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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

Daher spielen sich die litterarischen Kämpfe, deren Eigentümlichkeiten
man als charakteristische Züge einer ganzen Kulturperiode anzusehen Pflegt,
gewöhnlich nur in den engen Berufskreisen der Schriftsteller ab, und die größere
Gesellschaft oder das Volk hat, wenn ihm jene Kämpfe überhaupt zum Be¬
wußtsein gekommen sind, zu allen Zeiten dabei keine andre Rolle gespielt als
die des abwartenden Zuschauers.

Es ist also unmöglich, von einer litterarischen Strömung, einer Dichtung
oder einem Kunstwerk auf den allgemeinem Charakter und die herrschenden
Kulturverhältnisse eines ganzen Zeitabschnittes einen sichern Rückschluß zu
ziehen. Man könnte einwenden, die betreffende Zeit habe doch die Persön¬
lichkeit hervorgebracht oder wenigstens in geistiger und materieller Beziehung
beeinflußt und bestimmt. Aber dieser Einwand trifft nicht ganz zu, denn man
mag, wie die Positivsten, von Nasse, Vererbung und Milieu reden, so viel
man will, der schöpferische Trieb, die neugestaltende Kraft, das große Ge¬
heimnis der Persönlichkeit wird man mit diesen äußerlichen Dingen niemals
erklären, und gerade in diesem Geheimnis liegt das Merkmal, das den Dichter
und den Künstler aus dem Nahmen und den herrschenden Anschauungen ihrer
Zeit heraushebt. Solche Geister zum Ausgangspunkte kulturgeschichtlicher
Betrachtung zu machen, ist also eben so falsch, als wollte ein Geograph den
Charakter und Zustand des gleichmäßigen, weit ausgedehnten Kulturlandes
nach der Art und Zusammensetzung der darin zerstreut liegenden Bergkuppen
bestimmen. Die sogenannten klassischen Werke, die in ihrer künstlerischen Voll¬
endung allen Zeiten, sogar allen Nationen augehören können, bieten dem Kultur¬
historiker ein wenig ergiebiges Feld für seine Untersuchung.

Den Seefahrer kümmern wenig die obern Windrichtungen; von ihnen
hängt seiue Sicherheit und sein Fortkommen nicht unmittelbar ab. Was seine
beständige Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, das sind die untern Luft¬
strömungen, die das Meer in einem wechselnden Wellengange halten und oft
von Grund aus aufwühlen. Auch der Kulturhistoriker hängt mehr von den
Werken der ein Wmore-s ab, als von den Kunstschöpfungen der Genies. Ihm
ist das Unkraut interessanter als der Weizen, ihm sind die Auswüchse und
Verkrüppelungen lehrreicher als die normalen Erscheinungen, die krankhaften
Zustände fesselnder als die gesunden. Nicht aus den unsterblichen Werken
großer Geister konstruirt er die wechselnden Bilder der einzelnen Perioden,
sondern aus den vorübergehenden Erzeugnissen des Zeitgeschmackes, aus den
Tendenzwerken und Kritiken, aus den Streitschriften und Satiren, aus den
Machwerken der litterarischen Klopffechter und Modegötzen. Er hat weniger
darauf zu achten, welche hervorragenden Geister in der oder jener Zeit lebten,
als vielmehr darauf, welche Schriftsteller von der Gesellschaft gelesen, welche
Künstler gefeiert wurden. In dieser Hinsicht ist ihm ein Kotzebue nützlicher
als ein Schiller, ein Clauren fruchtbarer als ein Hauff, ein Schopenhauer


Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte

Daher spielen sich die litterarischen Kämpfe, deren Eigentümlichkeiten
man als charakteristische Züge einer ganzen Kulturperiode anzusehen Pflegt,
gewöhnlich nur in den engen Berufskreisen der Schriftsteller ab, und die größere
Gesellschaft oder das Volk hat, wenn ihm jene Kämpfe überhaupt zum Be¬
wußtsein gekommen sind, zu allen Zeiten dabei keine andre Rolle gespielt als
die des abwartenden Zuschauers.

Es ist also unmöglich, von einer litterarischen Strömung, einer Dichtung
oder einem Kunstwerk auf den allgemeinem Charakter und die herrschenden
Kulturverhältnisse eines ganzen Zeitabschnittes einen sichern Rückschluß zu
ziehen. Man könnte einwenden, die betreffende Zeit habe doch die Persön¬
lichkeit hervorgebracht oder wenigstens in geistiger und materieller Beziehung
beeinflußt und bestimmt. Aber dieser Einwand trifft nicht ganz zu, denn man
mag, wie die Positivsten, von Nasse, Vererbung und Milieu reden, so viel
man will, der schöpferische Trieb, die neugestaltende Kraft, das große Ge¬
heimnis der Persönlichkeit wird man mit diesen äußerlichen Dingen niemals
erklären, und gerade in diesem Geheimnis liegt das Merkmal, das den Dichter
und den Künstler aus dem Nahmen und den herrschenden Anschauungen ihrer
Zeit heraushebt. Solche Geister zum Ausgangspunkte kulturgeschichtlicher
Betrachtung zu machen, ist also eben so falsch, als wollte ein Geograph den
Charakter und Zustand des gleichmäßigen, weit ausgedehnten Kulturlandes
nach der Art und Zusammensetzung der darin zerstreut liegenden Bergkuppen
bestimmen. Die sogenannten klassischen Werke, die in ihrer künstlerischen Voll¬
endung allen Zeiten, sogar allen Nationen augehören können, bieten dem Kultur¬
historiker ein wenig ergiebiges Feld für seine Untersuchung.

