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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

wertvoller als ein Lotze, ein Fritz Reuter interessanter als ein Graf von Schack.
Der bekannte französische Kritiker Melchior Grimm hat nicht Unrecht, wenn er
sagt: (ü'sse bvtmsoux, as sonimltrs ins lois, Is8 vouwmss, >S8 rsIiAions, i"g,is
on in^e disn rnisux as 1a wMims as xsu8ör se as hört-ir xg-r 1'ssprit an
tiivÄtrs. pur is Fort as" romM", x^r 1o ton as" Loeistss, xa.r los pfeils vovtss
ot x-u- Iss !>on" mots. In den verschollenen Erzeugnissen der Litteratur liegt
also das eigentliche Arbeitsfeld des Kulturhistorikers; er darf sich bei seinen
Untersuchungen nicht von ästhetischen Gesichtspunkten leiten lassen, denn den
bleibenden Schönheitsgehalt eines Werkes festzustellen ist nicht seine Sache, er
hat lediglich auf die geschichtliche Stellung und Bedeutung eines litterarischen
Werkes sein Augenmerk zu richten. Behält der Kulturhistoriker diesen Stand¬
punkt, so kann die Litteraturgeschichte eine seiner dankbarsten Hilfswissenschaften
werden.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis umgekehrt, d. h. in welchem Maße
ist der Literarhistoriker von der Kulturgeschichte abhängig, unter welchen Um¬
ständen bietet ihm diese eine zuverlässige Quelle für seine Forschungen? Die
Litteraturgeschichte ist als Wissenschaft ein Kind unsers Jahrhunderts; sie weist
einen ähnlichen Entwicklungsgang auf wie ihre Schwester, die Kunstgeschichte.
Beide haben sich verhältnismüßig spät aus dem bloßen Dilettantismus zu
wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sicherheit emporgearbeitet. "Mau benutzte
-- sagt der bekannte Kunstkritiker Lermolieff -- zuerst die Kunstwerke in der
Wissenschaft als Illustration für jeweilige ästhetische Theorien, dann als unter¬
haltendes Bilderbuch der Kulturgeschichte, schließlich zur Kunstwissenschaft als
exakten Wissenschaft." Eine ähnliche Entwicklung finden wir in der Auffassung
der Litteraturgeschichte. Die dogmatisch-ästhetische oder die rein moralisirende
Betrachtungsweise ging in unserm Jahrhundert zur kulturgeschichtlichen über,
gegenwärtig hat sie in Deutschland überwiegend eine philologische Richtung,
in Frankreich eine positivistische und psychologische eingeschlagen. Die erste
Methode beruht auf dem philosophischen Dogma von der Identität der Geister,
der Genies, der Talente. Die doktrinären Ästhetiker beurteilen daher die
Schöpfungen des menschlichen Geistes einer beliebigen Nation oder Zeit nach
den ausgeklügelten Regeln eines als richtig und unabänderlich anerkannten oder
überkommenen Geschmackes; sie bezeichnen jedes Werk, das außerhalb der mathe¬
matisch bestimmten Formen, außerhalb der als philosophische Wahrheiten an¬
genommenen Kunstbcgriffe liegt, als wertlos. Das litterarische Werk wird
losgetrennt von allen Voraussetzungen seines Ursprungs, von der Individua¬
lität des Dichters, von dem Charakter der Nation und der Zeit, und schwebt
vor deu Augen des doktrinären Kritikers in der Luft wie ein Weltkörper, der
seine Form nach unabänderlichen Gesetzen gebildet hat und der sich nach uuab-
nnderlichen Gesetzen bewegen muß, wenn er sein Dasein behaupten soll. Den
typisch gewordenen Ausdruck für diese litterargeschichtliche Methode hat Nisard


Grenzboten III 1890 ß9
Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

wertvoller als ein Lotze, ein Fritz Reuter interessanter als ein Graf von Schack.
Der bekannte französische Kritiker Melchior Grimm hat nicht Unrecht, wenn er
sagt: (ü'sse bvtmsoux, as sonimltrs ins lois, Is8 vouwmss, >S8 rsIiAions, i»g,is
on in^e disn rnisux as 1a wMims as xsu8ör se as hört-ir xg-r 1'ssprit an
tiivÄtrs. pur is Fort as« romM«, x^r 1o ton as» Loeistss, xa.r los pfeils vovtss
ot x-u- Iss !>on« mots. In den verschollenen Erzeugnissen der Litteratur liegt
also das eigentliche Arbeitsfeld des Kulturhistorikers; er darf sich bei seinen
Untersuchungen nicht von ästhetischen Gesichtspunkten leiten lassen, denn den
bleibenden Schönheitsgehalt eines Werkes festzustellen ist nicht seine Sache, er
hat lediglich auf die geschichtliche Stellung und Bedeutung eines litterarischen
Werkes sein Augenmerk zu richten. Behält der Kulturhistoriker diesen Stand¬
punkt, so kann die Litteraturgeschichte eine seiner dankbarsten Hilfswissenschaften
werden.

