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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

flüssig und wirken verwirrend. Die wahren Quellen von !.!>, ^rinosssv <w
<Äövs, sagt Brünettere, liegen in den Romanen eines La Calprenöde und einer
Scudvry. Die Kulturverhältnisse haben darauf keinen Einfluß gehabt; die
wahren Gründe für die Komödien eines Moliöre liegen in den Lustspielen eines
Scarron, die wahren Ursachen für die Tragödien eines Racine in der Tra¬
gödie eines Corneille.

Es ist richtig, die Blütezeiten, Revolutionen und Niedergange in der
Litteratur treffen nicht immer mit den wirtschaftlichen oder politischen zu¬
sammen; wo es aber geschieht, da kann der Literarhistoriker keine fruchtbarere
Quelle für seine Untersuchungen finden als die Kulturgeschichte. Lotheißens
Grundsatz, daß man die Litteratur ohne Kenntnis der jeweiligen Kultur nicht
zu verstehen vermöge, kann daher für alle Perioden in vollem Umfange nicht
aufrecht erhalten werden. Für das siebzehnte Jahrhundert paßte er allerdings
vortrefflich, denn in keiner Zeit ist die Litteratur -- um mit Hamlet zu
sprechen -- so deutlich der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters
gewesen, mit der Einschränkung freilich, daß wir in ihr nicht den treuen Spiegel
der Volkskultur und die schlichte Chronik der bürgerlichen Gesellschaft finden,
sondern das pathetisch klingende Echo des Hoflebens und den blendenden Ab¬
glanz des unumschränkten Königtums. KWÄiW Is. oour se oormWssn 1 g, villk!
war die seltsame Anforderung, die Boileau, der Geueralkontrolleur des Parnaß,
wie ihn Ludwig XIV. nannte, an jeden Nationaldichter stellte. Lotheißen hat
diese Verhältnisse Wohl erkannt und seine kulturgeschichtlichen Vorstudien haupt¬
sächlich auf jene Kreise gerichtet, in denen er die Quellen des litterarischen
Lebens sah, und dadurch eine staunenswerte Fülle neuer Erkenntnisse zu Tage
gefördert, die Werke der großen Dichter und Denker in eine neue Beleuchtung
gerückt, den charakteristischen Grundzug des Jahrhunderts durchschaut, und
den einheitlichen Gedanken der festen Ordnung, der gleichmüßigen Regelung,
der formalen Schönheit und der Harmonie in Staat und Kirche, in Gesell¬
schaft und Kunst aus deu verwirrenden Strömungen herausgehoben. Mit
welcher Gründlichkeit Lotheißen diese kulturgeschichtlichen Vorstudien anzu¬
stellen pflegte, mit welcher Klarheit und Gewandtheit er die leitenden Ideen
zu erfassen und darzustellen wußte, davon giebt das ans seinem Nachlaß von
Anton Bettelheim herausgegebene Buch: Zur Kulturgeschichte Frank¬
reichs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Wien, Karl Gerolds
Sohn, 1889) einen erneuten Beweis.

Der Herausgeber hat eine mit Wärme geschriebene biographische Einlei¬
tung der Sammlung vorangestellt, und darin den Charakter, die wissenschaft¬
liche Methode und die Bedeutung Lotheißens in großen Zügen darzustellen
versucht. Die gesammelten Aufsätze beziehen sich auf das siebzehnte und das
achtzehnte Jahrhundert, vom Ausgange der Religionskriege bis zur Revolution,
eine Zeit, die Lvtheißen als die französische Periode der Weltgeschichte be-


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

flüssig und wirken verwirrend. Die wahren Quellen von !.!>, ^rinosssv <w
<Äövs, sagt Brünettere, liegen in den Romanen eines La Calprenöde und einer
Scudvry. Die Kulturverhältnisse haben darauf keinen Einfluß gehabt; die
wahren Gründe für die Komödien eines Moliöre liegen in den Lustspielen eines
Scarron, die wahren Ursachen für die Tragödien eines Racine in der Tra¬
gödie eines Corneille.

