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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Menschen genug, die thränenlosen Auges und mit rohem Lachen das Spiel
zuckender Glieder im Feuer und auf der Folterbank betrachtet hatten -- den
letzten Hexeubrand sah Deutschland im Geburtsjahre Goethes -- noch wurde
die qualisizirte Todesstrafe hie und da angewendet, da weinte plötzlich ganz
Deutschland unendliche Thränen über die ungestillte Liebessehnsucht eines
Jünglings. Und heutzutage wird eine Bauersfrau, deren Hühner zu unbe¬
quem eng. im Marktkvrbe sitzen, eine Hausfrau, die ihre Gans an den Beinen
"ach Hause trägt, von der Polizei abgefaßt; nicht zu gedenken der Lehrer, die
auf die Anklagebank müssen, weil ihr Stock eine bläuliche Spur auf dem Rücken
eines ungezogenen Jungen zurückgelassen hat. Im übrigen Europa ist die
Sache ähnlich verlaufen.

Diese Wandlungen des Mitgefühls sind höchst merkwürdig und lehrreich.
Wir sagen absichtlich nicht: diese Entwicklung des Mitgefühls, denn das erste,
was wir hier lernen, ist eben, daß das Mitgefühl sich gar nicht entwickelt hat,
sondern von Anfang an dagewesen ist. Wirkliche Grausamkeit: Fühllosigkeit
beim Anblick der Leiden andrer und Lust daran, die man sich durch Peinigungen
zu verschaffen sucht, trifft man weit öfter bei verhältnismäßig hoch entwickelten
Böllern als bei den Naturvölkern. Die Unterthanen des grausamen Königs
von Dahome gehören zu den zivilisirtesten Negerstämmen. Bei den Natur¬
völkern finden sich neben dem durch Mangel an eßbaren Tieren verursachten
Kannibalismus und gelegentlich an Feinden verübten Grausamkeiten die Affen¬
liebe zu den Kindern und viel Gutmütigkeit gegen Freunde und harmlose
Besucher. Mitgefühl und Wohlwollen sind also angeborne Eigenschaften, die
zwar nicht sofort mit dem Selbstbewußtsein hervortreten -- denn auch unsre
Kinder verüben, wenn mau sie nicht abhält, unbewußte Grausamkeiten --, aber
doch, sobald ihnen klar wird, daß die andern bei denselben Anlässen Lust und
Schmerz empfinden wie sie. Was der Fortschritt der Zivilisation leistet, ist
folgendes. Durch Überlegung und Erfahrung wird die Ausübung der Liebe
verständiger; die unklare Empfindung wird zur Idee, zu einem Vorbilde des
Handelns ausgebildet und erhoben; die Bethätigung der Liebe wird in dem
Grade mnnnichfaltiger -- freilich auch schwieriger --, als die Beziehungen der
Menschen zu einander sich vervielfältigen und verwickeln. Damit ist zugleich
eine Verfeinerung verbunden. An die Stelle des größten Stückes Fleisch, mit
dem der Naturmensch seinen Gast erfreut, tritt beim zivilisirten die zarte Auf¬
merksamkeit auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse, und während der biedere
Wilde sich nur eben in Acht nimmt, bei Scherz und Spiel seinem Freunde
den Schädel nicht einzuschlagen, meiden wir schon im Gespräch alles, was ihn
verletzen könnte. Aber dieser Fortschritt der Verfeinerung darf nicht ins Un¬
endliche gehen, fondern er hat seine vernünftigen Grenzen. Denken wir uns die
Empfindsamkeit zarter Seelen allgemein geworden, denken wir uns ein Volk,
unter dessen Männern keiner wäre, der nicht beim Anblick eines weinenden


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Menschen genug, die thränenlosen Auges und mit rohem Lachen das Spiel
zuckender Glieder im Feuer und auf der Folterbank betrachtet hatten — den
letzten Hexeubrand sah Deutschland im Geburtsjahre Goethes — noch wurde
die qualisizirte Todesstrafe hie und da angewendet, da weinte plötzlich ganz
Deutschland unendliche Thränen über die ungestillte Liebessehnsucht eines
Jünglings. Und heutzutage wird eine Bauersfrau, deren Hühner zu unbe¬
quem eng. im Marktkvrbe sitzen, eine Hausfrau, die ihre Gans an den Beinen
»ach Hause trägt, von der Polizei abgefaßt; nicht zu gedenken der Lehrer, die
auf die Anklagebank müssen, weil ihr Stock eine bläuliche Spur auf dem Rücken
eines ungezogenen Jungen zurückgelassen hat. Im übrigen Europa ist die
Sache ähnlich verlaufen.

