Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Die Annst in England ersten Ranges in sich birgt und namentlich für das Studium der antiken Kunst Gegenüber dieser Sammlerthätigkeit, in der die Engländer unerreicht sind, Die Annst in England ersten Ranges in sich birgt und namentlich für das Studium der antiken Kunst Gegenüber dieser Sammlerthätigkeit, in der die Engländer unerreicht sind, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0515" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208452"/> <fw type="header" place="top"> Die Annst in England</fw><lb/> <p xml:id="ID_1604" prev="#ID_1603"> ersten Ranges in sich birgt und namentlich für das Studium der antiken Kunst<lb/> allmählich viel wichtiger als die Sammlungen des Vatikans geworden ist.<lb/> Die Vollständigkeit und Bequemlichkeit der Bibliothek ist staunenswert. Als<lb/> ich mich dein Oberbibliothekar vorstellte, um die Erlaubnis für die Benutzung<lb/> zu erhalten, prüfte er zur Kontrolle meines Namens den Katalog, und ich<lb/> fand auf der Äste alles angegeben, was ich jemals veröffentlicht hatte. Der<lb/> Arbeitsraum ist ein pantheonartiger Saal, in der Mitte thront an erhöhtem<lb/> Pult der aufsichtführende Beamte, ringsum sitzen die Sekretäre; dann kommen<lb/> im Kreise, durch Gänge geschieden, die Plätze der Arbeitenden. Jeder hat<lb/> seinen Sessel, seinen eignen breiten Tisch mit mechanischer Vorrichtung zum<lb/> Aufstellen der Bücher, die Wände füllt die Handbibliothek von zweitausend<lb/> Bänden, die jedem zur Benutzung freisteht. Es wird kein Wort gesprochen,<lb/> nur die Diener gehen umher, um Bestellzettel für Bücher in Empfang zu<lb/> nehmen, die dann binnen zehn Minnten auf kleinen ledergepolsterten Wägelchen<lb/> anrollen. Die Bibliothek ist gleich den andern Sammlungen Sommer lind<lb/> Winter bis abends nenn oder zehn Uhr geöffnet. Mau geht vou der Ansicht<lb/> ans, daß alle diese Institute den Zweck haben, vom Publikum benutzt zu werden,<lb/> nicht brach zu liegen, wie es in manche» Städten Süddeutschlands noch immer<lb/> der Fall ist, wo man während des Winterhalbjahrs die Kunstsammlungen<lb/> nnr im Pelz und unter der Gefahr sich mehrwochentlichen Schnupfen zu holen<lb/> betreten kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1605"> Gegenüber dieser Sammlerthätigkeit, in der die Engländer unerreicht sind,<lb/> steht nun freilich das, was sie selbständig auf dem Gebiete der Kunst geleistet<lb/> haben, entschieden zurück. Man würde Mühe haben, eine englische Kunst¬<lb/> geschichte nach Art unsrer Kompendien zu schreiben. In der Blütezeit des<lb/> Mittelalters, zur Zeit des romanischen und des gothischen Stils, war die<lb/> englische Kunst nie frei von bizarren Formen, charakteristisch, aber unschön.<lb/> Die Renaissancebewegung hat nie festen Fuß gefaßt, sie war mehr von außen<lb/> impvrtirt. Man begnügte sich, die Holbein und van Dhck als Gäste einzu¬<lb/> laden und fremde Meisterwerke in Galerien zu sammeln. Unter allen euro¬<lb/> päischen Nationen sind die Engländer am spätesten in die Kunstgeschichte<lb/> eingetreten. Ihre Kunst hat keine selbständige Vergangenheit gehabt, sich nicht<lb/> allmählich ans ungeschickter«, naivem Ansängen zu virtuoser» Leistungen ent¬<lb/> wickelt, sondern sie sprang im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts mit einer<lb/> gewissen überreifen Plötzlichkeit in die Höhe. Als sie begann, mußte sie sich<lb/> ausschließlich auf ihre eigne Kraft verlassen, konnte sich an keine Überlieferung<lb/> anlehnen, keinem bereits allsgebildeten Kunstkreise einordnen. Es war ihr nicht<lb/> beschieden, aus eignen Keimen zu wachsen und zu reifen, es kam nie zu jener<lb/> Schulüberlieferung, die den Künstler trägt und hält, daher auch nie zu einer<lb/> wirklich großen Kunst, und es hat den Anschein, als ob für einzelne Zweige<lb/> dem Engländer überhaupt die Begabung abginge.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0515]
Die Annst in England
ersten Ranges in sich birgt und namentlich für das Studium der antiken Kunst
allmählich viel wichtiger als die Sammlungen des Vatikans geworden ist.
