Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

und Pflichten entspringen. Er erwartet auch nicht, daß alle Lehrer im Reiche
dasselbe Ideal aufstellen, denselben oder dieselben Helden preisen, und daß alle
Jünglinge genan demselben sittlichen Ziele zustreben werden; die Mauuich-
fnltigkeit und die Widersprüche der sittlichen Erscheinungen betrüben ihn nicht,
noch machen sie ihn irre, vielmehr rechnet er sie zur Vollkommenheit der Welt.

Er wird gleich allen gutgesinnten Mitbürgern im öffentlichen Leben an
der Beseitigung der Hindernisse der Sittlichkeit arbeiten; aber mit der klaren
Erkenntnis, daß an Stelle der beseitigten alten immer wieder neue Hindernisse
treten werden und müssen. Denn eben an dem Hindernisse bewährt sich die
Kraft; der Schwimmer, der fliegende Vogel, die Lokomotive könnten sich nicht
fortbewegen, wenn das Wasser, die Luft und die Reibung der Schiene uicht
Widerstand leisteten und dadurch stützten.

Er wird mit der Mehrheit der Menschen aller Zeiten die angemessene
Bestrafung der Verbrecher fordern, ohne der Einbildung zu verfallen, daß durch
die Strafrechtspflege die Sittlichkeit gefördert oder vermehrt werde, Uuter den
drei Zwecken der Strafjustiz steht der zu oberst, der mit der Sittlichkeit am
wenigsten zu schaffen hat: Schutz der Bürger nach Beseitigung der Selbsthilfe.
Als Vertreter Gottes in der Belohnung der Guten und der Bestrafung der
Bösen wird sich der einsichtige Richter sehr klein und unvollkommen vorkommen,
selbst wenn er sich dnrch die Ordenskvm Mission ergänzt, und daß die Verbrecher
in den Händen der Justiz durchschnittlich schlechter und nicht besser werden,
darüber ist alle Welt einig. Die Strafrechtspflege dient nur insofern dem
sittlichen Fortschritt, als sie zu den Mitteln gehört, durch die manche Hinder¬
nisse der Sittlichkeit beseitigt, z. B. Jugeudverführer unschädlich gemacht werden.
Um das gewerbsmäßige Verbrechertum loszuwerden, müßten wir in der Kultur
nicht vorwärts, sondern znrückschreiten, zu einfacheren Verhältnissen zurück¬
kehren; denn es ist eine Frucht unsrer verwickelten Verhältnisse, des gro߬
städtischen Lebens und des Widerspruchs, daß die höhere Zivilisation vieles
verbietet, was der Naturzustand gestattet, während sie gleichzeitig die Erfüllung
ihrer hochgespannter Anforderungen vielen bis zur Unmöglichkeit schwierig
macht; z. B. durch Erschwerung des Erwerbes und der Verehelichung. Auch
die Obdachlosigkeit bestraft unsre Zeit als ein Vergehen, treibt aber gleichzeitig
die Kosten für die Wohnungen ins Unerschwingliche in die Höhe. Unsre
Landsleute in Ostafrika haben Gelegenheit, Zustände zu studiren, in denen es
kein gewerbsmäßiges Verbrechertum giebt. Die erstiegene Kulturhöhe zu be¬
haupten und die Gesellschaft trotzdem vom Verbrechertum zu reinigen, das ist
ja gewiß ein erhabenes, aller Anstrengung der Edeln würdiges Ziel. Leider
ist bisher weit häufiger der entgegengesetzte Erfolg erreicht worden: man hat viele
Naturvölker mit einem ganz gelungner Verbrechertum nach europäischem Muster
beschenkt, während die europäische Kultur, mit der man sie beglücken wollte,
gewöhnlich ein Zerrbild blieb.