Diese Wandlungen des Mitgefühls sind höchst merkwürdig und lehrreich.
Wir sagen absichtlich nicht: diese Entwicklung des Mitgefühls, denn das erste,
was wir hier lernen, ist eben, daß das Mitgefühl sich gar nicht entwickelt hat,
sondern von Anfang an dagewesen ist. Wirkliche Grausamkeit: Fühllosigkeit
beim Anblick der Leiden andrer und Lust daran, die man sich durch Peinigungen
zu verschaffen sucht, trifft man weit öfter bei verhältnismäßig hoch entwickelten
Böllern als bei den Naturvölkern. Die Unterthanen des grausamen Königs
von Dahome gehören zu den zivilisirtesten Negerstämmen. Bei den Natur¬
völkern finden sich neben dem durch Mangel an eßbaren Tieren verursachten
Kannibalismus und gelegentlich an Feinden verübten Grausamkeiten die Affen¬
liebe zu den Kindern und viel Gutmütigkeit gegen Freunde und harmlose
Besucher. Mitgefühl und Wohlwollen sind also angeborne Eigenschaften, die
zwar nicht sofort mit dem Selbstbewußtsein hervortreten — denn auch unsre
Kinder verüben, wenn mau sie nicht abhält, unbewußte Grausamkeiten —, aber
doch, sobald ihnen klar wird, daß die andern bei denselben Anlässen Lust und
Schmerz empfinden wie sie. Was der Fortschritt der Zivilisation leistet, ist
folgendes. Durch Überlegung und Erfahrung wird die Ausübung der Liebe
verständiger; die unklare Empfindung wird zur Idee, zu einem Vorbilde des
Handelns ausgebildet und erhoben; die Bethätigung der Liebe wird in dem
Grade mnnnichfaltiger — freilich auch schwieriger —, als die Beziehungen der
Menschen zu einander sich vervielfältigen und verwickeln. Damit ist zugleich
eine Verfeinerung verbunden. An die Stelle des größten Stückes Fleisch, mit
dem der Naturmensch seinen Gast erfreut, tritt beim zivilisirten die zarte Auf¬
merksamkeit auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse, und während der biedere
Wilde sich nur eben in Acht nimmt, bei Scherz und Spiel seinem Freunde
den Schädel nicht einzuschlagen, meiden wir schon im Gespräch alles, was ihn
verletzen könnte. Aber dieser Fortschritt der Verfeinerung darf nicht ins Un¬
endliche gehen, fondern er hat seine vernünftigen Grenzen. Denken wir uns die
Empfindsamkeit zarter Seelen allgemein geworden, denken wir uns ein Volk,
unter dessen Männern keiner wäre, der nicht beim Anblick eines weinenden


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[0459] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? Menschen genug, die thränenlosen Auges und mit rohem Lachen das Spiel zuckender Glieder im Feuer und auf der Folterbank betrachtet hatten — den letzten Hexeubrand sah Deutschland im Geburtsjahre Goethes — noch wurde die qualisizirte Todesstrafe hie und da angewendet, da weinte plötzlich ganz Deutschland unendliche Thränen über die ungestillte Liebessehnsucht eines Jünglings. Und heutzutage wird eine Bauersfrau, deren Hühner zu unbe¬ quem eng. im Marktkvrbe sitzen, eine Hausfrau, die ihre Gans an den Beinen »ach Hause trägt, von der Polizei abgefaßt; nicht zu gedenken der Lehrer, die auf die Anklagebank müssen, weil ihr Stock eine bläuliche Spur auf dem Rücken eines ungezogenen Jungen zurückgelassen hat. Im übrigen Europa ist die Sache ähnlich verlaufen. Diese Wandlungen des Mitgefühls sind höchst merkwürdig und lehrreich. Wir sagen absichtlich nicht: diese Entwicklung des Mitgefühls, denn das erste, was wir hier lernen, ist eben, daß das Mitgefühl sich gar nicht entwickelt hat, sondern von Anfang an dagewesen ist. Wirkliche Grausamkeit: Fühllosigkeit beim Anblick der Leiden andrer und Lust daran, die man sich durch Peinigungen zu verschaffen sucht, trifft man weit öfter bei verhältnismäßig hoch entwickelten Böllern als bei den Naturvölkern. Die Unterthanen des grausamen Königs von Dahome gehören zu den zivilisirtesten Negerstämmen. Bei den Natur¬ völkern finden sich neben dem durch Mangel an eßbaren Tieren verursachten Kannibalismus und gelegentlich an Feinden verübten Grausamkeiten die Affen¬ liebe zu den Kindern und viel Gutmütigkeit gegen Freunde und harmlose Besucher. Mitgefühl und Wohlwollen sind also angeborne Eigenschaften, die zwar nicht sofort mit dem Selbstbewußtsein hervortreten — denn auch unsre Kinder verüben, wenn mau sie nicht abhält, unbewußte Grausamkeiten —, aber doch, sobald ihnen klar wird, daß die andern bei denselben Anlässen Lust und Schmerz empfinden wie sie. Was der Fortschritt der Zivilisation leistet, ist folgendes. Durch Überlegung und Erfahrung wird die Ausübung der Liebe verständiger; die unklare Empfindung wird zur Idee, zu einem Vorbilde des Handelns ausgebildet und erhoben; die Bethätigung der Liebe wird in dem Grade mnnnichfaltiger — freilich auch schwieriger —, als die Beziehungen der Menschen zu einander sich vervielfältigen und verwickeln. Damit ist zugleich eine Verfeinerung verbunden. An die Stelle des größten Stückes Fleisch, mit dem der Naturmensch seinen Gast erfreut, tritt beim zivilisirten die zarte Auf¬ merksamkeit auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse, und während der biedere Wilde sich nur eben in Acht nimmt, bei Scherz und Spiel seinem Freunde den Schädel nicht einzuschlagen, meiden wir schon im Gespräch alles, was ihn verletzen könnte. Aber dieser Fortschritt der Verfeinerung darf nicht ins Un¬ endliche gehen, fondern er hat seine vernünftigen Grenzen. Denken wir uns die Empfindsamkeit zarter Seelen allgemein geworden, denken wir uns ein Volk, unter dessen Männern keiner wäre, der nicht beim Anblick eines weinenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/459>, abgerufen am 29.06.2024.