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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Kunst in England

Bekannt ist z. B. -- trotz Flaxmcm und den neuesten Versuchen -- das
Fehlen einer englischen Plastik. Es mangeln ihr weder zahlreiche noch würdige
Aufgaben. Wenn man die Kathedralen und die öffentlichen Plätze Londons
durchwandert, beneidet man die Bildhauer um die thätige Teilnahme, die sie
überall finden. Aber so viele Nelson, Peel und Wellington in Erz und
Marmor uns begegnen, ein befriedigendes Werk trifft man nur selten an,
wenn man nicht als Sportsman mit der getreuen Wiedergabe der Rassen-
Pferde und dem tadellosen Sitz der Reiter vorlieb nimmt. Noch weniger Lor¬
beeren hat die englische Phantasie auf dem Gebiete der Jdealplaftik errungen.
Hier hat offenbar pietistische Prüderie um vollen Erfassen gesunder Formen¬
schönheit gehindert. Denn ist es die vollsaftige, naive Sinnlichkeit des Pariser
Lebens, die dort die Plastik so'groß gemacht hat, so konnte sie natürlich
in einem Lande nicht gedeihen, wo ein Stuhlbein 8kipp1imZ ist, und die Sinnlich¬
keit nach den Enthüllungen der Nil.11 (Z^vt-es sich zuweilen in mehr
absonderlichen als naiven Formen äußert. Ebenso wird niemand, der nach
England fährt, sich dort ernstlich mit moderner Architektur beschäftigen. Zwar
brauchen die englischen Architekten im verständnisvollen Reprvdnziren alter
Bauweisen keinen Vergleich zu scheuen. Wie die zahllosen modernen Kirchen
und die Riesenbauten der Parlamentshäuser zeigen, hat mau sich mit großem
Erfolg bestrebt, namentlich den nltheimischen Stil der Gothik wieder zu Ehren
zu bringen. Aber an öffentlichen Bauwerken, in denen der moderne Baugeist
seine eigne Sprache redet, steht London hinter Paris und selbst hinter Berlin
zurück.

Dennoch siud auf einigen Gebieten der Kunstthätigkeit den Engländern
wichtige Anregungen zu danken, obwohl sich ihr Einfluß gewöhnlich nicht
unmittelbar, sondern durch zufällige Vermittlung der Franzosen geltend machte.
Denn der Kanal bildet eben auch in künstlerischer Hinsicht eine Trennungs-
linie zwischen den britischen Inseln und dem Festlande. Die englische Kunst
entwickelte sich ausschließlich ans den: heimatlichen Boden, meist unbekümmert
um die künstlerischen Strömungen im übrigen Europa; sie fand jederzeit ihr
Publikum bei sich zu Hause, und der Markt des Kontinents war ihr gleich-
giltig. Um sie würdigen zu können, muß man sie also an der Quelle
studiren.

Ich kam nach London zuletzt im vorigen Herbst, nachdem ich die Freuden
und Leiden der Pariser Ausstellung durchgekostet hatte. Von Paris nach
Calais, von Calais nach Dover, und der Boden Englands ist erreicht. Welcher
Gegensatz gegen Frankreich! All Stelle der französischen Waggons, die viel
zu wünschen übrig lassen, nehmen uns Eisenbahnwagen von der bequemsten
Einrichtung aus, wie mau sie in Deutschland nur beim Orientexpreßzug kennt.
Man schaut noch eine Weile auf das blaue Meer, dann wendet sich der Zug
landeinwärts, grüne Wiesen und prächtige Holzungen, in der feuchten Meer-


Die Kunst in England

Bekannt ist z. B. — trotz Flaxmcm und den neuesten Versuchen — das
Fehlen einer englischen Plastik. Es mangeln ihr weder zahlreiche noch würdige
Aufgaben. Wenn man die Kathedralen und die öffentlichen Plätze Londons
durchwandert, beneidet man die Bildhauer um die thätige Teilnahme, die sie
überall finden. Aber so viele Nelson, Peel und Wellington in Erz und
Marmor uns begegnen, ein befriedigendes Werk trifft man nur selten an,
wenn man nicht als Sportsman mit der getreuen Wiedergabe der Rassen-
Pferde und dem tadellosen Sitz der Reiter vorlieb nimmt. Noch weniger Lor¬
beeren hat die englische Phantasie auf dem Gebiete der Jdealplaftik errungen.
Hier hat offenbar pietistische Prüderie um vollen Erfassen gesunder Formen¬
schönheit gehindert. Denn ist es die vollsaftige, naive Sinnlichkeit des Pariser
Lebens, die dort die Plastik so'groß gemacht hat, so konnte sie natürlich
in einem Lande nicht gedeihen, wo ein Stuhlbein 8kipp1imZ ist, und die Sinnlich¬
keit nach den Enthüllungen der Nil.11 (Z^vt-es sich zuweilen in mehr
absonderlichen als naiven Formen äußert. Ebenso wird niemand, der nach
England fährt, sich dort ernstlich mit moderner Architektur beschäftigen. Zwar
brauchen die englischen Architekten im verständnisvollen Reprvdnziren alter
Bauweisen keinen Vergleich zu scheuen. Wie die zahllosen modernen Kirchen
und die Riesenbauten der Parlamentshäuser zeigen, hat mau sich mit großem
Erfolg bestrebt, namentlich den nltheimischen Stil der Gothik wieder zu Ehren
zu bringen. Aber an öffentlichen Bauwerken, in denen der moderne Baugeist
seine eigne Sprache redet, steht London hinter Paris und selbst hinter Berlin
zurück.

