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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

höherm Grade und etwas andrer Weise zeigen die Slawen ein weibliches, oft
weibisches Benehmen. Allem wir gehen an diesem umfangreichen Gebiete vor¬
über und schließen die obige Gedankenreihe mit der Bemerkung, daß auch die
Beurteilung der Adiaphora -- sofern solche zugelassen werden -- von der
Beschaffenheit des Typus abhängt, an dem sie beobachtet werden. Ein Greis,
ein greisenhaft aussehender Greis, der mit jungen Mädchen in: Walzer herum¬
hüpft, wirkt widerlich, doppelt und dreifach widerlich, wenn er ein hohes geist¬
liches Amt bekleidet. Dagegen mißfällt uns ein junger gesunder Bursch, der
sich gänzlich des Tanzens enthält, ganz entschieden und mit Recht. Möglicher¬
weise steckt ein Heiliger oder ein großer Denker in ihm; in den meisten Fällen
aber werden wir je nach seinem Aussehen vermuten, daß er entweder ein un¬
geschickter Tölpel oder eine Schlafmütze oder noch etwas schlimmeres sei;
vielleicht auch hat er Anlage zu einem menschenfeindliche" Fanatiker.

Die Verschiedenheit und Unvereinbarkeit der sittlichen Grundformen zeigt
aufs deutlichste, daß sich die mancherlei sittlichen Lebensäußerungen nicht aus
einer gemeinsamen Wurzel ableiten lassen, weder begrifflich noch thatsächlich.
Liebe und Rechtssinn sind zwei grundverschiedne Empfindungen, und weder ist
es möglich, die eine aus der andern, noch beide aus einer dritten Empfindung
oder einem Triebe abzuleiten. Wie sollte der heiße"? Selbsterhaltungstrieb?
Dein wirken Liebe und Gerechtigkeit oft gerade entgegen. Altruismus? Das
ist bloß ein schlechtes neues Wort für das gute, alte Wort Liebe. Liebe und
Gerechtigkeit sind zwar vielfach mit einander verflochten, sodaß die eine sehr
oft die Anwendung der andern fordert; allein oft genug widersprechen sich ihre
Forderungen und versetzen uns in die Seelenangst eines Gewissenskonflikts.
Nicht besser steht es mit der theoretischen Ableitung aller sittlichen Pflichten
ans einem einzigen Grundsätze, sie ist uoch niemanden: gelungen; wie wenig
z. B. der Satz Kants ausreicht, ist den Lesern der Grenzboten bekannt. Und
wohin würden wir mit der neuerdings empfohlenen Ableitung der Sittenlehre
ans dem Deutschtum geraten! Würden sich die Gelehrten noch vorm jüngsten
Tage über den Begriff des Deutschtums einigen? Und wäre dem Vaterlande
uuter allen Umständen gedient, wenn jeder einzelne seiner Söhne ein Tugend¬
held ohne Fehl wäre? Nützt nicht manchmal ein rücksichtsloser Staatsmann,
ein verschmitzter Diplomat mehr, als alle Menschen von strenger Gewissen¬
haftigkeit zusammengenommen? Daß Möllen. lunckMiönwm rvgnvrum sei, muß
der Prinzenlehrer seinem Zöglinge selbstverständlich einschärfen; allein wo
wären das Nömerreich, das indische Kaisertum der Engländer und selbst der
kleine Judenstaat geblieben, wenn David, die römischen Senatoren^ und die
englischen Staatsmänner lauter Aristidesfe gewesen wären? Unter alle" all¬
gemeinen Sätzen ist keiner so brauchbar wie der christliche: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. Er macht die Äußerungen des wohlthätigsten
aller sittlichen Triebe zur Pflicht. Dennoch reicht auch er nicht für alle


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

höherm Grade und etwas andrer Weise zeigen die Slawen ein weibliches, oft
weibisches Benehmen. Allem wir gehen an diesem umfangreichen Gebiete vor¬
über und schließen die obige Gedankenreihe mit der Bemerkung, daß auch die
Beurteilung der Adiaphora — sofern solche zugelassen werden — von der
Beschaffenheit des Typus abhängt, an dem sie beobachtet werden. Ein Greis,
ein greisenhaft aussehender Greis, der mit jungen Mädchen in: Walzer herum¬
hüpft, wirkt widerlich, doppelt und dreifach widerlich, wenn er ein hohes geist¬
liches Amt bekleidet. Dagegen mißfällt uns ein junger gesunder Bursch, der
sich gänzlich des Tanzens enthält, ganz entschieden und mit Recht. Möglicher¬
weise steckt ein Heiliger oder ein großer Denker in ihm; in den meisten Fällen
aber werden wir je nach seinem Aussehen vermuten, daß er entweder ein un¬
geschickter Tölpel oder eine Schlafmütze oder noch etwas schlimmeres sei;
vielleicht auch hat er Anlage zu einem menschenfeindliche» Fanatiker.

