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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Fülle aus. Abgesehen von den Konflikten zwischen Liebe und Gerechtigkeit,
in die sast nur Männer, und zwar Männer in höherer Stellung verwickelt
werden, bleibt die Art der Bethätigung der Liebe dem zufälligen Temperament
und der verschiednen Einsicht der Einzelnen überlassen, wenn nicht irgend eine
Autorität bestimmt, worin das zu fördernde Wohl des Nächsten bestehe. Was
du nicht willst, das man dir thu u. s. w., ist schon eine nützliche Anweisung,
reicht aber auch noch nicht ans; denn mancher ist sehr unverständig in demi,
was er für sich will und nicht will. Es war deshalb notwendig, daß die
Theologen zur Leitung des blinden Liebestriebes die vier Kardinaltugenden:
Klugheit, Mäßigkeit (besser Mäßigung), Gerechtigkeit und Starkmut (Willens¬
energie) empfahlen. Auch so uoch konnte es geschehen, daß die Christenheit
zuweilen ans purer Liebe, um die Seelen zu retten, die lebendigen Leiber der Ketzer
und Hexen verbrannte (die katholische nicht allein; nach englischen Autoritäten
sind in der kurzen Zeit der Republik, als die Puritaner herrschten, in England
und Schottland mehr Hexen verbrannt worden, als in den Zeiten vor- und
nachher zusammengenommen), während sie es zu andern Zeiten für Liebes¬
pflicht hält, alle religiösen und religionsfeindlichen Meinungen frei gewähren
zu lassen.

Wie seltsam, daß trotz dieses augenscheinlichen Schiffbrnchs aller so¬
genannten "Prinzipien" die einfache Methode Herbarts immer noch ignorirt
wird, die darin besteht, daß man die Vielheit und Mannichfaltigkeit anerkennt,
die man aus der Welt nicht wegschaffen kann und die zu leugnen offenbare
Thorheit ist! Ich habe Herbart seit acht Jahren nicht mehr gelesen, und dieser
Aufsatz will kein Abriß der Herbartschen Sittenlehre sein. Ich gebe nur an,
wie ich mir die sittlichen Verhältnisse mit Hilfe der Herbartschen Methode
zurechtlege, ohne die, wie mir scheint, die Sittenlehre entweder ein unentwirr¬
bares Chaos wird, oder ein einseitiges System, das im Stndirstübchen das
logische Bedürfnis befriedigen mag, mit dem man aber im Leben nicht drei
Schritte weit kommt. Ich lasse dahingestellt sein, ob Herbart mit seinen fünf
Ideen die Wurzeln der Sittlichkeit genau genug angegeben hat. Vielleicht
ließen sich Gerechtigkeit und Billigkeit vereinigen, vielleicht auch als sechste
noch die Wahrhaftigkeit, als siebente die Treue beifüge". Allein darauf kommt
weit weniger an, als auf die Erkenntnis, daß es verschiedne sittliche Ideen
giebt, die weder eine von der andern noch sämtlich ans einer gemeinsamen
Wurzel abgeleitet werden können, daß diese Ideen bei dem Versuche, sie gleich¬
mäßig geltend zu machen, mit einander in Streit geraten, und daß das Vor¬
herrschen der einen oder der andern die persönlichen, Berufs- und Volkstypen
sowie die eigentümlichen sittlichen Grundstimmungcn der verschiednen Zeitalter
hervorbringt. Was den Widerstreit anlangt, so ist der oft unversöhnliche
Gegensatz zwischen Wohlwollen und Gerechtigkeit allgemein bekannt und schon
erwähnt worden. Nicht weniger schlecht vertragen sich Freiheit und Voll-


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Fülle aus. Abgesehen von den Konflikten zwischen Liebe und Gerechtigkeit,
in die sast nur Männer, und zwar Männer in höherer Stellung verwickelt
werden, bleibt die Art der Bethätigung der Liebe dem zufälligen Temperament
und der verschiednen Einsicht der Einzelnen überlassen, wenn nicht irgend eine
Autorität bestimmt, worin das zu fördernde Wohl des Nächsten bestehe. Was
du nicht willst, das man dir thu u. s. w., ist schon eine nützliche Anweisung,
reicht aber auch noch nicht ans; denn mancher ist sehr unverständig in demi,
was er für sich will und nicht will. Es war deshalb notwendig, daß die
Theologen zur Leitung des blinden Liebestriebes die vier Kardinaltugenden:
Klugheit, Mäßigkeit (besser Mäßigung), Gerechtigkeit und Starkmut (Willens¬
energie) empfahlen. Auch so uoch konnte es geschehen, daß die Christenheit
zuweilen ans purer Liebe, um die Seelen zu retten, die lebendigen Leiber der Ketzer
und Hexen verbrannte (die katholische nicht allein; nach englischen Autoritäten
sind in der kurzen Zeit der Republik, als die Puritaner herrschten, in England
und Schottland mehr Hexen verbrannt worden, als in den Zeiten vor- und
nachher zusammengenommen), während sie es zu andern Zeiten für Liebes¬
pflicht hält, alle religiösen und religionsfeindlichen Meinungen frei gewähren
zu lassen.

Wie seltsam, daß trotz dieses augenscheinlichen Schiffbrnchs aller so¬
genannten „Prinzipien" die einfache Methode Herbarts immer noch ignorirt
wird, die darin besteht, daß man die Vielheit und Mannichfaltigkeit anerkennt,
die man aus der Welt nicht wegschaffen kann und die zu leugnen offenbare
Thorheit ist! Ich habe Herbart seit acht Jahren nicht mehr gelesen, und dieser
Aufsatz will kein Abriß der Herbartschen Sittenlehre sein. Ich gebe nur an,
wie ich mir die sittlichen Verhältnisse mit Hilfe der Herbartschen Methode
zurechtlege, ohne die, wie mir scheint, die Sittenlehre entweder ein unentwirr¬
bares Chaos wird, oder ein einseitiges System, das im Stndirstübchen das
logische Bedürfnis befriedigen mag, mit dem man aber im Leben nicht drei
Schritte weit kommt. Ich lasse dahingestellt sein, ob Herbart mit seinen fünf
Ideen die Wurzeln der Sittlichkeit genau genug angegeben hat. Vielleicht
ließen sich Gerechtigkeit und Billigkeit vereinigen, vielleicht auch als sechste
noch die Wahrhaftigkeit, als siebente die Treue beifüge». Allein darauf kommt
weit weniger an, als auf die Erkenntnis, daß es verschiedne sittliche Ideen
giebt, die weder eine von der andern noch sämtlich ans einer gemeinsamen
Wurzel abgeleitet werden können, daß diese Ideen bei dem Versuche, sie gleich¬
mäßig geltend zu machen, mit einander in Streit geraten, und daß das Vor¬
herrschen der einen oder der andern die persönlichen, Berufs- und Volkstypen
sowie die eigentümlichen sittlichen Grundstimmungcn der verschiednen Zeitalter
hervorbringt. Was den Widerstreit anlangt, so ist der oft unversöhnliche
Gegensatz zwischen Wohlwollen und Gerechtigkeit allgemein bekannt und schon
erwähnt worden. Nicht weniger schlecht vertragen sich Freiheit und Voll-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/500>, abgerufen am 29.06.2024.