Greuzvvteu III 1890 Mi
Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

und Pflichten entspringen. Er erwartet auch nicht, daß alle Lehrer im Reiche
dasselbe Ideal aufstellen, denselben oder dieselben Helden preisen, und daß alle
Jünglinge genan demselben sittlichen Ziele zustreben werden; die Mauuich-
fnltigkeit und die Widersprüche der sittlichen Erscheinungen betrüben ihn nicht,
noch machen sie ihn irre, vielmehr rechnet er sie zur Vollkommenheit der Welt.

Er wird gleich allen gutgesinnten Mitbürgern im öffentlichen Leben an
der Beseitigung der Hindernisse der Sittlichkeit arbeiten; aber mit der klaren
Erkenntnis, daß an Stelle der beseitigten alten immer wieder neue Hindernisse
treten werden und müssen. Denn eben an dem Hindernisse bewährt sich die
Kraft; der Schwimmer, der fliegende Vogel, die Lokomotive könnten sich nicht
fortbewegen, wenn das Wasser, die Luft und die Reibung der Schiene uicht
Widerstand leisteten und dadurch stützten.

Er wird mit der Mehrheit der Menschen aller Zeiten die angemessene
Bestrafung der Verbrecher fordern, ohne der Einbildung zu verfallen, daß durch
die Strafrechtspflege die Sittlichkeit gefördert oder vermehrt werde, Uuter den
drei Zwecken der Strafjustiz steht der zu oberst, der mit der Sittlichkeit am
wenigsten zu schaffen hat: Schutz der Bürger nach Beseitigung der Selbsthilfe.
Als Vertreter Gottes in der Belohnung der Guten und der Bestrafung der
Bösen wird sich der einsichtige Richter sehr klein und unvollkommen vorkommen,
selbst wenn er sich dnrch die Ordenskvm Mission ergänzt, und daß die Verbrecher
in den Händen der Justiz durchschnittlich schlechter und nicht besser werden,
darüber ist alle Welt einig. Die Strafrechtspflege dient nur insofern dem
sittlichen Fortschritt, als sie zu den Mitteln gehört, durch die manche Hinder¬
nisse der Sittlichkeit beseitigt, z. B. Jugeudverführer unschädlich gemacht werden.
Um das gewerbsmäßige Verbrechertum loszuwerden, müßten wir in der Kultur
nicht vorwärts, sondern znrückschreiten, zu einfacheren Verhältnissen zurück¬
kehren; denn es ist eine Frucht unsrer verwickelten Verhältnisse, des gro߬
städtischen Lebens und des Widerspruchs, daß die höhere Zivilisation vieles
verbietet, was der Naturzustand gestattet, während sie gleichzeitig die Erfüllung
ihrer hochgespannter Anforderungen vielen bis zur Unmöglichkeit schwierig
macht; z. B. durch Erschwerung des Erwerbes und der Verehelichung. Auch
die Obdachlosigkeit bestraft unsre Zeit als ein Vergehen, treibt aber gleichzeitig
die Kosten für die Wohnungen ins Unerschwingliche in die Höhe. Unsre
Landsleute in Ostafrika haben Gelegenheit, Zustände zu studiren, in denen es
kein gewerbsmäßiges Verbrechertum giebt. Die erstiegene Kulturhöhe zu be¬
haupten und die Gesellschaft trotzdem vom Verbrechertum zu reinigen, das ist
ja gewiß ein erhabenes, aller Anstrengung der Edeln würdiges Ziel. Leider
ist bisher weit häufiger der entgegengesetzte Erfolg erreicht worden: man hat viele
Naturvölker mit einem ganz gelungner Verbrechertum nach europäischem Muster
beschenkt, während die europäische Kultur, mit der man sie beglücken wollte,
gewöhnlich ein Zerrbild blieb.


