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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

wie die Einheit der Körperwelt durch die Vielheit der Arten von Geschöpfen.
Wäre eine Welt moralischer Musterknaben, die alle genau nach derselben sitt¬
lichen Schablone zugeschnitten wären und nur noch an der Nummer von einander
unterschieden werden könnten (denn die sittliche Gleichheit samt der Gleichheit
der Erkenntnis und Lebensweise würde auch die Körper und Gesichter gleich
machen), wäre sie nicht ebenso entsetzlich als lächerlich und das Ende aller
Kultur? Nicht in der Uniformitüt, sondern in der Leitung der verschiednen
Wesen durch den einen Gott besteht die Einheit der Welt. Oder die logische
Einheit? Die geht durch die Anerkennung der sittlichen Ideen so wenig ver¬
loren wie durch die Anerkennung der sieben Farben, lind wenn man sagt,
daß es doch der eine Lichtstrahl sei, der sich in sieben Farben breche, so ist
das zwar nicht ganz richtig, denn es sind Wellen von verschiedner Länge und
Schnelligkeit, die das violette und die das rote Licht geben, und das weiße
Licht geht nicht sowohl in sieben Farben aus einander, als es vielmehr aus
ihnen zusammengesetzt ist; doch wir lassen den alten Vergleich gelten und be¬
rufen uns auf das entsprechende alte Bild von dem einen Gott, dessen Herr¬
lichkeit durch die Brechung und Spiegelung in Millionen verschiedner Geschöpfe
in die Erscheinung tritt. Soll das nicht anch von der Sittlichkeit gelten?
Warum wird gerade hier die lebentötende Einerleiheit als Ideal aufgestellt?
Was wäre für Gott und was wäre für uns Menschen gewonnen, wenn wir
statt tausend Millionen guter, schlechter und gemischter Menschen von ver-
schiednen Spielarten ebenso viele gute Menschen vom gleichen sittlichen Typus
und von derselben sittlichen Willenskraft hätten, die doch nur tausend Millionen
Exemplare einer Auflage, tausend Millionen Wiederholungen eines und des¬
selben Menschen wären? Und was würde diesem tausendmillionfachen Mnster-
menschen seine sittliche Kraft nützen, da ihm seine Ebenbilder keine Gelegenheit
darbieten würden, sie zu bewähren? Das wäre jene gute Gesellschaft, die
keinen Stoff liefert auch für das kleinste Gedicht, geschweige denn für ein Drama
oder eilten Prozeß oder eine Kammerverhandluug, in höchster Vollendung!

Und was ist mit unsrer Auffassung gewonnen? Fürs Allgemeine viel¬
leicht gar nichts; für deu aber, der ihr beipflichtet, dieses eine, daß er weder
durch neue Theorien noch durch die Widersprüche des Lebens an der un¬
wandelbaren Geltung der sittliche" Grundsätze irre gemacht werden kann. Die
Verachtung aller Philosophen ist ihm freilich gewiß, denn diese Herren lassen
anch die Sonne am Himmel nicht gelten, wenn sie ihre Daseinsberechtigung
nicht durch die Ableitung aus einem "Prinzip" beweisen kaun.

Der Anhänger dieser Ansicht wünscht mit der Mehrzahl seiner Mitbürger,
daß die sittliche Kraft der Jugend gestärkt und ihre Brust mit der Liebe zu
Idealen erfüllt werde. Aber er erwartet nicht, daß die sittliche Kraft hin¬
reichen werde, gleichzeitig Entgegengesetztes zu vollbringen und die Gewissens¬
konflikte ans der Welt zu schaffen, die aus der Vielheit der Ideen, Grundsätze


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

wie die Einheit der Körperwelt durch die Vielheit der Arten von Geschöpfen.
Wäre eine Welt moralischer Musterknaben, die alle genau nach derselben sitt¬
lichen Schablone zugeschnitten wären und nur noch an der Nummer von einander
unterschieden werden könnten (denn die sittliche Gleichheit samt der Gleichheit
der Erkenntnis und Lebensweise würde auch die Körper und Gesichter gleich
machen), wäre sie nicht ebenso entsetzlich als lächerlich und das Ende aller
Kultur? Nicht in der Uniformitüt, sondern in der Leitung der verschiednen
Wesen durch den einen Gott besteht die Einheit der Welt. Oder die logische
Einheit? Die geht durch die Anerkennung der sittlichen Ideen so wenig ver¬
loren wie durch die Anerkennung der sieben Farben, lind wenn man sagt,
daß es doch der eine Lichtstrahl sei, der sich in sieben Farben breche, so ist
das zwar nicht ganz richtig, denn es sind Wellen von verschiedner Länge und
Schnelligkeit, die das violette und die das rote Licht geben, und das weiße
Licht geht nicht sowohl in sieben Farben aus einander, als es vielmehr aus
ihnen zusammengesetzt ist; doch wir lassen den alten Vergleich gelten und be¬
rufen uns auf das entsprechende alte Bild von dem einen Gott, dessen Herr¬
lichkeit durch die Brechung und Spiegelung in Millionen verschiedner Geschöpfe
in die Erscheinung tritt. Soll das nicht anch von der Sittlichkeit gelten?
Warum wird gerade hier die lebentötende Einerleiheit als Ideal aufgestellt?
Was wäre für Gott und was wäre für uns Menschen gewonnen, wenn wir
statt tausend Millionen guter, schlechter und gemischter Menschen von ver-
schiednen Spielarten ebenso viele gute Menschen vom gleichen sittlichen Typus
und von derselben sittlichen Willenskraft hätten, die doch nur tausend Millionen
Exemplare einer Auflage, tausend Millionen Wiederholungen eines und des¬
selben Menschen wären? Und was würde diesem tausendmillionfachen Mnster-
menschen seine sittliche Kraft nützen, da ihm seine Ebenbilder keine Gelegenheit
darbieten würden, sie zu bewähren? Das wäre jene gute Gesellschaft, die
keinen Stoff liefert auch für das kleinste Gedicht, geschweige denn für ein Drama
oder eilten Prozeß oder eine Kammerverhandluug, in höchster Vollendung!