Dennoch siud auf einigen Gebieten der Kunstthätigkeit den Engländern
wichtige Anregungen zu danken, obwohl sich ihr Einfluß gewöhnlich nicht
unmittelbar, sondern durch zufällige Vermittlung der Franzosen geltend machte.
Denn der Kanal bildet eben auch in künstlerischer Hinsicht eine Trennungs-
linie zwischen den britischen Inseln und dem Festlande. Die englische Kunst
entwickelte sich ausschließlich ans den: heimatlichen Boden, meist unbekümmert
um die künstlerischen Strömungen im übrigen Europa; sie fand jederzeit ihr
Publikum bei sich zu Hause, und der Markt des Kontinents war ihr gleich-
giltig. Um sie würdigen zu können, muß man sie also an der Quelle
studiren.

Ich kam nach London zuletzt im vorigen Herbst, nachdem ich die Freuden
und Leiden der Pariser Ausstellung durchgekostet hatte. Von Paris nach
Calais, von Calais nach Dover, und der Boden Englands ist erreicht. Welcher
Gegensatz gegen Frankreich! All Stelle der französischen Waggons, die viel
zu wünschen übrig lassen, nehmen uns Eisenbahnwagen von der bequemsten
Einrichtung aus, wie mau sie in Deutschland nur beim Orientexpreßzug kennt.
Man schaut noch eine Weile auf das blaue Meer, dann wendet sich der Zug
landeinwärts, grüne Wiesen und prächtige Holzungen, in der feuchten Meer-


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[0516] Die Kunst in England Bekannt ist z. B. — trotz Flaxmcm und den neuesten Versuchen — das Fehlen einer englischen Plastik. Es mangeln ihr weder zahlreiche noch würdige Aufgaben. Wenn man die Kathedralen und die öffentlichen Plätze Londons durchwandert, beneidet man die Bildhauer um die thätige Teilnahme, die sie überall finden. Aber so viele Nelson, Peel und Wellington in Erz und Marmor uns begegnen, ein befriedigendes Werk trifft man nur selten an, wenn man nicht als Sportsman mit der getreuen Wiedergabe der Rassen- Pferde und dem tadellosen Sitz der Reiter vorlieb nimmt. Noch weniger Lor¬ beeren hat die englische Phantasie auf dem Gebiete der Jdealplaftik errungen. Hier hat offenbar pietistische Prüderie um vollen Erfassen gesunder Formen¬ schönheit gehindert. Denn ist es die vollsaftige, naive Sinnlichkeit des Pariser Lebens, die dort die Plastik so'groß gemacht hat, so konnte sie natürlich in einem Lande nicht gedeihen, wo ein Stuhlbein 8kipp1imZ ist, und die Sinnlich¬ keit nach den Enthüllungen der Nil.11 (Z^vt-es sich zuweilen in mehr absonderlichen als naiven Formen äußert. Ebenso wird niemand, der nach England fährt, sich dort ernstlich mit moderner Architektur beschäftigen. Zwar brauchen die englischen Architekten im verständnisvollen Reprvdnziren alter Bauweisen keinen Vergleich zu scheuen. Wie die zahllosen modernen Kirchen und die Riesenbauten der Parlamentshäuser zeigen, hat mau sich mit großem Erfolg bestrebt, namentlich den nltheimischen Stil der Gothik wieder zu Ehren zu bringen. Aber an öffentlichen Bauwerken, in denen der moderne Baugeist seine eigne Sprache redet, steht London hinter Paris und selbst hinter Berlin zurück. Dennoch siud auf einigen Gebieten der Kunstthätigkeit den Engländern wichtige Anregungen zu danken, obwohl sich ihr Einfluß gewöhnlich nicht unmittelbar, sondern durch zufällige Vermittlung der Franzosen geltend machte. Denn der Kanal bildet eben auch in künstlerischer Hinsicht eine Trennungs- linie zwischen den britischen Inseln und dem Festlande. Die englische Kunst entwickelte sich ausschließlich ans den: heimatlichen Boden, meist unbekümmert um die künstlerischen Strömungen im übrigen Europa; sie fand jederzeit ihr Publikum bei sich zu Hause, und der Markt des Kontinents war ihr gleich- giltig. Um sie würdigen zu können, muß man sie also an der Quelle studiren. Ich kam nach London zuletzt im vorigen Herbst, nachdem ich die Freuden und Leiden der Pariser Ausstellung durchgekostet hatte. Von Paris nach Calais, von Calais nach Dover, und der Boden Englands ist erreicht. Welcher Gegensatz gegen Frankreich! All Stelle der französischen Waggons, die viel zu wünschen übrig lassen, nehmen uns Eisenbahnwagen von der bequemsten Einrichtung aus, wie mau sie in Deutschland nur beim Orientexpreßzug kennt. Man schaut noch eine Weile auf das blaue Meer, dann wendet sich der Zug landeinwärts, grüne Wiesen und prächtige Holzungen, in der feuchten Meer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/516>, abgerufen am 29.06.2024.