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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

die Verschiedenheit der sittlichen Typen nicht zum Zerfall der Gesellschaft führt,
wird von außen durch Volkssitte, öffentliche Meinung und Gesetz gezogen.
Wie der Künstler, wenn er das Charakteristische, Individuelle darstellt, durch
die Schönheitslinie gebunden wird, mit deren Durchbrechung er in die Karri-
katur geraten würde, so erwachst aus dem Zusammenwirken der sittlichen Ideen
mit den Rücksichten des Gemeinwohls ein Schutzwall von Einrichtungen und
herrschenden Meinungen, auch Vorurteilen, der sich nicht leicht durchbrechen
läßt, den aber der Einzelne zu durchbrechen hat, wenn er sich in einseitiger Hin¬
gebung an eine einzelne Idee zur offenbaren Thorheit oder zum Verbrechen verirrt.

Die Antwort auf unsre Frage lautet also: Es giebt keinen sittlichen Fort¬
schritt im Sinne Darwins, der darin bestehen würde, daß sich die Menschen
allmählich in andre Wesen mit andern sittlichen Grundsätzen verwandelten.
Ein Fortschritt im Sinne Hegels, die allmähliche Durchsetzung allgemeiner
Sittlichkeit im Staate, ist wenigstens schwer denkbar, weil bei aller Überein¬
stimmung im allgemeinen doch die Meinungen über das, was gut sei, im
einzelnen stets auseinander gehen und bei der Vielheit sittlicher Ideen notwendig
auseinander gehen müssen; wäre das Ziel dieses Fortschritts erreicht, so wäre
damit die Sittlichkeit aufgehoben. Eine Verminderung des Bösen im Ver¬
hältnis der Masse des vorhandnen Guten ist historisch nicht nachweisbar,
scheint auch nicht möglich zu sein, da Gut und Böse zu jenen polaren Gegen-
sätzen gehören, die sich gegenseitig hervorrufen und ohne einander nicht denkbar
find; daher deun der fortschreitenden Verzweigung und Verfeinerung des Guten
eine eben solche Verzweigung und Verfeinerung des Bösen das Gleichgewicht
zu halten pflegt.

Allein trotz dieser gleichzeitigen Fortschritte des Bösen muß die Ver¬
zweigung und Verfeinerung des Guten doch als ein Fortschritt bezeichnet
werden; der Fortschritt besteht im Sittlichen wie in den übrigen Gebieten des
Kulturlebetts in: wachsende" Reichtum der Erscheinungen. Außerdem darf noch
in zweifacher Beziehung von Fortschritt gesprochen werden. Erstens ist es
Pflicht jedes einzelnen Menschen, sittlich fortzuschreiten; zweitens hat jede Zeit
für sich jene Hindernisse wegzuräumen, die der Entfaltung der Sittlichkeit im
Wege stehen, unbekümmert darum, daß sich vielleicht gleichzeitig, ohne und
gegen die Absicht der Gesetzgeber, Regenten und Erzieher, andre Hindernisse
aufhäufen; das kommende Geschlecht will auch etwas zu thun finden.

Aber wird durch diese Ansicht nicht alle Einheit aufgehoben? Welche
Einheit? Doch nicht die innere Einheit des einzelnen Mensche,:? Diese bleibt
im Gegenteil am besten gewahrt, wenn jeder nach dem ihm zusagenden
Typus lebt. Die Entzweiung tritt erst ein, wenn in einem Menschen Charakter¬
eigenschaften erzwungen werden sollen, die seiner Natur widersprechen, wenn
er Entgegengesetztes sein und leisten soll. Oder die Einheit der sittlichen Welt?
Die wird durch die Mannichfaltigkeit der sittliche" Typen so wenig aufgehoben,


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

die Verschiedenheit der sittlichen Typen nicht zum Zerfall der Gesellschaft führt,
wird von außen durch Volkssitte, öffentliche Meinung und Gesetz gezogen.
Wie der Künstler, wenn er das Charakteristische, Individuelle darstellt, durch
die Schönheitslinie gebunden wird, mit deren Durchbrechung er in die Karri-
katur geraten würde, so erwachst aus dem Zusammenwirken der sittlichen Ideen
mit den Rücksichten des Gemeinwohls ein Schutzwall von Einrichtungen und
herrschenden Meinungen, auch Vorurteilen, der sich nicht leicht durchbrechen
läßt, den aber der Einzelne zu durchbrechen hat, wenn er sich in einseitiger Hin¬
gebung an eine einzelne Idee zur offenbaren Thorheit oder zum Verbrechen verirrt.

Die Antwort auf unsre Frage lautet also: Es giebt keinen sittlichen Fort¬
schritt im Sinne Darwins, der darin bestehen würde, daß sich die Menschen
allmählich in andre Wesen mit andern sittlichen Grundsätzen verwandelten.
Ein Fortschritt im Sinne Hegels, die allmähliche Durchsetzung allgemeiner
Sittlichkeit im Staate, ist wenigstens schwer denkbar, weil bei aller Überein¬
stimmung im allgemeinen doch die Meinungen über das, was gut sei, im
einzelnen stets auseinander gehen und bei der Vielheit sittlicher Ideen notwendig
auseinander gehen müssen; wäre das Ziel dieses Fortschritts erreicht, so wäre
damit die Sittlichkeit aufgehoben. Eine Verminderung des Bösen im Ver¬
hältnis der Masse des vorhandnen Guten ist historisch nicht nachweisbar,
scheint auch nicht möglich zu sein, da Gut und Böse zu jenen polaren Gegen-
sätzen gehören, die sich gegenseitig hervorrufen und ohne einander nicht denkbar
find; daher deun der fortschreitenden Verzweigung und Verfeinerung des Guten
eine eben solche Verzweigung und Verfeinerung des Bösen das Gleichgewicht
zu halten pflegt.

