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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

mit dem Satze geliefert: "Wer die Alten und unser großes Jahrhundert kennt,
der hat in geistiger Beziehung sein Ideal, seine Regel und, wenn er Professor
ist, seine Autorität gefunden: oliM^ör o'68t as^kinzi'ör." In Frankreich haben
alle auf Böllern zurückgehenden Kritiker von La Harpe bis Brunetivre diesen
ästhetischen Standpunkt behauptet. In Deutschland ist diese Methode ins¬
besondre unter dem Einfluß der Hegelschen Philosophie lange Zeit die
herrschende gewesen, und erst Gervinus und Hettner haben eine tiefer gehende
Betrachtungsweise eingeführt, indem sie die politischen und kulturgeschichtlichen
Voraussetzungen für das geistige Leben eines bestimmten Zeitabschnittes zu
ergründen suchten, über dem Kunstwerke nicht den Künstler vergaßen, den
Werdegang des Genies bis in die geheimsten Triebfedern verfolgten und die
litterarischen Strömungen nicht nach dem alten klassischen Fahrwasser beur¬
teilten, priesen oder verdammten, sondern in deren Eigentümlichkeiten die not¬
wendige Folge einer beständig wechselnden Kunst- und Lebensauffassung erkannten.
Noch entschiedner als Gervinus und Hettner hat Ferdinand Lotheißen
das Abhängigkeitsverhältnis und die beständige Wechselwirkung zwischen den
litterarischen Schöpfungen und dem gesellschaftlichen Leben einer Zeit hervor¬
gehoben und dargestellt. In seiner vortrefflichen Geschichte der französischen
Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts spricht er den Grundsatz seiner Me¬
thode mit den Worten aus: "Eine wahrhafte Geschichte der Litteratur halten
wir immer nur in Verbindung mit der Kulturgeschichte für möglich." Lvtheißen
erkennt auf diesem Gebiete eine "zvolution co äsclans nicht an, und hält die Be¬
hauptung für einen Irrtum, daß die Geschichte einer Litteratur zuerst und in sich
allein das genügende Prinzip seines Wachstums und seiner Ausgestaltung
enthalte, daß man ihre Entwicklung auch ohne Hilfe der Kulturverhältnisfe
verstehen und erklären könne. Die Evolutionisten sind der Ansicht, daß ein
einziges mit Beifall aufgenommenes Werk einen mächtigern Einfluß auf alle
Schöpfungen derselben Gattung ausübe, als sämtliche Einwirkungen der Nasse,
des Augenblicks und des Milieu, als alle Wandlungen der gesellschaftlichen
und der politischen Zustünde. Um z. B. die naturalistische Richtung der Gegen¬
wart zu erklären, brauchen sie keine andern Thatsachen, als die Verirrungen und
Auswüchse der Romantik, um das Wesen der Romantik zu enthüllen keine andern
Mittel, als das Eindringen der fremdländischen Litteraturen; um die litterarischen
Schöpfungen des siebzehnten Jahrhunderts zu verstehen, genügt ihnen die sichere
Kenntnis von dem litterarischen Charakter des sechzehnten Jahrhunderts. liisn
us eoinmsnLs, unis keine trimstorinv. Überall herrschen in der Kunst und in
der Litteratur nur zwei schöpferische Prinzipien: das der Nachahmung und das
des Gegensatzes. Auf den Geist wirkt nur der Geist; die stärkste Anregung
und tiefste Beeinflussung, die je ein Künstler erfahren hat, ist immer nur von
der Kunst und ihren Werken selbst verursacht worden. Alle gesellschaftlichen
und politischen Erörterungen find, nach Ansicht dieser Literarhistoriker, über-