Die Vollständigkeit und Bequemlichkeit der Bibliothek ist staunenswert. Als
ich mich dein Oberbibliothekar vorstellte, um die Erlaubnis für die Benutzung
zu erhalten, prüfte er zur Kontrolle meines Namens den Katalog, und ich
fand auf der Äste alles angegeben, was ich jemals veröffentlicht hatte. Der
Arbeitsraum ist ein pantheonartiger Saal, in der Mitte thront an erhöhtem
Pult der aufsichtführende Beamte, ringsum sitzen die Sekretäre; dann kommen
im Kreise, durch Gänge geschieden, die Plätze der Arbeitenden. Jeder hat
seinen Sessel, seinen eignen breiten Tisch mit mechanischer Vorrichtung zum
Aufstellen der Bücher, die Wände füllt die Handbibliothek von zweitausend
Bänden, die jedem zur Benutzung freisteht. Es wird kein Wort gesprochen,
nur die Diener gehen umher, um Bestellzettel für Bücher in Empfang zu
nehmen, die dann binnen zehn Minnten auf kleinen ledergepolsterten Wägelchen
anrollen. Die Bibliothek ist gleich den andern Sammlungen Sommer lind
Winter bis abends nenn oder zehn Uhr geöffnet. Mau geht vou der Ansicht
ans, daß alle diese Institute den Zweck haben, vom Publikum benutzt zu werden,
nicht brach zu liegen, wie es in manche» Städten Süddeutschlands noch immer
der Fall ist, wo man während des Winterhalbjahrs die Kunstsammlungen
nnr im Pelz und unter der Gefahr sich mehrwochentlichen Schnupfen zu holen
betreten kann.
Gegenüber dieser Sammlerthätigkeit, in der die Engländer unerreicht sind,
steht nun freilich das, was sie selbständig auf dem Gebiete der Kunst geleistet
haben, entschieden zurück. Man würde Mühe haben, eine englische Kunst¬
geschichte nach Art unsrer Kompendien zu schreiben. In der Blütezeit des
Mittelalters, zur Zeit des romanischen und des gothischen Stils, war die
englische Kunst nie frei von bizarren Formen, charakteristisch, aber unschön.
Die Renaissancebewegung hat nie festen Fuß gefaßt, sie war mehr von außen
impvrtirt. Man begnügte sich, die Holbein und van Dhck als Gäste einzu¬
laden und fremde Meisterwerke in Galerien zu sammeln. Unter allen euro¬
päischen Nationen sind die Engländer am spätesten in die Kunstgeschichte
eingetreten. Ihre Kunst hat keine selbständige Vergangenheit gehabt, sich nicht
allmählich ans ungeschickter«, naivem Ansängen zu virtuoser» Leistungen ent¬
wickelt, sondern sie sprang im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts mit einer
gewissen überreifen Plötzlichkeit in die Höhe. Als sie begann, mußte sie sich
ausschließlich auf ihre eigne Kraft verlassen, konnte sich an keine Überlieferung
anlehnen, keinem bereits allsgebildeten Kunstkreise einordnen. Es war ihr nicht
beschieden, aus eignen Keimen zu wachsen und zu reifen, es kam nie zu jener
Schulüberlieferung, die den Künstler trägt und hält, daher auch nie zu einer
wirklich großen Kunst, und es hat den Anschein, als ob für einzelne Zweige
dem Engländer überhaupt die Begabung abginge.
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