Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Aulturgeschichte und Litteraturgeschichte Lebensanschauungen zersetzenden Philosophie, mit seinen Gewaltmaßregeln und Uns UttsiÄturs, sagt der französische Kritiker Emile Hennequin, sxxrims Aulturgeschichte und Litteraturgeschichte Lebensanschauungen zersetzenden Philosophie, mit seinen Gewaltmaßregeln und Uns UttsiÄturs, sagt der französische Kritiker Emile Hennequin, sxxrims <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0551" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208488"/> <fw type="header" place="top"> Aulturgeschichte und Litteraturgeschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1739" prev="#ID_1738"> Lebensanschauungen zersetzenden Philosophie, mit seinen Gewaltmaßregeln und<lb/> seiner Staatsumwälzung ist in Frankreich nicht imstande gewesen, die doktrinäre<lb/> Ästhetik des überlieferten Klassizismus zu stürzen. Ähnliche Erscheinungen<lb/> finden wir auch in der englischen und der deutschen Litteratur. Das Bild,<lb/> das man aus der Litteratur gewinnt, deckt sich also nicht immer mit den<lb/> Kulturbewegungen einer bestimmten Zeit. Daher ist die Frage nicht so leicht<lb/> zu beantworten, in welchem Umfange der Kulturhistoriker die Litteratur einer<lb/> Zeit für seine Zwecke ausnutzen darf, um zu einer richtigen Darstellung zu<lb/> gelangen. Aber umgekehrt wird sich auch die Frage aufdrängen, in welchem<lb/> Abhängigkeitsverhältnis der Litterarhistoriker zur Kulturgeschichte steht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1740"> Uns UttsiÄturs, sagt der französische Kritiker Emile Hennequin, sxxrims<lb/> uns ludion, non xaroö MS oslls-ol xroäuits, ing-is xaros nus oslls-ol<lb/> I'g. aclovtss et iiämirss, 8'^ sse soinplns se rseounns. Derselbe Grundsatz<lb/> läßt sich auch auf jeden einzelnen Zeitabschnitt anwenden: die jeweilige Litte¬<lb/> ratur ist nicht deshalb für die Gesellschaft charakteristisch, weil sie ein Produkt<lb/> dieser Gesellschaft ist, sondern weil sie von ihr, oder doch von den ma߬<lb/> gebenden Geistern angenommen und bewundert wird. Die Überlieferung, der<lb/> Zufall und die Achtung vor dem früher anerkannten und gepriesenen spielen<lb/> nirgends eine größere Rolle als auf dem Gebiete der Kunst und der Litteratur.<lb/> Von einflußreichen Personen wird der Gesellschaft, sogar der fremder Völker,<lb/> oft eine litterarische Richtung aufgedrängt, die in gar keinem Zusammenhange<lb/> mit ihren staatlichen, religiösen und sittlichen Anschauungen steht. Ja es giebt<lb/> Perioden, wo sich in der Litteratur geradezu ein den Kulturbestrebungen ent¬<lb/> gegengesetzter Geist offenbart, wo die Litteratur vor den mächtigen Aufgaben<lb/> der Zeit Kehrt macht und ihre Kräfte an fernliegende Probleme vergeudet.<lb/> Brauchen wir dabei an die Litteratur der Gegenwart zu erinnern? Die Litte¬<lb/> ratur ist eben niemals das Erzeugnis einer ganzen Gesellschaft, sondern lediglich<lb/> das Werk einzelner Geister, die gewöhnlich so weit außerhalb ihrer Zeit stehen,<lb/> daß ihre Bedeutung gar nicht einmal von ihren Zeitgenossen erkannt wird.<lb/> Man darf sich in dieser Hinsicht keinen Täuschungen hingeben, denn im Grunde<lb/> ist es zu alleu Zeiten immer nur ein kleiner Kreis von Menschen gewesen, der<lb/> sich mit der zeitgenössischen Litteratur eingehend beschäftigt hat. Ohne ein<lb/> Hotel de Rambouillet hat sich noch nie ein neuschaffendes litterarisches Leben<lb/> behaupten können, denn der größte Teil der Menschen hat zu allen Zeiten die<lb/> Befriedigung des litterarischen Bedürfnisses in der Beschäftigung mit den<lb/> Werken der Vergangenheit gefunden. Das litterarische und künstlerische Leben<lb/> der letzten drei Jahrhunderte ist, nicht zum Vorteil für den Fortschritt einer<lb/> selbständigen echt nationalen Kultur, immer mehr ein Nückschauen und Wieder¬<lb/> verarbeiten früherer Erkenntnisse, Einsichten und Schöpfungen gewesen, als<lb/> eine frische, ursprüngliche Teilnahme und Mitwirkung an dem Neuentstehenden<lb/> und Neugeschaffenen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0551]