Greuzvvteu III 1890 Mi
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208442"/>
          <fw type="header" place="top"> Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1568" prev="#ID_1567"> und Pflichten entspringen. Er erwartet auch nicht, daß alle Lehrer im Reiche<lb/>
dasselbe Ideal aufstellen, denselben oder dieselben Helden preisen, und daß alle<lb/>
Jünglinge genan demselben sittlichen Ziele zustreben werden; die Mauuich-<lb/>
fnltigkeit und die Widersprüche der sittlichen Erscheinungen betrüben ihn nicht,<lb/>
noch machen sie ihn irre, vielmehr rechnet er sie zur Vollkommenheit der Welt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1569"> Er wird gleich allen gutgesinnten Mitbürgern im öffentlichen Leben an<lb/>
der Beseitigung der Hindernisse der Sittlichkeit arbeiten; aber mit der klaren<lb/>
Erkenntnis, daß an Stelle der beseitigten alten immer wieder neue Hindernisse<lb/>
treten werden und müssen. Denn eben an dem Hindernisse bewährt sich die<lb/>
Kraft; der Schwimmer, der fliegende Vogel, die Lokomotive könnten sich nicht<lb/>
fortbewegen, wenn das Wasser, die Luft und die Reibung der Schiene uicht<lb/>
Widerstand leisteten und dadurch stützten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1570"> Er wird mit der Mehrheit der Menschen aller Zeiten die angemessene<lb/>
Bestrafung der Verbrecher fordern, ohne der Einbildung zu verfallen, daß durch<lb/>
die Strafrechtspflege die Sittlichkeit gefördert oder vermehrt werde, Uuter den<lb/>
drei Zwecken der Strafjustiz steht der zu oberst, der mit der Sittlichkeit am<lb/>
wenigsten zu schaffen hat: Schutz der Bürger nach Beseitigung der Selbsthilfe.<lb/>
Als Vertreter Gottes in der Belohnung der Guten und der Bestrafung der<lb/>
Bösen wird sich der einsichtige Richter sehr klein und unvollkommen vorkommen,<lb/>
selbst wenn er sich dnrch die Ordenskvm Mission ergänzt, und daß die Verbrecher<lb/>
in den Händen der Justiz durchschnittlich schlechter und nicht besser werden,<lb/>
darüber ist alle Welt einig. Die Strafrechtspflege dient nur insofern dem<lb/>
sittlichen Fortschritt, als sie zu den Mitteln gehört, durch die manche Hinder¬<lb/>
nisse der Sittlichkeit beseitigt, z. B. Jugeudverführer unschädlich gemacht werden.<lb/>
Um das gewerbsmäßige Verbrechertum loszuwerden, müßten wir in der Kultur<lb/>
nicht vorwärts, sondern znrückschreiten, zu einfacheren Verhältnissen zurück¬<lb/>
kehren; denn es ist eine Frucht unsrer verwickelten Verhältnisse, des gro߬<lb/>
städtischen Lebens und des Widerspruchs, daß die höhere Zivilisation vieles<lb/>
verbietet, was der Naturzustand gestattet, während sie gleichzeitig die Erfüllung<lb/>
ihrer hochgespannter Anforderungen vielen bis zur Unmöglichkeit schwierig<lb/>
macht; z. B. durch Erschwerung des Erwerbes und der Verehelichung. Auch<lb/>
die Obdachlosigkeit bestraft unsre Zeit als ein Vergehen, treibt aber gleichzeitig<lb/>
die Kosten für die Wohnungen ins Unerschwingliche in die Höhe. Unsre<lb/>
Landsleute in Ostafrika haben Gelegenheit, Zustände zu studiren, in denen es<lb/>
kein gewerbsmäßiges Verbrechertum giebt. Die erstiegene Kulturhöhe zu be¬<lb/>
haupten und die Gesellschaft trotzdem vom Verbrechertum zu reinigen, das ist<lb/>
ja gewiß ein erhabenes, aller Anstrengung der Edeln würdiges Ziel. Leider<lb/>
ist bisher weit häufiger der entgegengesetzte Erfolg erreicht worden: man hat viele<lb/>
Naturvölker mit einem ganz gelungner Verbrechertum nach europäischem Muster<lb/>