Die Verschiedenheit und Unvereinbarkeit der sittlichen Grundformen zeigt
aufs deutlichste, daß sich die mancherlei sittlichen Lebensäußerungen nicht aus
einer gemeinsamen Wurzel ableiten lassen, weder begrifflich noch thatsächlich.
Liebe und Rechtssinn sind zwei grundverschiedne Empfindungen, und weder ist
es möglich, die eine aus der andern, noch beide aus einer dritten Empfindung
oder einem Triebe abzuleiten. Wie sollte der heiße«? Selbsterhaltungstrieb?
Dein wirken Liebe und Gerechtigkeit oft gerade entgegen. Altruismus? Das
ist bloß ein schlechtes neues Wort für das gute, alte Wort Liebe. Liebe und
Gerechtigkeit sind zwar vielfach mit einander verflochten, sodaß die eine sehr
oft die Anwendung der andern fordert; allein oft genug widersprechen sich ihre
Forderungen und versetzen uns in die Seelenangst eines Gewissenskonflikts.
Nicht besser steht es mit der theoretischen Ableitung aller sittlichen Pflichten
ans einem einzigen Grundsätze, sie ist uoch niemanden: gelungen; wie wenig
z. B. der Satz Kants ausreicht, ist den Lesern der Grenzboten bekannt. Und
wohin würden wir mit der neuerdings empfohlenen Ableitung der Sittenlehre
ans dem Deutschtum geraten! Würden sich die Gelehrten noch vorm jüngsten
Tage über den Begriff des Deutschtums einigen? Und wäre dem Vaterlande
uuter allen Umständen gedient, wenn jeder einzelne seiner Söhne ein Tugend¬
held ohne Fehl wäre? Nützt nicht manchmal ein rücksichtsloser Staatsmann,
ein verschmitzter Diplomat mehr, als alle Menschen von strenger Gewissen¬
haftigkeit zusammengenommen? Daß Möllen. lunckMiönwm rvgnvrum sei, muß
der Prinzenlehrer seinem Zöglinge selbstverständlich einschärfen; allein wo
wären das Nömerreich, das indische Kaisertum der Engländer und selbst der
kleine Judenstaat geblieben, wenn David, die römischen Senatoren^ und die
englischen Staatsmänner lauter Aristidesfe gewesen wären? Unter alle» all¬
gemeinen Sätzen ist keiner so brauchbar wie der christliche: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. Er macht die Äußerungen des wohlthätigsten
aller sittlichen Triebe zur Pflicht. Dennoch reicht auch er nicht für alle


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[0499] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? höherm Grade und etwas andrer Weise zeigen die Slawen ein weibliches, oft weibisches Benehmen. Allem wir gehen an diesem umfangreichen Gebiete vor¬ über und schließen die obige Gedankenreihe mit der Bemerkung, daß auch die Beurteilung der Adiaphora — sofern solche zugelassen werden — von der Beschaffenheit des Typus abhängt, an dem sie beobachtet werden. Ein Greis, ein greisenhaft aussehender Greis, der mit jungen Mädchen in: Walzer herum¬ hüpft, wirkt widerlich, doppelt und dreifach widerlich, wenn er ein hohes geist¬ liches Amt bekleidet. Dagegen mißfällt uns ein junger gesunder Bursch, der sich gänzlich des Tanzens enthält, ganz entschieden und mit Recht. Möglicher¬ weise steckt ein Heiliger oder ein großer Denker in ihm; in den meisten Fällen aber werden wir je nach seinem Aussehen vermuten, daß er entweder ein un¬ geschickter Tölpel oder eine Schlafmütze oder noch etwas schlimmeres sei; vielleicht auch hat er Anlage zu einem menschenfeindliche» Fanatiker. Die Verschiedenheit und Unvereinbarkeit der sittlichen Grundformen zeigt aufs deutlichste, daß sich die mancherlei sittlichen Lebensäußerungen nicht aus einer gemeinsamen Wurzel ableiten lassen, weder begrifflich noch thatsächlich. Liebe und Rechtssinn sind zwei grundverschiedne Empfindungen, und weder ist es möglich, die eine aus der andern, noch beide aus einer dritten Empfindung oder einem Triebe abzuleiten. Wie sollte der heiße«? Selbsterhaltungstrieb? Dein wirken Liebe und Gerechtigkeit oft gerade entgegen. Altruismus? Das ist bloß ein schlechtes neues Wort für das gute, alte Wort Liebe. Liebe und Gerechtigkeit sind zwar vielfach mit einander verflochten, sodaß die eine sehr oft die Anwendung der andern fordert; allein oft genug widersprechen sich ihre Forderungen und versetzen uns in die Seelenangst eines Gewissenskonflikts. Nicht besser steht es mit der theoretischen Ableitung aller sittlichen Pflichten ans einem einzigen Grundsätze, sie ist uoch niemanden: gelungen; wie wenig z. B. der Satz Kants ausreicht, ist den Lesern der Grenzboten bekannt. Und wohin würden wir mit der neuerdings empfohlenen Ableitung der Sittenlehre ans dem Deutschtum geraten! Würden sich die Gelehrten noch vorm jüngsten Tage über den Begriff des Deutschtums einigen? Und wäre dem Vaterlande uuter allen Umständen gedient, wenn jeder einzelne seiner Söhne ein Tugend¬ held ohne Fehl wäre? Nützt nicht manchmal ein rücksichtsloser Staatsmann, ein verschmitzter Diplomat mehr, als alle Menschen von strenger Gewissen¬ haftigkeit zusammengenommen? Daß Möllen. lunckMiönwm rvgnvrum sei, muß der Prinzenlehrer seinem Zöglinge selbstverständlich einschärfen; allein wo wären das Nömerreich, das indische Kaisertum der Engländer und selbst der kleine Judenstaat geblieben, wenn David, die römischen Senatoren^ und die englischen Staatsmänner lauter Aristidesfe gewesen wären? Unter alle» all¬ gemeinen Sätzen ist keiner so brauchbar wie der christliche: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Er macht die Äußerungen des wohlthätigsten aller sittlichen Triebe zur Pflicht. Dennoch reicht auch er nicht für alle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/499>, abgerufen am 26.06.2024.