie warteten auf ihre Zeit, um kräftig hervorzutreten
und ihrerseits nach der Herrschaft zu streben. Es sind zumeist solche, welche
im Gegensatz zu den früher giltigen Anschauungen stehen, sodaß die Epochen,
die einander folgen, oft in grellem Widerspruch erscheinen, während sie doch
nur eifrig bestrebt sind, die Gegensätze, die schon lange bestehen, in einer
höhern Einheit zu versöhnen." Zwei große Ideen beherrschen, nach Lotheißen,
das gesamte geistige Leben des achtzehnten Jahrhunderts: die Idee der Auf¬
lehnung und die Idee der Humanität, Auf die erstere sind die meisten
charakteristischen Erscheinungen jener Zeit zurückzuführen: die philosophische
Skepsis, der religiöse Zweifel, der Kampf gegen die Kirche, die politischen
Reformbestrebungen und die sozialen Umwandlungen. Die Idee der Humanität
rief das Streben nach allgemeiner Gleichberechtigung, nach Aufhebung aller
Standesunterschiede hervor, nach Unabhängigkeit der Gedanken und der Schrift¬
steller, auf ihr beruht das Wesen der sogenannten Aufklärung, das immer
mächtiger auftretende Verlangen nach Erleichterung des Volkes von seinen
drückenden Lasten, nach Beseitigung der Frvhnden, der Leibeigenschaft, der
Haftbefehle, der Tortur, der Sklaverei; aus dieser Idee entsprang auch die
Überzeugung von dem unbegrenzten Fortschritt der Menschheit, aus ihr floß
der Strom der Gefühlsseligkeit und der Naturschwärmerei. Kein Zeitalter


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[0557] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte hebt hervor, daß die kartesianischc Philosophie des Maßhaltens alles Burleske aus der klassischen Litteratur verbannt habe, und Übersicht dabei, daß diese Veränderung die notwendige Folge einer strengen Etikette sein mußte, die sich aus dem Hofleben in das geistige Leben übertragen hatte. Man führt die Abwendung von der Natur und der Wirklichkeit auf die spiritualistische Macht jener Lehre zurück und bedenkt nicht, daß diese Gleichgiltigkeit gegen das Natur¬ leben, dieser auffallende Mangel an warmem Naturgefühl, der die Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts charakterisirt, schon im sechzehnten Jahrhundert bei Rabelais und Montaigne, bei Marvt und Regnier, bei Ronsard und Du Bellay zu finden ist. Als unmittelbare Folge des Kartesianismus wird ferner der klassischen Litteratur von französische» Kritikern eine optimistische Richtung zugeschrieben, und doch wird man zweifeln müssen, ob die Weltanschauung eines Racine, eines Molivre, eines La Fontaine, eines La Rochefoucauld oder La Bruyvre mit Descartes Optimismus zu versöhnen sei. Lotheißen scheinen diese Thatsachen nicht entgangen zu sein, denn er hebt hervor, daß es schwer sei, zu sagen, ob Descartes mehr von seiner Zeit oder diese mehr von dem Philosophen beeinflußt worden sei. Sehr richtig bemerkt er an der Stelle, wo er auf die leitenden Ideen des achtzehnten Jahrhunderts übergeht: „Wenn eine Epoche sich am Ziel der Wünsche sieht, die sic lange gehegt und die zu erreichen sie ihre besten Kräfte eingesetzt hat, so tritt natur¬ gemäß eine Wandlung ein, und im Sinne des Volkes erheben sich neue Ideen, die es auch neuen Zielen entgegenführen. Diese Ideen lebten schon früher, aber nur in wenigen, und sie warteten auf ihre Zeit, um kräftig hervorzutreten und ihrerseits nach der Herrschaft zu streben. Es sind zumeist solche, welche im Gegensatz zu den früher giltigen Anschauungen stehen, sodaß die Epochen, die einander folgen, oft in grellem Widerspruch erscheinen, während sie doch nur eifrig bestrebt sind, die Gegensätze, die schon lange bestehen, in einer höhern Einheit zu versöhnen." Zwei große Ideen beherrschen, nach Lotheißen, das gesamte geistige Leben des achtzehnten Jahrhunderts: die Idee der Auf¬ lehnung und die Idee der Humanität, Auf die erstere sind die meisten charakteristischen Erscheinungen jener Zeit zurückzuführen: die philosophische Skepsis, der religiöse Zweifel, der Kampf gegen die Kirche, die politischen Reformbestrebungen und die sozialen Umwandlungen. Die Idee der Humanität rief das Streben nach allgemeiner Gleichberechtigung, nach Aufhebung aller Standesunterschiede hervor, nach Unabhängigkeit der Gedanken und der Schrift¬ steller, auf ihr beruht das Wesen der sogenannten Aufklärung, das immer mächtiger auftretende Verlangen nach Erleichterung des Volkes von seinen drückenden Lasten, nach Beseitigung der Frvhnden, der Leibeigenschaft, der Haftbefehle, der Tortur, der Sklaverei; aus dieser Idee entsprang auch die Überzeugung von dem unbegrenzten Fortschritt der Menschheit, aus ihr floß der Strom der Gefühlsseligkeit und der Naturschwärmerei. Kein Zeitalter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/557>, abgerufen am 29.06.2024.