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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

kommenden. Die sittliche Freiheit, d, h. die Unabhängigkeit unsrer Ent¬
schließungen von Begierden und Leidenschaften, wird durch energische Thätig¬
keit in der Welt gefährdet, weil gerade die Begierden und Leidenschaften die
Haupttriebfedern des Handelns sind, und große Thaten selten vollbracht werden,
wo nicht glühende Leidenschaften stacheln. Ohne vielseitige kraftvolle Thätig¬
keit aber ist die Vollkommenheit, d. h. die volle Entfaltung aller guten An¬
lagen, die in eiuer Persönlichkeit oder in einem Volke ruhen, nicht möglich.
Demnach strebt die Freiheit dem asketischen Ideal der göttlichen Bedürfnis¬
losigkeit zu, während sich die Vollkommenheit nur in einer reichen Kultur
verwirklichen kann. Der Herzensreiue, in dem die sittliche Freiheit ihre höchste
Höhe erklimmt, ist stets bereit, seine und andrer Augen auszureißen und Hände
abzuhauen, wenn sie zusammenwirken, jenes Schone zu, schaffen, um dein die
Kleinen so leicht Anstoß nehmen. Dürfte er Gericht halten über die sündige
Welt, so würden von deu Werken der bildenden Kunst kaum die sanftgefärbten
schattenhaften Gestalten der Nazareuerschule und von der schönen Litteratur
außer den Kirchenhymnen vielleicht nur einige Jugendschriften und Lehrsprüch¬
lein übrig bleiben. Der vom göttlichen Wahnsinn getriebene Dichter oder
Künstler aber schafft, ohne zu fragen, wie seine Werke sittlich wirken, und ob
die Berauschung mit sinnlicher Schönheit und sinnlicher Liebe, durch die er
jenen Wahnsinn unterhält, mit dem Sittengesetz vereinbar sei oder nicht. Die
Thätigkeit des Künstlers ist nämlich, wie auch die des Staatsmannes oder
Gelehrten oder Kaufmanns, schon an sich, abgesehen von ihrem Inhalt, sittlich
zu nennen, als mühevolle und gewissenhafte Anwendung eiuer von Gott ver¬
liehenen guten Kraft.

Daß es einzelnen Mensche" gelingt, die widersprechenden sittlichen Typen
in sich zu vereinigen und zur Harmonie auszugleichen, soll nicht geleugnet
werden; allein diese Glücklichen und Begnadigten werden immer Ausnahmen
bleiben. Am ehesten kommen sie in mittlerer Lebenslage und bei mittlerer
Begabung vor. Genie scheint ohne Einseitigkeit auch im Sittlichen nicht möglich
zu sein; eine große historische Persönlichkeit dieser Art kenne ich nicht. Am
ehesten dürften noch der Apostel Paulus, der allen alles ward, und Augustinus
dem Ideal nahe kommen. In Alkibiades, der mit seiner Vollkommenheit vor¬
herrschend seiner Eitelkeit und seinem Eigensinn diente, überwog das Unsittliche.
Alkibiades erinnert uns an zwei Grenzlinien, die den auseinanderstrebenden
sittlichen Typen gezogen sind: eine innere und eine äußere. Die innere besteht
in der Beschaffenheit der Absicht. Wo die böse oder unedle Absicht zu wirken
anfängt, da hört die Sittlichkeit auf, auch wenn das Thun gut bleibt. Aber
wie steht es im umgekehrten Falle? Wird böses Thun durch gute Absicht
geadelt? Nimmermehr! Entschuldige wohl, aber nicht in Gutes verwandelt!
E. von Hartmann ist aufrichtig genug, zu bekennen, daß der Grundsatz: Der
Zweck heiligt die Mittel, eigentlich richtig sei, von seinem Standpunkte aus


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

kommenden. Die sittliche Freiheit, d, h. die Unabhängigkeit unsrer Ent¬
schließungen von Begierden und Leidenschaften, wird durch energische Thätig¬
keit in der Welt gefährdet, weil gerade die Begierden und Leidenschaften die
Haupttriebfedern des Handelns sind, und große Thaten selten vollbracht werden,
wo nicht glühende Leidenschaften stacheln. Ohne vielseitige kraftvolle Thätig¬
keit aber ist die Vollkommenheit, d. h. die volle Entfaltung aller guten An¬
lagen, die in eiuer Persönlichkeit oder in einem Volke ruhen, nicht möglich.
Demnach strebt die Freiheit dem asketischen Ideal der göttlichen Bedürfnis¬
losigkeit zu, während sich die Vollkommenheit nur in einer reichen Kultur
verwirklichen kann. Der Herzensreiue, in dem die sittliche Freiheit ihre höchste
Höhe erklimmt, ist stets bereit, seine und andrer Augen auszureißen und Hände
abzuhauen, wenn sie zusammenwirken, jenes Schone zu, schaffen, um dein die
Kleinen so leicht Anstoß nehmen. Dürfte er Gericht halten über die sündige
Welt, so würden von deu Werken der bildenden Kunst kaum die sanftgefärbten
schattenhaften Gestalten der Nazareuerschule und von der schönen Litteratur
außer den Kirchenhymnen vielleicht nur einige Jugendschriften und Lehrsprüch¬
lein übrig bleiben. Der vom göttlichen Wahnsinn getriebene Dichter oder
Künstler aber schafft, ohne zu fragen, wie seine Werke sittlich wirken, und ob
die Berauschung mit sinnlicher Schönheit und sinnlicher Liebe, durch die er
jenen Wahnsinn unterhält, mit dem Sittengesetz vereinbar sei oder nicht. Die
Thätigkeit des Künstlers ist nämlich, wie auch die des Staatsmannes oder
Gelehrten oder Kaufmanns, schon an sich, abgesehen von ihrem Inhalt, sittlich
zu nennen, als mühevolle und gewissenhafte Anwendung eiuer von Gott ver¬
liehenen guten Kraft.

