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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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vie Unnst in Lngland

Aber ich sah zunächst überhaupt nichts von Bildern. ES war Donnerstag,
Studientag, und die ganze Galerie war von malenden Damen besetzt. Dn
saßen sie und malten in schwärmerischer Verzückung die alten Italiener
ab. Sobald man vor ein Lieblingsbild gekommen war, saß so eine liebe
Dame davor und versperrte die Aussicht. Sie sind weniger schön als inter¬
essant -- blond, blaß und schlank, mit kurzgeschnittenen Locken und feuchten,
schwärmerischen Augen. Die Kleidung, originell in Schnitt und Farben, scheint
fast künstlich in Unordnung gebracht, und vor ihnen auf dein Mnltischchen
steht ein buntes Glas, aus dem eine Sonnenblume oder eine Lilie nickt. Das
sind die Wesen, wie sie Sullivan in seiner Operette Patience schildert, die
verkörperte Ästhetik, ästhetisch an Leib und Seele, als hätten Vvttieellis Ma¬
donnen Fleisch und Blut angenommen und wären aus der vierten Dimension
als ätherische Spirits herübergekommen.

Dieser Gegensatz, der sich zwischen dem rasselnden Straßenleben und der
ästhetischen Zartheit dieser Wesen geltend macht, geht durch das ganze Leben
des Engländers hindurch. Es ist in jeder Hinsicht das Land der Gegensätze:
die Heimstätte der praktischen Vernunft und die Wiege des Spiritismus, eine
Republik mit eiuer .Königin, die abgöttisch verehrt lind zugleich in den
beißendsten Satiren verspottet wird. In dem vornehmen Vierteln herrscht der
üppigste Reichtum und die satteste Tugend, in Whitechapel die hungerndste
Armut und das schreiendste Laster. Selbst die Restaurants haben ein Doppel¬
gesicht: vorn die Räume für Steaks und Ale, dahinter die für Kuchen, Limo¬
nade und Thee. Zwei Seelen wohnen in des Engländers Brust. Am Tage
ist er ein trockner Geschäftsmann, ganz aufgehend in der Arbeit und in den
Interessen des Tages, am Abend, im Privatleben, kommt die Reaktion -- da
herrscht das ewig Weibliche und mit ihm die Ästhetik. Reizend mit Blumen
ist der Tisch geschmückt, die Dame und die Töchter des Hauses sprechen ver¬
ständnisvoll von Kunst und Musik, man hat wohlerzogen zu sein, für immer
verloren ist, wer den geringsten Verstoß im Gebrauch von Messer und Gabel
macht. Auf der Veranda atmet man die frische Luft des Hydepark, kein Ton,
der an das Tagesgetriebe erinnern könnte, dringt herüber.

Es ist fast selbstverständlich, daß anch die englische Kunst diese Gegensätze
aufweist: auf der einen Seite die Richtung aufs Nützliche, die technische Fin¬
digkeit, auf der andern die Romantik, die saufte Schwärmerei, das ästhetische
Träumen.

Bleiben wir in der Abendgesellschaft und sehen wir uns daraufhin die
Wohnungseinrichtung an. Was ist sie von Salon bis zum Lavatory anders
als eine Nützlichkeitseinrichtung pur oxoellLnoo! Noch bis vor kurzem gerade
auf dem Gebiete des Kniistgewerbes als Barbaren verschrieen, entweder von
den Franzosen abhängig oder in dem, was sie selbständig leisteten, fast noch
unter dem Niveau unsers Biedermeierstils stehend, haben die Engländer seit


vie Unnst in Lngland

Aber ich sah zunächst überhaupt nichts von Bildern. ES war Donnerstag,
Studientag, und die ganze Galerie war von malenden Damen besetzt. Dn
saßen sie und malten in schwärmerischer Verzückung die alten Italiener
ab. Sobald man vor ein Lieblingsbild gekommen war, saß so eine liebe
Dame davor und versperrte die Aussicht. Sie sind weniger schön als inter¬
essant — blond, blaß und schlank, mit kurzgeschnittenen Locken und feuchten,
schwärmerischen Augen. Die Kleidung, originell in Schnitt und Farben, scheint
fast künstlich in Unordnung gebracht, und vor ihnen auf dein Mnltischchen
steht ein buntes Glas, aus dem eine Sonnenblume oder eine Lilie nickt. Das
sind die Wesen, wie sie Sullivan in seiner Operette Patience schildert, die
verkörperte Ästhetik, ästhetisch an Leib und Seele, als hätten Vvttieellis Ma¬
donnen Fleisch und Blut angenommen und wären aus der vierten Dimension
als ätherische Spirits herübergekommen.

Dieser Gegensatz, der sich zwischen dem rasselnden Straßenleben und der
ästhetischen Zartheit dieser Wesen geltend macht, geht durch das ganze Leben
des Engländers hindurch. Es ist in jeder Hinsicht das Land der Gegensätze:
die Heimstätte der praktischen Vernunft und die Wiege des Spiritismus, eine
Republik mit eiuer .Königin, die abgöttisch verehrt lind zugleich in den
beißendsten Satiren verspottet wird. In dem vornehmen Vierteln herrscht der
üppigste Reichtum und die satteste Tugend, in Whitechapel die hungerndste
Armut und das schreiendste Laster. Selbst die Restaurants haben ein Doppel¬
gesicht: vorn die Räume für Steaks und Ale, dahinter die für Kuchen, Limo¬
nade und Thee. Zwei Seelen wohnen in des Engländers Brust. Am Tage
ist er ein trockner Geschäftsmann, ganz aufgehend in der Arbeit und in den
Interessen des Tages, am Abend, im Privatleben, kommt die Reaktion — da
herrscht das ewig Weibliche und mit ihm die Ästhetik. Reizend mit Blumen
ist der Tisch geschmückt, die Dame und die Töchter des Hauses sprechen ver¬
ständnisvoll von Kunst und Musik, man hat wohlerzogen zu sein, für immer
verloren ist, wer den geringsten Verstoß im Gebrauch von Messer und Gabel
macht. Auf der Veranda atmet man die frische Luft des Hydepark, kein Ton,
der an das Tagesgetriebe erinnern könnte, dringt herüber.

Es ist fast selbstverständlich, daß anch die englische Kunst diese Gegensätze
aufweist: auf der einen Seite die Richtung aufs Nützliche, die technische Fin¬
digkeit, auf der andern die Romantik, die saufte Schwärmerei, das ästhetische
Träumen.

Bleiben wir in der Abendgesellschaft und sehen wir uns daraufhin die
Wohnungseinrichtung an. Was ist sie von Salon bis zum Lavatory anders
als eine Nützlichkeitseinrichtung pur oxoellLnoo! Noch bis vor kurzem gerade
auf dem Gebiete des Kniistgewerbes als Barbaren verschrieen, entweder von
den Franzosen abhängig oder in dem, was sie selbständig leisteten, fast noch
unter dem Niveau unsers Biedermeierstils stehend, haben die Engländer seit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/518>, abgerufen am 28.09.2024.