Den Seefahrer kümmern wenig die obern Windrichtungen; von ihnen
hängt seiue Sicherheit und sein Fortkommen nicht unmittelbar ab. Was seine
beständige Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, das sind die untern Luft¬
strömungen, die das Meer in einem wechselnden Wellengange halten und oft
von Grund aus aufwühlen. Auch der Kulturhistoriker hängt mehr von den
Werken der ein Wmore-s ab, als von den Kunstschöpfungen der Genies. Ihm
ist das Unkraut interessanter als der Weizen, ihm sind die Auswüchse und
Verkrüppelungen lehrreicher als die normalen Erscheinungen, die krankhaften
Zustände fesselnder als die gesunden. Nicht aus den unsterblichen Werken
großer Geister konstruirt er die wechselnden Bilder der einzelnen Perioden,
sondern aus den vorübergehenden Erzeugnissen des Zeitgeschmackes, aus den
Tendenzwerken und Kritiken, aus den Streitschriften und Satiren, aus den
Machwerken der litterarischen Klopffechter und Modegötzen. Er hat weniger
darauf zu achten, welche hervorragenden Geister in der oder jener Zeit lebten,
als vielmehr darauf, welche Schriftsteller von der Gesellschaft gelesen, welche
Künstler gefeiert wurden. In dieser Hinsicht ist ihm ein Kotzebue nützlicher
als ein Schiller, ein Clauren fruchtbarer als ein Hauff, ein Schopenhauer


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[0552] Kulturgeschichte und Litteraturgeschichte Daher spielen sich die litterarischen Kämpfe, deren Eigentümlichkeiten man als charakteristische Züge einer ganzen Kulturperiode anzusehen Pflegt, gewöhnlich nur in den engen Berufskreisen der Schriftsteller ab, und die größere Gesellschaft oder das Volk hat, wenn ihm jene Kämpfe überhaupt zum Be¬ wußtsein gekommen sind, zu allen Zeiten dabei keine andre Rolle gespielt als die des abwartenden Zuschauers. Es ist also unmöglich, von einer litterarischen Strömung, einer Dichtung oder einem Kunstwerk auf den allgemeinem Charakter und die herrschenden Kulturverhältnisse eines ganzen Zeitabschnittes einen sichern Rückschluß zu ziehen. Man könnte einwenden, die betreffende Zeit habe doch die Persön¬ lichkeit hervorgebracht oder wenigstens in geistiger und materieller Beziehung beeinflußt und bestimmt. Aber dieser Einwand trifft nicht ganz zu, denn man mag, wie die Positivsten, von Nasse, Vererbung und Milieu reden, so viel man will, der schöpferische Trieb, die neugestaltende Kraft, das große Ge¬ heimnis der Persönlichkeit wird man mit diesen äußerlichen Dingen niemals erklären, und gerade in diesem Geheimnis liegt das Merkmal, das den Dichter und den Künstler aus dem Nahmen und den herrschenden Anschauungen ihrer Zeit heraushebt. Solche Geister zum Ausgangspunkte kulturgeschichtlicher Betrachtung zu machen, ist also eben so falsch, als wollte ein Geograph den Charakter und Zustand des gleichmäßigen, weit ausgedehnten Kulturlandes nach der Art und Zusammensetzung der darin zerstreut liegenden Bergkuppen bestimmen. Die sogenannten klassischen Werke, die in ihrer künstlerischen Voll¬ endung allen Zeiten, sogar allen Nationen augehören können, bieten dem Kultur¬ historiker ein wenig ergiebiges Feld für seine Untersuchung. Den Seefahrer kümmern wenig die obern Windrichtungen; von ihnen hängt seiue Sicherheit und sein Fortkommen nicht unmittelbar ab. Was seine beständige Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, das sind die untern Luft¬ strömungen, die das Meer in einem wechselnden Wellengange halten und oft von Grund aus aufwühlen. Auch der Kulturhistoriker hängt mehr von den Werken der ein Wmore-s ab, als von den Kunstschöpfungen der Genies. Ihm ist das Unkraut interessanter als der Weizen, ihm sind die Auswüchse und Verkrüppelungen lehrreicher als die normalen Erscheinungen, die krankhaften Zustände fesselnder als die gesunden. Nicht aus den unsterblichen Werken großer Geister konstruirt er die wechselnden Bilder der einzelnen Perioden, sondern aus den vorübergehenden Erzeugnissen des Zeitgeschmackes, aus den Tendenzwerken und Kritiken, aus den Streitschriften und Satiren, aus den Machwerken der litterarischen Klopffechter und Modegötzen. Er hat weniger darauf zu achten, welche hervorragenden Geister in der oder jener Zeit lebten, als vielmehr darauf, welche Schriftsteller von der Gesellschaft gelesen, welche Künstler gefeiert wurden. In dieser Hinsicht ist ihm ein Kotzebue nützlicher als ein Schiller, ein Clauren fruchtbarer als ein Hauff, ein Schopenhauer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/552>, abgerufen am 28.09.2024.