Und was ist mit unsrer Auffassung gewonnen? Fürs Allgemeine viel¬
leicht gar nichts; für deu aber, der ihr beipflichtet, dieses eine, daß er weder
durch neue Theorien noch durch die Widersprüche des Lebens an der un¬
wandelbaren Geltung der sittliche» Grundsätze irre gemacht werden kann. Die
Verachtung aller Philosophen ist ihm freilich gewiß, denn diese Herren lassen
anch die Sonne am Himmel nicht gelten, wenn sie ihre Daseinsberechtigung
nicht durch die Ableitung aus einem „Prinzip" beweisen kaun.

Der Anhänger dieser Ansicht wünscht mit der Mehrzahl seiner Mitbürger,
daß die sittliche Kraft der Jugend gestärkt und ihre Brust mit der Liebe zu
Idealen erfüllt werde. Aber er erwartet nicht, daß die sittliche Kraft hin¬
reichen werde, gleichzeitig Entgegengesetztes zu vollbringen und die Gewissens¬
konflikte ans der Welt zu schaffen, die aus der Vielheit der Ideen, Grundsätze


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[0504] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? wie die Einheit der Körperwelt durch die Vielheit der Arten von Geschöpfen. Wäre eine Welt moralischer Musterknaben, die alle genau nach derselben sitt¬ lichen Schablone zugeschnitten wären und nur noch an der Nummer von einander unterschieden werden könnten (denn die sittliche Gleichheit samt der Gleichheit der Erkenntnis und Lebensweise würde auch die Körper und Gesichter gleich machen), wäre sie nicht ebenso entsetzlich als lächerlich und das Ende aller Kultur? Nicht in der Uniformitüt, sondern in der Leitung der verschiednen Wesen durch den einen Gott besteht die Einheit der Welt. Oder die logische Einheit? Die geht durch die Anerkennung der sittlichen Ideen so wenig ver¬ loren wie durch die Anerkennung der sieben Farben, lind wenn man sagt, daß es doch der eine Lichtstrahl sei, der sich in sieben Farben breche, so ist das zwar nicht ganz richtig, denn es sind Wellen von verschiedner Länge und Schnelligkeit, die das violette und die das rote Licht geben, und das weiße Licht geht nicht sowohl in sieben Farben aus einander, als es vielmehr aus ihnen zusammengesetzt ist; doch wir lassen den alten Vergleich gelten und be¬ rufen uns auf das entsprechende alte Bild von dem einen Gott, dessen Herr¬ lichkeit durch die Brechung und Spiegelung in Millionen verschiedner Geschöpfe in die Erscheinung tritt. Soll das nicht anch von der Sittlichkeit gelten? Warum wird gerade hier die lebentötende Einerleiheit als Ideal aufgestellt? Was wäre für Gott und was wäre für uns Menschen gewonnen, wenn wir statt tausend Millionen guter, schlechter und gemischter Menschen von ver- schiednen Spielarten ebenso viele gute Menschen vom gleichen sittlichen Typus und von derselben sittlichen Willenskraft hätten, die doch nur tausend Millionen Exemplare einer Auflage, tausend Millionen Wiederholungen eines und des¬ selben Menschen wären? Und was würde diesem tausendmillionfachen Mnster- menschen seine sittliche Kraft nützen, da ihm seine Ebenbilder keine Gelegenheit darbieten würden, sie zu bewähren? Das wäre jene gute Gesellschaft, die keinen Stoff liefert auch für das kleinste Gedicht, geschweige denn für ein Drama oder eilten Prozeß oder eine Kammerverhandluug, in höchster Vollendung! Und was ist mit unsrer Auffassung gewonnen? Fürs Allgemeine viel¬ leicht gar nichts; für deu aber, der ihr beipflichtet, dieses eine, daß er weder durch neue Theorien noch durch die Widersprüche des Lebens an der un¬ wandelbaren Geltung der sittliche» Grundsätze irre gemacht werden kann. Die Verachtung aller Philosophen ist ihm freilich gewiß, denn diese Herren lassen anch die Sonne am Himmel nicht gelten, wenn sie ihre Daseinsberechtigung nicht durch die Ableitung aus einem „Prinzip" beweisen kaun. Der Anhänger dieser Ansicht wünscht mit der Mehrzahl seiner Mitbürger, daß die sittliche Kraft der Jugend gestärkt und ihre Brust mit der Liebe zu Idealen erfüllt werde. Aber er erwartet nicht, daß die sittliche Kraft hin¬ reichen werde, gleichzeitig Entgegengesetztes zu vollbringen und die Gewissens¬ konflikte ans der Welt zu schaffen, die aus der Vielheit der Ideen, Grundsätze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/504>, abgerufen am 29.06.2024.