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

mit dem Satze geliefert: „Wer die Alten und unser großes Jahrhundert kennt,
der hat in geistiger Beziehung sein Ideal, seine Regel und, wenn er Professor
ist, seine Autorität gefunden: oliM^ör o'68t as^kinzi'ör." In Frankreich haben
alle auf Böllern zurückgehenden Kritiker von La Harpe bis Brunetivre diesen
ästhetischen Standpunkt behauptet. In Deutschland ist diese Methode ins¬
besondre unter dem Einfluß der Hegelschen Philosophie lange Zeit die
herrschende gewesen, und erst Gervinus und Hettner haben eine tiefer gehende
Betrachtungsweise eingeführt, indem sie die politischen und kulturgeschichtlichen
Voraussetzungen für das geistige Leben eines bestimmten Zeitabschnittes zu
ergründen suchten, über dem Kunstwerke nicht den Künstler vergaßen, den
Werdegang des Genies bis in die geheimsten Triebfedern verfolgten und die
litterarischen Strömungen nicht nach dem alten klassischen Fahrwasser beur¬
teilten, priesen oder verdammten, sondern in deren Eigentümlichkeiten die not¬
wendige Folge einer beständig wechselnden Kunst- und Lebensauffassung erkannten.
Noch entschiedner als Gervinus und Hettner hat Ferdinand Lotheißen
das Abhängigkeitsverhältnis und die beständige Wechselwirkung zwischen den
litterarischen Schöpfungen und dem gesellschaftlichen Leben einer Zeit hervor¬
gehoben und dargestellt. In seiner vortrefflichen Geschichte der französischen
Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts spricht er den Grundsatz seiner Me¬
thode mit den Worten aus: „Eine wahrhafte Geschichte der Litteratur halten
wir immer nur in Verbindung mit der Kulturgeschichte für möglich." Lvtheißen
erkennt auf diesem Gebiete eine «zvolution co äsclans nicht an, und hält die Be¬
hauptung für einen Irrtum, daß die Geschichte einer Litteratur zuerst und in sich
allein das genügende Prinzip seines Wachstums und seiner Ausgestaltung
enthalte, daß man ihre Entwicklung auch ohne Hilfe der Kulturverhältnisfe
verstehen und erklären könne. Die Evolutionisten sind der Ansicht, daß ein
einziges mit Beifall aufgenommenes Werk einen mächtigern Einfluß auf alle
Schöpfungen derselben Gattung ausübe, als sämtliche Einwirkungen der Nasse,
des Augenblicks und des Milieu, als alle Wandlungen der gesellschaftlichen
und der politischen Zustünde. Um z. B. die naturalistische Richtung der Gegen¬
wart zu erklären, brauchen sie keine andern Thatsachen, als die Verirrungen und
Auswüchse der Romantik, um das Wesen der Romantik zu enthüllen keine andern
Mittel, als das Eindringen der fremdländischen Litteraturen; um die litterarischen
Schöpfungen des siebzehnten Jahrhunderts zu verstehen, genügt ihnen die sichere
Kenntnis von dem litterarischen Charakter des sechzehnten Jahrhunderts. liisn
us eoinmsnLs, unis keine trimstorinv. Überall herrschen in der Kunst und in
der Litteratur nur zwei schöpferische Prinzipien: das der Nachahmung und das
des Gegensatzes. Auf den Geist wirkt nur der Geist; die stärkste Anregung
und tiefste Beeinflussung, die je ein Künstler erfahren hat, ist immer nur von
der Kunst und ihren Werken selbst verursacht worden. Alle gesellschaftlichen
und politischen Erörterungen find, nach Ansicht dieser Literarhistoriker, über-


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[0554] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte mit dem Satze geliefert: „Wer die Alten und unser großes Jahrhundert kennt, der hat in geistiger Beziehung sein Ideal, seine Regel und, wenn er Professor ist, seine Autorität gefunden: oliM^ör o'68t as^kinzi'ör." In Frankreich haben alle auf Böllern zurückgehenden Kritiker von La Harpe bis Brunetivre diesen ästhetischen Standpunkt behauptet. In Deutschland ist diese Methode ins¬ besondre unter dem Einfluß der Hegelschen Philosophie lange Zeit die herrschende gewesen, und erst Gervinus und Hettner haben eine tiefer gehende Betrachtungsweise eingeführt, indem sie die politischen und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen für das geistige Leben eines bestimmten Zeitabschnittes zu ergründen suchten, über dem Kunstwerke nicht den Künstler vergaßen, den Werdegang des Genies bis in die geheimsten Triebfedern verfolgten und die litterarischen Strömungen nicht nach dem alten klassischen Fahrwasser beur¬ teilten, priesen oder verdammten, sondern in deren Eigentümlichkeiten die not¬ wendige Folge einer beständig wechselnden Kunst- und Lebensauffassung erkannten. Noch entschiedner als Gervinus und Hettner hat Ferdinand Lotheißen das Abhängigkeitsverhältnis und die beständige Wechselwirkung zwischen den litterarischen Schöpfungen und dem gesellschaftlichen Leben einer Zeit hervor¬ gehoben und dargestellt. In seiner vortrefflichen Geschichte der französischen Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts spricht er den Grundsatz seiner Me¬ thode mit den Worten aus: „Eine wahrhafte Geschichte der Litteratur halten wir immer nur in Verbindung mit der Kulturgeschichte für möglich." Lvtheißen erkennt auf diesem Gebiete eine «zvolution co äsclans nicht an, und hält die Be¬ hauptung für einen Irrtum, daß die Geschichte einer Litteratur zuerst und in sich allein das genügende Prinzip seines Wachstums und seiner Ausgestaltung enthalte, daß man ihre Entwicklung auch ohne Hilfe der Kulturverhältnisfe verstehen und erklären könne. Die Evolutionisten sind der Ansicht, daß ein einziges mit Beifall aufgenommenes Werk einen mächtigern Einfluß auf alle Schöpfungen derselben Gattung ausübe, als sämtliche Einwirkungen der Nasse, des Augenblicks und des Milieu, als alle Wandlungen der gesellschaftlichen und der politischen Zustünde. Um z. B. die naturalistische Richtung der Gegen¬ wart zu erklären, brauchen sie keine andern Thatsachen, als die Verirrungen und Auswüchse der Romantik, um das Wesen der Romantik zu enthüllen keine andern Mittel, als das Eindringen der fremdländischen Litteraturen; um die litterarischen Schöpfungen des siebzehnten Jahrhunderts zu verstehen, genügt ihnen die sichere Kenntnis von dem litterarischen Charakter des sechzehnten Jahrhunderts. liisn us eoinmsnLs, unis keine trimstorinv. Überall herrschen in der Kunst und in der Litteratur nur zwei schöpferische Prinzipien: das der Nachahmung und das des Gegensatzes. Auf den Geist wirkt nur der Geist; die stärkste Anregung und tiefste Beeinflussung, die je ein Künstler erfahren hat, ist immer nur von der Kunst und ihren Werken selbst verursacht worden. Alle gesellschaftlichen und politischen Erörterungen find, nach Ansicht dieser Literarhistoriker, über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/554>, abgerufen am 29.06.2024.