Allein trotz dieser gleichzeitigen Fortschritte des Bösen muß die Ver¬
zweigung und Verfeinerung des Guten doch als ein Fortschritt bezeichnet
werden; der Fortschritt besteht im Sittlichen wie in den übrigen Gebieten des
Kulturlebetts in: wachsende» Reichtum der Erscheinungen. Außerdem darf noch
in zweifacher Beziehung von Fortschritt gesprochen werden. Erstens ist es
Pflicht jedes einzelnen Menschen, sittlich fortzuschreiten; zweitens hat jede Zeit
für sich jene Hindernisse wegzuräumen, die der Entfaltung der Sittlichkeit im
Wege stehen, unbekümmert darum, daß sich vielleicht gleichzeitig, ohne und
gegen die Absicht der Gesetzgeber, Regenten und Erzieher, andre Hindernisse
aufhäufen; das kommende Geschlecht will auch etwas zu thun finden.

Aber wird durch diese Ansicht nicht alle Einheit aufgehoben? Welche
Einheit? Doch nicht die innere Einheit des einzelnen Mensche,:? Diese bleibt
im Gegenteil am besten gewahrt, wenn jeder nach dem ihm zusagenden
Typus lebt. Die Entzweiung tritt erst ein, wenn in einem Menschen Charakter¬
eigenschaften erzwungen werden sollen, die seiner Natur widersprechen, wenn
er Entgegengesetztes sein und leisten soll. Oder die Einheit der sittlichen Welt?
Die wird durch die Mannichfaltigkeit der sittliche» Typen so wenig aufgehoben,


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[0503] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? die Verschiedenheit der sittlichen Typen nicht zum Zerfall der Gesellschaft führt, wird von außen durch Volkssitte, öffentliche Meinung und Gesetz gezogen. Wie der Künstler, wenn er das Charakteristische, Individuelle darstellt, durch die Schönheitslinie gebunden wird, mit deren Durchbrechung er in die Karri- katur geraten würde, so erwachst aus dem Zusammenwirken der sittlichen Ideen mit den Rücksichten des Gemeinwohls ein Schutzwall von Einrichtungen und herrschenden Meinungen, auch Vorurteilen, der sich nicht leicht durchbrechen läßt, den aber der Einzelne zu durchbrechen hat, wenn er sich in einseitiger Hin¬ gebung an eine einzelne Idee zur offenbaren Thorheit oder zum Verbrechen verirrt. Die Antwort auf unsre Frage lautet also: Es giebt keinen sittlichen Fort¬ schritt im Sinne Darwins, der darin bestehen würde, daß sich die Menschen allmählich in andre Wesen mit andern sittlichen Grundsätzen verwandelten. Ein Fortschritt im Sinne Hegels, die allmähliche Durchsetzung allgemeiner Sittlichkeit im Staate, ist wenigstens schwer denkbar, weil bei aller Überein¬ stimmung im allgemeinen doch die Meinungen über das, was gut sei, im einzelnen stets auseinander gehen und bei der Vielheit sittlicher Ideen notwendig auseinander gehen müssen; wäre das Ziel dieses Fortschritts erreicht, so wäre damit die Sittlichkeit aufgehoben. Eine Verminderung des Bösen im Ver¬ hältnis der Masse des vorhandnen Guten ist historisch nicht nachweisbar, scheint auch nicht möglich zu sein, da Gut und Böse zu jenen polaren Gegen- sätzen gehören, die sich gegenseitig hervorrufen und ohne einander nicht denkbar find; daher deun der fortschreitenden Verzweigung und Verfeinerung des Guten eine eben solche Verzweigung und Verfeinerung des Bösen das Gleichgewicht zu halten pflegt. Allein trotz dieser gleichzeitigen Fortschritte des Bösen muß die Ver¬ zweigung und Verfeinerung des Guten doch als ein Fortschritt bezeichnet werden; der Fortschritt besteht im Sittlichen wie in den übrigen Gebieten des Kulturlebetts in: wachsende» Reichtum der Erscheinungen. Außerdem darf noch in zweifacher Beziehung von Fortschritt gesprochen werden. Erstens ist es Pflicht jedes einzelnen Menschen, sittlich fortzuschreiten; zweitens hat jede Zeit für sich jene Hindernisse wegzuräumen, die der Entfaltung der Sittlichkeit im Wege stehen, unbekümmert darum, daß sich vielleicht gleichzeitig, ohne und gegen die Absicht der Gesetzgeber, Regenten und Erzieher, andre Hindernisse aufhäufen; das kommende Geschlecht will auch etwas zu thun finden. Aber wird durch diese Ansicht nicht alle Einheit aufgehoben? Welche Einheit? Doch nicht die innere Einheit des einzelnen Mensche,:? Diese bleibt im Gegenteil am besten gewahrt, wenn jeder nach dem ihm zusagenden Typus lebt. Die Entzweiung tritt erst ein, wenn in einem Menschen Charakter¬ eigenschaften erzwungen werden sollen, die seiner Natur widersprechen, wenn er Entgegengesetztes sein und leisten soll. Oder die Einheit der sittlichen Welt? Die wird durch die Mannichfaltigkeit der sittliche» Typen so wenig aufgehoben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/503>, abgerufen am 29.06.2024.