beschenkt, während die europäische Kultur, mit der man sie beglücken wollte,<lb/>
gewöhnlich ein Zerrbild blieb.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Greuzvvteu III 1890 Mi</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0505] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? und Pflichten entspringen. Er erwartet auch nicht, daß alle Lehrer im Reiche dasselbe Ideal aufstellen, denselben oder dieselben Helden preisen, und daß alle Jünglinge genan demselben sittlichen Ziele zustreben werden; die Mauuich- fnltigkeit und die Widersprüche der sittlichen Erscheinungen betrüben ihn nicht, noch machen sie ihn irre, vielmehr rechnet er sie zur Vollkommenheit der Welt. Er wird gleich allen gutgesinnten Mitbürgern im öffentlichen Leben an der Beseitigung der Hindernisse der Sittlichkeit arbeiten; aber mit der klaren Erkenntnis, daß an Stelle der beseitigten alten immer wieder neue Hindernisse treten werden und müssen. Denn eben an dem Hindernisse bewährt sich die Kraft; der Schwimmer, der fliegende Vogel, die Lokomotive könnten sich nicht fortbewegen, wenn das Wasser, die Luft und die Reibung der Schiene uicht Widerstand leisteten und dadurch stützten. Er wird mit der Mehrheit der Menschen aller Zeiten die angemessene Bestrafung der Verbrecher fordern, ohne der Einbildung zu verfallen, daß durch die Strafrechtspflege die Sittlichkeit gefördert oder vermehrt werde, Uuter den drei Zwecken der Strafjustiz steht der zu oberst, der mit der Sittlichkeit am wenigsten zu schaffen hat: Schutz der Bürger nach Beseitigung der Selbsthilfe. Als Vertreter Gottes in der Belohnung der Guten und der Bestrafung der Bösen wird sich der einsichtige Richter sehr klein und unvollkommen vorkommen, selbst wenn er sich dnrch die Ordenskvm Mission ergänzt, und daß die Verbrecher in den Händen der Justiz durchschnittlich schlechter und nicht besser werden, darüber ist alle Welt einig. Die Strafrechtspflege dient nur insofern dem sittlichen Fortschritt, als sie zu den Mitteln gehört, durch die manche Hinder¬ nisse der Sittlichkeit beseitigt, z. B. Jugeudverführer unschädlich gemacht werden. Um das gewerbsmäßige Verbrechertum loszuwerden, müßten wir in der Kultur nicht vorwärts, sondern znrückschreiten, zu einfacheren Verhältnissen zurück¬ kehren; denn es ist eine Frucht unsrer verwickelten Verhältnisse, des gro߬ städtischen Lebens und des Widerspruchs, daß die höhere Zivilisation vieles verbietet, was der Naturzustand gestattet, während sie gleichzeitig die Erfüllung ihrer hochgespannter Anforderungen vielen bis zur Unmöglichkeit schwierig macht; z. B. durch Erschwerung des Erwerbes und der Verehelichung. Auch die Obdachlosigkeit bestraft unsre Zeit als ein Vergehen, treibt aber gleichzeitig die Kosten für die Wohnungen ins Unerschwingliche in die Höhe. Unsre Landsleute in Ostafrika haben Gelegenheit, Zustände zu studiren, in denen es kein gewerbsmäßiges Verbrechertum giebt. Die erstiegene Kulturhöhe zu be¬ haupten und die Gesellschaft trotzdem vom Verbrechertum zu reinigen, das ist ja gewiß ein erhabenes, aller Anstrengung der Edeln würdiges Ziel. Leider ist bisher weit häufiger der entgegengesetzte Erfolg erreicht worden: man hat viele Naturvölker mit einem ganz gelungner Verbrechertum nach europäischem Muster beschenkt, während die europäische Kultur, mit der man sie beglücken wollte, gewöhnlich ein Zerrbild blieb. Greuzvvteu III 1890 Mi

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/505
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/505>, abgerufen am 25.07.2024.