Aulturgeschichte und Litteraturgeschichte
Lebensanschauungen zersetzenden Philosophie, mit seinen Gewaltmaßregeln und
seiner Staatsumwälzung ist in Frankreich nicht imstande gewesen, die doktrinäre
Ästhetik des überlieferten Klassizismus zu stürzen. Ähnliche Erscheinungen
finden wir auch in der englischen und der deutschen Litteratur. Das Bild,
das man aus der Litteratur gewinnt, deckt sich also nicht immer mit den
Kulturbewegungen einer bestimmten Zeit. Daher ist die Frage nicht so leicht
zu beantworten, in welchem Umfange der Kulturhistoriker die Litteratur einer
Zeit für seine Zwecke ausnutzen darf, um zu einer richtigen Darstellung zu
gelangen. Aber umgekehrt wird sich auch die Frage aufdrängen, in welchem
Abhängigkeitsverhältnis der Litterarhistoriker zur Kulturgeschichte steht.
Uns UttsiÄturs, sagt der französische Kritiker Emile Hennequin, sxxrims
uns ludion, non xaroö MS oslls-ol xroäuits, ing-is xaros nus oslls-ol
I'g. aclovtss et iiämirss, 8'^ sse soinplns se rseounns. Derselbe Grundsatz
läßt sich auch auf jeden einzelnen Zeitabschnitt anwenden: die jeweilige Litte¬
ratur ist nicht deshalb für die Gesellschaft charakteristisch, weil sie ein Produkt
dieser Gesellschaft ist, sondern weil sie von ihr, oder doch von den ma߬
gebenden Geistern angenommen und bewundert wird. Die Überlieferung, der
Zufall und die Achtung vor dem früher anerkannten und gepriesenen spielen
nirgends eine größere Rolle als auf dem Gebiete der Kunst und der Litteratur.
Von einflußreichen Personen wird der Gesellschaft, sogar der fremder Völker,
oft eine litterarische Richtung aufgedrängt, die in gar keinem Zusammenhange
mit ihren staatlichen, religiösen und sittlichen Anschauungen steht. Ja es giebt
Perioden, wo sich in der Litteratur geradezu ein den Kulturbestrebungen ent¬
gegengesetzter Geist offenbart, wo die Litteratur vor den mächtigen Aufgaben
der Zeit Kehrt macht und ihre Kräfte an fernliegende Probleme vergeudet.
Brauchen wir dabei an die Litteratur der Gegenwart zu erinnern? Die Litte¬
ratur ist eben niemals das Erzeugnis einer ganzen Gesellschaft, sondern lediglich
das Werk einzelner Geister, die gewöhnlich so weit außerhalb ihrer Zeit stehen,
daß ihre Bedeutung gar nicht einmal von ihren Zeitgenossen erkannt wird.
Man darf sich in dieser Hinsicht keinen Täuschungen hingeben, denn im Grunde
ist es zu alleu Zeiten immer nur ein kleiner Kreis von Menschen gewesen, der
sich mit der zeitgenössischen Litteratur eingehend beschäftigt hat. Ohne ein
Hotel de Rambouillet hat sich noch nie ein neuschaffendes litterarisches Leben
behaupten können, denn der größte Teil der Menschen hat zu allen Zeiten die
Befriedigung des litterarischen Bedürfnisses in der Beschäftigung mit den
Werken der Vergangenheit gefunden. Das litterarische und künstlerische Leben
der letzten drei Jahrhunderte ist, nicht zum Vorteil für den Fortschritt einer
selbständigen echt nationalen Kultur, immer mehr ein Nückschauen und Wieder¬
verarbeiten früherer Erkenntnisse, Einsichten und Schöpfungen gewesen, als
eine frische, ursprüngliche Teilnahme und Mitwirkung an dem Neuentstehenden
und Neugeschaffenen.
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