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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

zeichnet, da in ihr die Kenne aller heutigen Entwicklungen und Bestrebungen
liegen und das Leben der europäischen Völker während der letzten zwei Jahr¬
hunderte nur verstündlich wird, wenn man die Kulturbeweguugen in Frankreich
während dieses Zeitraumes kennt. Von welchen Grundsätzen sich der Verfasser
bei seinen Arbeiten leiten läßt, das spricht er mit den Worten aus: "Ani die
Menschen vergangener Jahrhunderte richtig zu beurteilen, muß man sich in
die allgemeine Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit versetzen, und ihren
Wert darnach bemessen, wobei es uns dann noch immer freisteht, jene An¬
schauung selbst zu prüfen und sie von unserm Standpunkte aus zu billigen
oder zu verwerfen. Wir brauchen deshalb die frühere Zeit mit ihren Ein¬
richtungen nicht zurückzuwüuschen, da wir den Fortschritt der Menschheit in
mancher Hinsicht unbestreitbar glauben, aber wir werden uns doch hüten,
pharisäisch stolz über die gesamte Vergangenheit abzuurteilen. Eine Epoche
kann in vielen Punkten gefehlt haben und entbehrt darum doch weder der Große
noch der Bedeutung."

So findet Lotheißen als die maßgebenden Ideen des siebzehnten Jahr¬
hunderts vier große Strömungen, die das gesamte geistige und sittliche Leben
der Zeit beherrschten: die Überwindung der religiösen Idee dnrch den allgemeinen
Staatsgedanken, womit das Aufsteigen der königlichen Macht zur Unumschrünkt-
heit eng verbunden war, ferner, in gesellschaftlicher Beziehung, die Vorliebe
des Volkes für Ordnung und systematische Gestaltung auf allen Gebieten des
Lebens, in geistiger Beziehung den bestimmenden Einfluß der kartesianischen
Philosophie und endlich in politischer das Streben Frankreichs nach der Vor¬
herrschaft in Europa. Durch diese Gruudströmungeu entstand für Frankreich
eine Zeit geistiger Befriedigung, wie sie weder vorher noch nachher je zu Tage
trat. Lotheißen vergleicht Descartes mit Voltaire und schreibt ihm eine ähn¬
liche Bedeutung für das Zeitalter Ludwigs XIV. zu, wie sie Voltaire für
das folgende gewann. Er überschätzt dabei nach unsrer Ansicht den Einfluß
Descartes auf die litterarische Entwicklung. Zwar auch französische Kritiker
pflegen in der kartesianischen Philosophie die hauptsächlichste Ursache für das
Aufblühen der klassischen Litteratur zu erkennen. Emile Krantz behauptet sogar
in seinem üsss-i sur 1'L8tllötiauiz av DosoartöL (Paris, 1882), daß sie ohne
den Kartesiauismus überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Man schreibt den
Sieg der drei Einheiten auf der französischen Bühne dem Einfluß jener Philo¬
sophie zu, aber man vergißt dabei, daß jenes Dogma schon vor Descartes
Wirksamkeit entstanden war, und daß seine allgemeine Anerkennung von dein
großen Erfolge der Sophonisbe von Mairet im Jahre 1629 herrührte. Man
betont Descartes Einwirkung auf die führenden Geister deS siebzehnten Jahr¬
hunderts und kaun sie doch höchstens nachweisen bei Boileau, bei Racine, bei
Madame de La Fahette, während sich Corneille, Molwrc, Pascal, Bossuet,
La Fontaine u. s. w. kaum von Descartes haben beeinflussen lassen. Mau


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

zeichnet, da in ihr die Kenne aller heutigen Entwicklungen und Bestrebungen
liegen und das Leben der europäischen Völker während der letzten zwei Jahr¬
hunderte nur verstündlich wird, wenn man die Kulturbeweguugen in Frankreich
während dieses Zeitraumes kennt. Von welchen Grundsätzen sich der Verfasser
bei seinen Arbeiten leiten läßt, das spricht er mit den Worten aus: „Ani die
Menschen vergangener Jahrhunderte richtig zu beurteilen, muß man sich in
die allgemeine Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit versetzen, und ihren
Wert darnach bemessen, wobei es uns dann noch immer freisteht, jene An¬
schauung selbst zu prüfen und sie von unserm Standpunkte aus zu billigen
oder zu verwerfen. Wir brauchen deshalb die frühere Zeit mit ihren Ein¬
richtungen nicht zurückzuwüuschen, da wir den Fortschritt der Menschheit in
mancher Hinsicht unbestreitbar glauben, aber wir werden uns doch hüten,
pharisäisch stolz über die gesamte Vergangenheit abzuurteilen. Eine Epoche
kann in vielen Punkten gefehlt haben und entbehrt darum doch weder der Große
noch der Bedeutung."