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis umgekehrt, d. h. in welchem Maße
ist der Literarhistoriker von der Kulturgeschichte abhängig, unter welchen Um¬
ständen bietet ihm diese eine zuverlässige Quelle für seine Forschungen? Die
Litteraturgeschichte ist als Wissenschaft ein Kind unsers Jahrhunderts; sie weist
einen ähnlichen Entwicklungsgang auf wie ihre Schwester, die Kunstgeschichte.
Beide haben sich verhältnismüßig spät aus dem bloßen Dilettantismus zu
wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sicherheit emporgearbeitet. „Mau benutzte
— sagt der bekannte Kunstkritiker Lermolieff — zuerst die Kunstwerke in der
Wissenschaft als Illustration für jeweilige ästhetische Theorien, dann als unter¬
haltendes Bilderbuch der Kulturgeschichte, schließlich zur Kunstwissenschaft als
exakten Wissenschaft." Eine ähnliche Entwicklung finden wir in der Auffassung
der Litteraturgeschichte. Die dogmatisch-ästhetische oder die rein moralisirende
Betrachtungsweise ging in unserm Jahrhundert zur kulturgeschichtlichen über,
gegenwärtig hat sie in Deutschland überwiegend eine philologische Richtung,
in Frankreich eine positivistische und psychologische eingeschlagen. Die erste
Methode beruht auf dem philosophischen Dogma von der Identität der Geister,
der Genies, der Talente. Die doktrinären Ästhetiker beurteilen daher die
Schöpfungen des menschlichen Geistes einer beliebigen Nation oder Zeit nach
den ausgeklügelten Regeln eines als richtig und unabänderlich anerkannten oder
überkommenen Geschmackes; sie bezeichnen jedes Werk, das außerhalb der mathe¬
matisch bestimmten Formen, außerhalb der als philosophische Wahrheiten an¬
genommenen Kunstbcgriffe liegt, als wertlos. Das litterarische Werk wird
losgetrennt von allen Voraussetzungen seines Ursprungs, von der Individua¬
lität des Dichters, von dem Charakter der Nation und der Zeit, und schwebt
vor deu Augen des doktrinären Kritikers in der Luft wie ein Weltkörper, der
seine Form nach unabänderlichen Gesetzen gebildet hat und der sich nach uuab-
nnderlichen Gesetzen bewegen muß, wenn er sein Dasein behaupten soll. Den
typisch gewordenen Ausdruck für diese litterargeschichtliche Methode hat Nisard


Grenzboten III 1890 ß9
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[0553] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte wertvoller als ein Lotze, ein Fritz Reuter interessanter als ein Graf von Schack. Der bekannte französische Kritiker Melchior Grimm hat nicht Unrecht, wenn er sagt: (ü'sse bvtmsoux, as sonimltrs ins lois, Is8 vouwmss, >S8 rsIiAions, i»g,is on in^e disn rnisux as 1a wMims as xsu8ör se as hört-ir xg-r 1'ssprit an tiivÄtrs. pur is Fort as« romM«, x^r 1o ton as» Loeistss, xa.r los pfeils vovtss ot x-u- Iss !>on« mots. In den verschollenen Erzeugnissen der Litteratur liegt also das eigentliche Arbeitsfeld des Kulturhistorikers; er darf sich bei seinen Untersuchungen nicht von ästhetischen Gesichtspunkten leiten lassen, denn den bleibenden Schönheitsgehalt eines Werkes festzustellen ist nicht seine Sache, er hat lediglich auf die geschichtliche Stellung und Bedeutung eines litterarischen Werkes sein Augenmerk zu richten. Behält der Kulturhistoriker diesen Stand¬ punkt, so kann die Litteraturgeschichte eine seiner dankbarsten Hilfswissenschaften werden. Wie gestaltet sich nun das Verhältnis umgekehrt, d. h. in welchem Maße ist der Literarhistoriker von der Kulturgeschichte abhängig, unter welchen Um¬ ständen bietet ihm diese eine zuverlässige Quelle für seine Forschungen? Die Litteraturgeschichte ist als Wissenschaft ein Kind unsers Jahrhunderts; sie weist einen ähnlichen Entwicklungsgang auf wie ihre Schwester, die Kunstgeschichte. Beide haben sich verhältnismüßig spät aus dem bloßen Dilettantismus zu wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sicherheit emporgearbeitet. „Mau benutzte — sagt der bekannte Kunstkritiker Lermolieff — zuerst die Kunstwerke in der Wissenschaft als Illustration für jeweilige ästhetische Theorien, dann als unter¬ haltendes Bilderbuch der Kulturgeschichte, schließlich zur Kunstwissenschaft als exakten Wissenschaft." Eine ähnliche Entwicklung finden wir in der Auffassung der Litteraturgeschichte. Die dogmatisch-ästhetische oder die rein moralisirende Betrachtungsweise ging in unserm Jahrhundert zur kulturgeschichtlichen über, gegenwärtig hat sie in Deutschland überwiegend eine philologische Richtung, in Frankreich eine positivistische und psychologische eingeschlagen. Die erste Methode beruht auf dem philosophischen Dogma von der Identität der Geister, der Genies, der Talente. Die doktrinären Ästhetiker beurteilen daher die Schöpfungen des menschlichen Geistes einer beliebigen Nation oder Zeit nach den ausgeklügelten Regeln eines als richtig und unabänderlich anerkannten oder überkommenen Geschmackes; sie bezeichnen jedes Werk, das außerhalb der mathe¬ matisch bestimmten Formen, außerhalb der als philosophische Wahrheiten an¬ genommenen Kunstbcgriffe liegt, als wertlos. Das litterarische Werk wird losgetrennt von allen Voraussetzungen seines Ursprungs, von der Individua¬ lität des Dichters, von dem Charakter der Nation und der Zeit, und schwebt vor deu Augen des doktrinären Kritikers in der Luft wie ein Weltkörper, der seine Form nach unabänderlichen Gesetzen gebildet hat und der sich nach uuab- nnderlichen Gesetzen bewegen muß, wenn er sein Dasein behaupten soll. Den typisch gewordenen Ausdruck für diese litterargeschichtliche Methode hat Nisard Grenzboten III 1890 ß9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/553>, abgerufen am 28.09.2024.