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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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tust gebadet, erfreuen das Auge. Man saust an kleinen Städten, Arbeiter-
dörferu, vornehmen Landsitzen vorbei, deren Dächer freundlich im Sonnenschein
blinken. Die Luft wird allmählich schlechter und dicker, man fährt zwanzig
Minuten über ein Häusermeer hin, dann hält der Zug. Ohne daß das Billet
kvutrollirt wurde, steigt man aus -- das englische Volk ist zur Mündigkeit
erzogen und braucht keine zurechtweisende Kontrolle. Man sitzt in einer
Droschke und fährt auf Asphalt, ringsum von Wagengewühl umgeben. Sonder¬
bare Einspänner, deren Kutscher hinter dem Wagen sitzen, eilen vorüber, und
vorn sitzen immer dieselben Herren im Zylinder und roten Handschuhe".
Omnibusse, vom oben bis unter mit Plataeer bedeckt, rasseln dahin; die Kon¬
dukteure rufen verworrene Namen, die den unbehilflichen deutschen Kleinstädter
wahnsinnig machen, während die Herren ans dem Verdeck ruhig ihre Zeitung
lesen oder gelassen in die Luft starren. Zuweilen muß gehalten werden, um
Raum zu schaffen; Polizisten mit schwarzen Kopfbedeckungen leiten das alles
mit kleinen Handbewegungen. Frauen und Kinder eilen dann von den Trottoirs
in sicherer Ruhe über den Fahrweg. Hier rufen Zeitungsjungen ihre Jour¬
nale ans, dort schreien sich Stiefelwichser heiser, in der Tiefe pfeift gellend
die unterirdische Stadtbahn. Es rasselt, schreit und dröhnt von allen Seiten,
überall Arbeit, Kampf uns Dasein, Prosa des Lebens -- das ist London,
überwältigend groß und niederschmetternd für die Nerven, wenig Freuden ver¬
sprechend für den, der eben den heitern kunstdurchträukten Boden von Paris
verlassen hat.

Doch die Gegensätze berühren sich. Nachdem ich ins Hotel gekommen
war, dort die Schwere und Gediegenheit der Einrichtung bewundert, von der
wir in Deutschland gar keine Ahnung haben, den üblichen Lunch eingenommen
hatte, der ebenso schwer als teuer ist und nach der leichten Küche der Fran¬
zosen recht sonderbar anmutet, war mein erster Gaug nach der MllionÄ Oiüsr)'
gerichtet, die ich mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Es ist ein weites, finster-
blickendes Gebäude, architektonisch unschön, doch merkwürdig vornehm im
Innern. Im Louvre in Paris blutet einem das Herz über den Ruin, dem
die Bilder versallen sind, über ihren trostlosen Zustand, der fast den künstle¬
rischen Genuß unmöglich macht, über die lieblose Übereinanderhänfuug der
verschiedensten Dinge. Hier hängt in den weiten Sälen immer uur eine Reihe
von Bildern neben einander, gerade in der Gesichtshöhe des Beschauers und
so weit von einander entfernt, daß jedes mit ruhigem Auge gewürdigt werden
kann. Die einfach vornehmen Rahmen unterscheiden sich sehr vorteilhaft von
den schwerfälligen, plump verzierten, mittelmüßig vergoldeten oder brouzirten,
die sich anderwärts breit machen. Die Gemälde selbst, in vorzüglicher Er¬
haltung, siud uuter Glas; deu Hintergrund bildet rote Seide vou wohlthuend
ruhigem Ton. Wer die reizendsten Bottieellis, die herrlichsten Tizians, die
feinsten Holländer sehen will, muß in die Londoner Mtiorml 6ick(!r7 gehen.


tust gebadet, erfreuen das Auge. Man saust an kleinen Städten, Arbeiter-
dörferu, vornehmen Landsitzen vorbei, deren Dächer freundlich im Sonnenschein
blinken. Die Luft wird allmählich schlechter und dicker, man fährt zwanzig
Minuten über ein Häusermeer hin, dann hält der Zug. Ohne daß das Billet
kvutrollirt wurde, steigt man aus — das englische Volk ist zur Mündigkeit
erzogen und braucht keine zurechtweisende Kontrolle. Man sitzt in einer
Droschke und fährt auf Asphalt, ringsum von Wagengewühl umgeben. Sonder¬
bare Einspänner, deren Kutscher hinter dem Wagen sitzen, eilen vorüber, und
vorn sitzen immer dieselben Herren im Zylinder und roten Handschuhe».
Omnibusse, vom oben bis unter mit Plataeer bedeckt, rasseln dahin; die Kon¬
dukteure rufen verworrene Namen, die den unbehilflichen deutschen Kleinstädter
wahnsinnig machen, während die Herren ans dem Verdeck ruhig ihre Zeitung
lesen oder gelassen in die Luft starren. Zuweilen muß gehalten werden, um
Raum zu schaffen; Polizisten mit schwarzen Kopfbedeckungen leiten das alles
mit kleinen Handbewegungen. Frauen und Kinder eilen dann von den Trottoirs
in sicherer Ruhe über den Fahrweg. Hier rufen Zeitungsjungen ihre Jour¬
nale ans, dort schreien sich Stiefelwichser heiser, in der Tiefe pfeift gellend
die unterirdische Stadtbahn. Es rasselt, schreit und dröhnt von allen Seiten,
überall Arbeit, Kampf uns Dasein, Prosa des Lebens — das ist London,
überwältigend groß und niederschmetternd für die Nerven, wenig Freuden ver¬
sprechend für den, der eben den heitern kunstdurchträukten Boden von Paris
verlassen hat.

Doch die Gegensätze berühren sich. Nachdem ich ins Hotel gekommen
war, dort die Schwere und Gediegenheit der Einrichtung bewundert, von der
wir in Deutschland gar keine Ahnung haben, den üblichen Lunch eingenommen
hatte, der ebenso schwer als teuer ist und nach der leichten Küche der Fran¬
zosen recht sonderbar anmutet, war mein erster Gaug nach der MllionÄ Oiüsr)'
gerichtet, die ich mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Es ist ein weites, finster-
blickendes Gebäude, architektonisch unschön, doch merkwürdig vornehm im
Innern. Im Louvre in Paris blutet einem das Herz über den Ruin, dem
die Bilder versallen sind, über ihren trostlosen Zustand, der fast den künstle¬
rischen Genuß unmöglich macht, über die lieblose Übereinanderhänfuug der
verschiedensten Dinge. Hier hängt in den weiten Sälen immer uur eine Reihe
von Bildern neben einander, gerade in der Gesichtshöhe des Beschauers und
so weit von einander entfernt, daß jedes mit ruhigem Auge gewürdigt werden
kann. Die einfach vornehmen Rahmen unterscheiden sich sehr vorteilhaft von
den schwerfälligen, plump verzierten, mittelmüßig vergoldeten oder brouzirten,
die sich anderwärts breit machen. Die Gemälde selbst, in vorzüglicher Er¬
haltung, siud uuter Glas; deu Hintergrund bildet rote Seide vou wohlthuend
ruhigem Ton. Wer die reizendsten Bottieellis, die herrlichsten Tizians, die
feinsten Holländer sehen will, muß in die Londoner Mtiorml 6ick(!r7 gehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/517>, abgerufen am 28.09.2024.