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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

und fast nach allen herrschenden Moralsystemen. Ganz recht! Wer das für
sittlich erklärt, was den obersten Weltzweck fördert, mag dieser nun die Hervor-
bringung einer höhern und höchsten Menschenrasse, oder der absolute Staat, oder
die Weltvernichtung sein, der kann eben gar nicht anders, als jedes Mittel für
sittlich gut erklären, das diesen Zweck fördert. Aber den Inhalt der Sittlichkeit
aus dein Weltzweck zu schöpfen, das wäre nur dann möglich, wenn wir diese"
Weltzweck kennten, und zwar müßten wir ihn genauer kennen, als z. B. die
Bibel ihn angiebt und nach ihr Dante: die Menschenwelt solle so lange fort¬
bestehen, bis die von Gott bestimmte Zahl der Seligen voll ist; denn eben
dieses wird gefragt, worin jene sittliche Güte bestehe, durch die man selig wird.
Man sieht leicht ein, wie die Jesuiten praktisch zu ihrem Grundsatz kommen
mußten (in der Theorie verleugnen sie ihn), da sie an Stelle jenes höchsten
Endzwecks einen nähern setzten: die Herrschaft ihrer Kirche; denn was diese
fördert, das scheint leichter erkennbar zu sein. Mau sieht ferner leicht ein,
woher die innerliche Verwandtschaft des staatsmännischen Macchiavellismus
mit dem Jesuitismus kommt. In der That muß, wie E. von Hartmann
richtig erkannt hat, jede Sittenlehre jesuitisch werden, die nach Zwecken be¬
stimmt, was gut sei; nur wenn man, wie Herbart, an unwandelbare angeborne
sittliche Ideen glaubt, ist man vor allen Berirrnugen nach jener Seite hin
geschützt. Ohne Zweifel fördert es den höchsten Weltzweck, wenn die Menschen
diesen Ideen gemäß leben; aber da Nur weder den Weltzweck selbst genau
kennen, noch die Wege, auf denen Gott seine Verwirklichung herbeiführt, so
dürfen, wir uns nicht irre machen lassen, wenn die Treue gegen die sittlichen
Ideen zuweilen mehr Böses als Gutes hervorzubringen scheint; wir handeln
nach unserm Gewissen, bescheiden uns bei unsrer Unwissenheit und überlassen
es, Gott, wie das Böse, so auch die unbeabsichtigten Mißerfolge des Guten
zum Besten zu wenden. Thatkräftige Meuscheu haben selten die Kraft solcher
Resignation; sie wollen das Gute sichtlich fördern, sie sind überzeugt, daß ihre
Endziele einen Teil des Weltzwecks bilden, und daß alles gut oder wenigstens
erlaubt sei, was sie zur Erreichung ihres Zieles für nötig erachten. Wir
wünschen nicht, daß es anders sei. Herbart giebt den Unterschied richtig an,
indem er sagt: Menschen, die sich durch Zwecke bestimmen lassen, handeln
kräftiger, solche, die sich von Grundsätzen, oder was ziemlich dasselbe ist, vou
den sittlichen Ideen leiten lassen, leben reiner. Die Welt kaun keine der beiden
Klassen entbehren: ohne die erste würde die Weltgeschichte stillstehen, ohne die
zweite würde sie längst zu Ende sein, die Völker, von denen sich jedes für das
anserwühlte hält, würden sich in erbitterter Verfolgung ihrer vermeintlich von
Gott gestellten Aufgaben gegenseitig vernichtet haben. In den meisten Menschen
finden sich beide Auffassungen vereinigt. Die Lebenszwecke treiben und dienen
dadurch zugleich der Idee der Vollkommenheit, die übrigen sittlichen Ideen
bilden das Gewissen und zügeln. Eine andre Greuze, die da verhütet, daß


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

und fast nach allen herrschenden Moralsystemen. Ganz recht! Wer das für
sittlich erklärt, was den obersten Weltzweck fördert, mag dieser nun die Hervor-
bringung einer höhern und höchsten Menschenrasse, oder der absolute Staat, oder
die Weltvernichtung sein, der kann eben gar nicht anders, als jedes Mittel für
sittlich gut erklären, das diesen Zweck fördert. Aber den Inhalt der Sittlichkeit
aus dein Weltzweck zu schöpfen, das wäre nur dann möglich, wenn wir diese»
Weltzweck kennten, und zwar müßten wir ihn genauer kennen, als z. B. die
Bibel ihn angiebt und nach ihr Dante: die Menschenwelt solle so lange fort¬
bestehen, bis die von Gott bestimmte Zahl der Seligen voll ist; denn eben
dieses wird gefragt, worin jene sittliche Güte bestehe, durch die man selig wird.
Man sieht leicht ein, wie die Jesuiten praktisch zu ihrem Grundsatz kommen
mußten (in der Theorie verleugnen sie ihn), da sie an Stelle jenes höchsten
Endzwecks einen nähern setzten: die Herrschaft ihrer Kirche; denn was diese
fördert, das scheint leichter erkennbar zu sein. Mau sieht ferner leicht ein,
woher die innerliche Verwandtschaft des staatsmännischen Macchiavellismus
mit dem Jesuitismus kommt. In der That muß, wie E. von Hartmann
richtig erkannt hat, jede Sittenlehre jesuitisch werden, die nach Zwecken be¬
stimmt, was gut sei; nur wenn man, wie Herbart, an unwandelbare angeborne
sittliche Ideen glaubt, ist man vor allen Berirrnugen nach jener Seite hin
geschützt. Ohne Zweifel fördert es den höchsten Weltzweck, wenn die Menschen
diesen Ideen gemäß leben; aber da Nur weder den Weltzweck selbst genau
kennen, noch die Wege, auf denen Gott seine Verwirklichung herbeiführt, so
dürfen, wir uns nicht irre machen lassen, wenn die Treue gegen die sittlichen
Ideen zuweilen mehr Böses als Gutes hervorzubringen scheint; wir handeln
nach unserm Gewissen, bescheiden uns bei unsrer Unwissenheit und überlassen
es, Gott, wie das Böse, so auch die unbeabsichtigten Mißerfolge des Guten
zum Besten zu wenden. Thatkräftige Meuscheu haben selten die Kraft solcher
Resignation; sie wollen das Gute sichtlich fördern, sie sind überzeugt, daß ihre
Endziele einen Teil des Weltzwecks bilden, und daß alles gut oder wenigstens
erlaubt sei, was sie zur Erreichung ihres Zieles für nötig erachten. Wir
wünschen nicht, daß es anders sei. Herbart giebt den Unterschied richtig an,
indem er sagt: Menschen, die sich durch Zwecke bestimmen lassen, handeln
kräftiger, solche, die sich von Grundsätzen, oder was ziemlich dasselbe ist, vou
den sittlichen Ideen leiten lassen, leben reiner. Die Welt kaun keine der beiden
Klassen entbehren: ohne die erste würde die Weltgeschichte stillstehen, ohne die
zweite würde sie längst zu Ende sein, die Völker, von denen sich jedes für das
anserwühlte hält, würden sich in erbitterter Verfolgung ihrer vermeintlich von
Gott gestellten Aufgaben gegenseitig vernichtet haben. In den meisten Menschen
finden sich beide Auffassungen vereinigt. Die Lebenszwecke treiben und dienen
dadurch zugleich der Idee der Vollkommenheit, die übrigen sittlichen Ideen
bilden das Gewissen und zügeln. Eine andre Greuze, die da verhütet, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/502>, abgerufen am 29.06.2024.