Es ist richtig, die Blütezeiten, Revolutionen und Niedergange in der
Litteratur treffen nicht immer mit den wirtschaftlichen oder politischen zu¬
sammen; wo es aber geschieht, da kann der Literarhistoriker keine fruchtbarere
Quelle für seine Untersuchungen finden als die Kulturgeschichte. Lotheißens
Grundsatz, daß man die Litteratur ohne Kenntnis der jeweiligen Kultur nicht
zu verstehen vermöge, kann daher für alle Perioden in vollem Umfange nicht
aufrecht erhalten werden. Für das siebzehnte Jahrhundert paßte er allerdings
vortrefflich, denn in keiner Zeit ist die Litteratur — um mit Hamlet zu
sprechen — so deutlich der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters
gewesen, mit der Einschränkung freilich, daß wir in ihr nicht den treuen Spiegel
der Volkskultur und die schlichte Chronik der bürgerlichen Gesellschaft finden,
sondern das pathetisch klingende Echo des Hoflebens und den blendenden Ab¬
glanz des unumschränkten Königtums. KWÄiW Is. oour se oormWssn 1 g, villk!
war die seltsame Anforderung, die Boileau, der Geueralkontrolleur des Parnaß,
wie ihn Ludwig XIV. nannte, an jeden Nationaldichter stellte. Lotheißen hat
diese Verhältnisse Wohl erkannt und seine kulturgeschichtlichen Vorstudien haupt¬
sächlich auf jene Kreise gerichtet, in denen er die Quellen des litterarischen
Lebens sah, und dadurch eine staunenswerte Fülle neuer Erkenntnisse zu Tage
gefördert, die Werke der großen Dichter und Denker in eine neue Beleuchtung
gerückt, den charakteristischen Grundzug des Jahrhunderts durchschaut, und
den einheitlichen Gedanken der festen Ordnung, der gleichmüßigen Regelung,
der formalen Schönheit und der Harmonie in Staat und Kirche, in Gesell¬
schaft und Kunst aus deu verwirrenden Strömungen herausgehoben. Mit
welcher Gründlichkeit Lotheißen diese kulturgeschichtlichen Vorstudien anzu¬
stellen pflegte, mit welcher Klarheit und Gewandtheit er die leitenden Ideen
zu erfassen und darzustellen wußte, davon giebt das ans seinem Nachlaß von
Anton Bettelheim herausgegebene Buch: Zur Kulturgeschichte Frank¬
reichs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Wien, Karl Gerolds
Sohn, 1889) einen erneuten Beweis.

Der Herausgeber hat eine mit Wärme geschriebene biographische Einlei¬
tung der Sammlung vorangestellt, und darin den Charakter, die wissenschaft¬
liche Methode und die Bedeutung Lotheißens in großen Zügen darzustellen
versucht. Die gesammelten Aufsätze beziehen sich auf das siebzehnte und das
achtzehnte Jahrhundert, vom Ausgange der Religionskriege bis zur Revolution,
eine Zeit, die Lvtheißen als die französische Periode der Weltgeschichte be-


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[0555] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte flüssig und wirken verwirrend. Die wahren Quellen von !.!>, ^rinosssv <w <Äövs, sagt Brünettere, liegen in den Romanen eines La Calprenöde und einer Scudvry. Die Kulturverhältnisse haben darauf keinen Einfluß gehabt; die wahren Gründe für die Komödien eines Moliöre liegen in den Lustspielen eines Scarron, die wahren Ursachen für die Tragödien eines Racine in der Tra¬ gödie eines Corneille. Es ist richtig, die Blütezeiten, Revolutionen und Niedergange in der Litteratur treffen nicht immer mit den wirtschaftlichen oder politischen zu¬ sammen; wo es aber geschieht, da kann der Literarhistoriker keine fruchtbarere Quelle für seine Untersuchungen finden als die Kulturgeschichte. Lotheißens Grundsatz, daß man die Litteratur ohne Kenntnis der jeweiligen Kultur nicht zu verstehen vermöge, kann daher für alle Perioden in vollem Umfange nicht aufrecht erhalten werden. Für das siebzehnte Jahrhundert paßte er allerdings vortrefflich, denn in keiner Zeit ist die Litteratur — um mit Hamlet zu sprechen — so deutlich der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters gewesen, mit der Einschränkung freilich, daß wir in ihr nicht den treuen Spiegel der Volkskultur und die schlichte Chronik der bürgerlichen Gesellschaft finden, sondern das pathetisch klingende Echo des Hoflebens und den blendenden Ab¬ glanz des unumschränkten Königtums. KWÄiW Is. oour se oormWssn 1 g, villk! war die seltsame Anforderung, die Boileau, der Geueralkontrolleur des Parnaß, wie ihn Ludwig XIV. nannte, an jeden Nationaldichter stellte. Lotheißen hat diese Verhältnisse Wohl erkannt und seine kulturgeschichtlichen Vorstudien haupt¬ sächlich auf jene Kreise gerichtet, in denen er die Quellen des litterarischen Lebens sah, und dadurch eine staunenswerte Fülle neuer Erkenntnisse zu Tage gefördert, die Werke der großen Dichter und Denker in eine neue Beleuchtung gerückt, den charakteristischen Grundzug des Jahrhunderts durchschaut, und den einheitlichen Gedanken der festen Ordnung, der gleichmüßigen Regelung, der formalen Schönheit und der Harmonie in Staat und Kirche, in Gesell¬ schaft und Kunst aus deu verwirrenden Strömungen herausgehoben. Mit welcher Gründlichkeit Lotheißen diese kulturgeschichtlichen Vorstudien anzu¬ stellen pflegte, mit welcher Klarheit und Gewandtheit er die leitenden Ideen zu erfassen und darzustellen wußte, davon giebt das ans seinem Nachlaß von Anton Bettelheim herausgegebene Buch: Zur Kulturgeschichte Frank¬ reichs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Wien, Karl Gerolds Sohn, 1889) einen erneuten Beweis. Der Herausgeber hat eine mit Wärme geschriebene biographische Einlei¬ tung der Sammlung vorangestellt, und darin den Charakter, die wissenschaft¬ liche Methode und die Bedeutung Lotheißens in großen Zügen darzustellen versucht. Die gesammelten Aufsätze beziehen sich auf das siebzehnte und das achtzehnte Jahrhundert, vom Ausgange der Religionskriege bis zur Revolution, eine Zeit, die Lvtheißen als die französische Periode der Weltgeschichte be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/555>, abgerufen am 28.09.2024.