Daß es einzelnen Mensche» gelingt, die widersprechenden sittlichen Typen
in sich zu vereinigen und zur Harmonie auszugleichen, soll nicht geleugnet
werden; allein diese Glücklichen und Begnadigten werden immer Ausnahmen
bleiben. Am ehesten kommen sie in mittlerer Lebenslage und bei mittlerer
Begabung vor. Genie scheint ohne Einseitigkeit auch im Sittlichen nicht möglich
zu sein; eine große historische Persönlichkeit dieser Art kenne ich nicht. Am
ehesten dürften noch der Apostel Paulus, der allen alles ward, und Augustinus
dem Ideal nahe kommen. In Alkibiades, der mit seiner Vollkommenheit vor¬
herrschend seiner Eitelkeit und seinem Eigensinn diente, überwog das Unsittliche.
Alkibiades erinnert uns an zwei Grenzlinien, die den auseinanderstrebenden
sittlichen Typen gezogen sind: eine innere und eine äußere. Die innere besteht
in der Beschaffenheit der Absicht. Wo die böse oder unedle Absicht zu wirken
anfängt, da hört die Sittlichkeit auf, auch wenn das Thun gut bleibt. Aber
wie steht es im umgekehrten Falle? Wird böses Thun durch gute Absicht
geadelt? Nimmermehr! Entschuldige wohl, aber nicht in Gutes verwandelt!
E. von Hartmann ist aufrichtig genug, zu bekennen, daß der Grundsatz: Der
Zweck heiligt die Mittel, eigentlich richtig sei, von seinem Standpunkte aus


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[0501] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? kommenden. Die sittliche Freiheit, d, h. die Unabhängigkeit unsrer Ent¬ schließungen von Begierden und Leidenschaften, wird durch energische Thätig¬ keit in der Welt gefährdet, weil gerade die Begierden und Leidenschaften die Haupttriebfedern des Handelns sind, und große Thaten selten vollbracht werden, wo nicht glühende Leidenschaften stacheln. Ohne vielseitige kraftvolle Thätig¬ keit aber ist die Vollkommenheit, d. h. die volle Entfaltung aller guten An¬ lagen, die in eiuer Persönlichkeit oder in einem Volke ruhen, nicht möglich. Demnach strebt die Freiheit dem asketischen Ideal der göttlichen Bedürfnis¬ losigkeit zu, während sich die Vollkommenheit nur in einer reichen Kultur verwirklichen kann. Der Herzensreiue, in dem die sittliche Freiheit ihre höchste Höhe erklimmt, ist stets bereit, seine und andrer Augen auszureißen und Hände abzuhauen, wenn sie zusammenwirken, jenes Schone zu, schaffen, um dein die Kleinen so leicht Anstoß nehmen. Dürfte er Gericht halten über die sündige Welt, so würden von deu Werken der bildenden Kunst kaum die sanftgefärbten schattenhaften Gestalten der Nazareuerschule und von der schönen Litteratur außer den Kirchenhymnen vielleicht nur einige Jugendschriften und Lehrsprüch¬ lein übrig bleiben. Der vom göttlichen Wahnsinn getriebene Dichter oder Künstler aber schafft, ohne zu fragen, wie seine Werke sittlich wirken, und ob die Berauschung mit sinnlicher Schönheit und sinnlicher Liebe, durch die er jenen Wahnsinn unterhält, mit dem Sittengesetz vereinbar sei oder nicht. Die Thätigkeit des Künstlers ist nämlich, wie auch die des Staatsmannes oder Gelehrten oder Kaufmanns, schon an sich, abgesehen von ihrem Inhalt, sittlich zu nennen, als mühevolle und gewissenhafte Anwendung eiuer von Gott ver¬ liehenen guten Kraft. Daß es einzelnen Mensche» gelingt, die widersprechenden sittlichen Typen in sich zu vereinigen und zur Harmonie auszugleichen, soll nicht geleugnet werden; allein diese Glücklichen und Begnadigten werden immer Ausnahmen bleiben. Am ehesten kommen sie in mittlerer Lebenslage und bei mittlerer Begabung vor. Genie scheint ohne Einseitigkeit auch im Sittlichen nicht möglich zu sein; eine große historische Persönlichkeit dieser Art kenne ich nicht. Am ehesten dürften noch der Apostel Paulus, der allen alles ward, und Augustinus dem Ideal nahe kommen. In Alkibiades, der mit seiner Vollkommenheit vor¬ herrschend seiner Eitelkeit und seinem Eigensinn diente, überwog das Unsittliche. Alkibiades erinnert uns an zwei Grenzlinien, die den auseinanderstrebenden sittlichen Typen gezogen sind: eine innere und eine äußere. Die innere besteht in der Beschaffenheit der Absicht. Wo die böse oder unedle Absicht zu wirken anfängt, da hört die Sittlichkeit auf, auch wenn das Thun gut bleibt. Aber wie steht es im umgekehrten Falle? Wird böses Thun durch gute Absicht geadelt? Nimmermehr! Entschuldige wohl, aber nicht in Gutes verwandelt! E. von Hartmann ist aufrichtig genug, zu bekennen, daß der Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel, eigentlich richtig sei, von seinem Standpunkte aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/501>, abgerufen am 28.09.2024.