So findet Lotheißen als die maßgebenden Ideen des siebzehnten Jahr¬
hunderts vier große Strömungen, die das gesamte geistige und sittliche Leben
der Zeit beherrschten: die Überwindung der religiösen Idee dnrch den allgemeinen
Staatsgedanken, womit das Aufsteigen der königlichen Macht zur Unumschrünkt-
heit eng verbunden war, ferner, in gesellschaftlicher Beziehung, die Vorliebe
des Volkes für Ordnung und systematische Gestaltung auf allen Gebieten des
Lebens, in geistiger Beziehung den bestimmenden Einfluß der kartesianischen
Philosophie und endlich in politischer das Streben Frankreichs nach der Vor¬
herrschaft in Europa. Durch diese Gruudströmungeu entstand für Frankreich
eine Zeit geistiger Befriedigung, wie sie weder vorher noch nachher je zu Tage
trat. Lotheißen vergleicht Descartes mit Voltaire und schreibt ihm eine ähn¬
liche Bedeutung für das Zeitalter Ludwigs XIV. zu, wie sie Voltaire für
das folgende gewann. Er überschätzt dabei nach unsrer Ansicht den Einfluß
Descartes auf die litterarische Entwicklung. Zwar auch französische Kritiker
pflegen in der kartesianischen Philosophie die hauptsächlichste Ursache für das
Aufblühen der klassischen Litteratur zu erkennen. Emile Krantz behauptet sogar
in seinem üsss-i sur 1'L8tllötiauiz av DosoartöL (Paris, 1882), daß sie ohne
den Kartesiauismus überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Man schreibt den
Sieg der drei Einheiten auf der französischen Bühne dem Einfluß jener Philo¬
sophie zu, aber man vergißt dabei, daß jenes Dogma schon vor Descartes
Wirksamkeit entstanden war, und daß seine allgemeine Anerkennung von dein
großen Erfolge der Sophonisbe von Mairet im Jahre 1629 herrührte. Man
betont Descartes Einwirkung auf die führenden Geister deS siebzehnten Jahr¬
hunderts und kaun sie doch höchstens nachweisen bei Boileau, bei Racine, bei
Madame de La Fahette, während sich Corneille, Molwrc, Pascal, Bossuet,
La Fontaine u. s. w. kaum von Descartes haben beeinflussen lassen. Mau


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[0556] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte zeichnet, da in ihr die Kenne aller heutigen Entwicklungen und Bestrebungen liegen und das Leben der europäischen Völker während der letzten zwei Jahr¬ hunderte nur verstündlich wird, wenn man die Kulturbeweguugen in Frankreich während dieses Zeitraumes kennt. Von welchen Grundsätzen sich der Verfasser bei seinen Arbeiten leiten läßt, das spricht er mit den Worten aus: „Ani die Menschen vergangener Jahrhunderte richtig zu beurteilen, muß man sich in die allgemeine Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit versetzen, und ihren Wert darnach bemessen, wobei es uns dann noch immer freisteht, jene An¬ schauung selbst zu prüfen und sie von unserm Standpunkte aus zu billigen oder zu verwerfen. Wir brauchen deshalb die frühere Zeit mit ihren Ein¬ richtungen nicht zurückzuwüuschen, da wir den Fortschritt der Menschheit in mancher Hinsicht unbestreitbar glauben, aber wir werden uns doch hüten, pharisäisch stolz über die gesamte Vergangenheit abzuurteilen. Eine Epoche kann in vielen Punkten gefehlt haben und entbehrt darum doch weder der Große noch der Bedeutung." So findet Lotheißen als die maßgebenden Ideen des siebzehnten Jahr¬ hunderts vier große Strömungen, die das gesamte geistige und sittliche Leben der Zeit beherrschten: die Überwindung der religiösen Idee dnrch den allgemeinen Staatsgedanken, womit das Aufsteigen der königlichen Macht zur Unumschrünkt- heit eng verbunden war, ferner, in gesellschaftlicher Beziehung, die Vorliebe des Volkes für Ordnung und systematische Gestaltung auf allen Gebieten des Lebens, in geistiger Beziehung den bestimmenden Einfluß der kartesianischen Philosophie und endlich in politischer das Streben Frankreichs nach der Vor¬ herrschaft in Europa. Durch diese Gruudströmungeu entstand für Frankreich eine Zeit geistiger Befriedigung, wie sie weder vorher noch nachher je zu Tage trat. Lotheißen vergleicht Descartes mit Voltaire und schreibt ihm eine ähn¬ liche Bedeutung für das Zeitalter Ludwigs XIV. zu, wie sie Voltaire für das folgende gewann. Er überschätzt dabei nach unsrer Ansicht den Einfluß Descartes auf die litterarische Entwicklung. Zwar auch französische Kritiker pflegen in der kartesianischen Philosophie die hauptsächlichste Ursache für das Aufblühen der klassischen Litteratur zu erkennen. Emile Krantz behauptet sogar in seinem üsss-i sur 1'L8tllötiauiz av DosoartöL (Paris, 1882), daß sie ohne den Kartesiauismus überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Man schreibt den Sieg der drei Einheiten auf der französischen Bühne dem Einfluß jener Philo¬ sophie zu, aber man vergißt dabei, daß jenes Dogma schon vor Descartes Wirksamkeit entstanden war, und daß seine allgemeine Anerkennung von dein großen Erfolge der Sophonisbe von Mairet im Jahre 1629 herrührte. Man betont Descartes Einwirkung auf die führenden Geister deS siebzehnten Jahr¬ hunderts und kaun sie doch höchstens nachweisen bei Boileau, bei Racine, bei Madame de La Fahette, während sich Corneille, Molwrc, Pascal, Bossuet, La Fontaine u. s. w. kaum von Descartes haben beeinflussen lassen. Mau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/556>, abgerufen am 29.06.2024.