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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Kindes selbst mit zu weinen anfinge und der kein Blntströpflein sehen könnte,
ohne ohnmächtig zu werden, ein Volk, bei dem niemand mehr das Herz hätte,
Fleischer, Chirurg, Zahnarzt und -- Unteroffizier zu werden, wäre das ein
Jdealvolk? Nein, es wäre eine lächerliche und verächtliche Gesellschaft von
Schwächlingen. Also das Wohlwollen ist eine angeborne Empfindung, die
sich beim Fortschritt der Zivilisation einerseits oft in ihr Gegenteil verliert,
namentlich unter dem Einflusse des Fanatismus und einer verschrobenen juri¬
stischen Sophistik, anderseits sich klärt, veredelt, verfeinert, auf diesem Wege
aber schließlich in unmännliche Empfindelei und Schwäche ausartet. Der
wirkliche Fortschritt besteht also nur in einer reichern Entfaltung des ursprüng¬
lichen Inhalts und ist nicht so zu verstehen, daß die Menschheit von ursprüng¬
licher Grausamkeit zum Mitgefühl und vou da zu immer feinerer Empfindsam¬
keit aufstiege; vielmehr liegen Ursprung wie Ideal in der Mrtte zwischen diesen
beiden Extremen, und die historische Erscheinung des Mitgefühls schwingt
zwischen ihnen hin und her. Wir dürfen von vornherein vermuten, daß es
sich mit den übrigen sittlichen Empfindungen ähnlich verhalte, und wer sich
die Mühe giebt, nachzuforschen, wird die Vermutung bestätigt finden.

Demnach ist der Fortschritt der Sittlichkeit nicht als Veränderung, sondern
nur als Entfaltung einer ursprünglich gegebenen Empfindung zu denken.
Fragt man dann weiter, ob die Summe der vorhandenen Sittlichkeit wachse,
so ist zu unterscheiden zwischen der Sittlichkeit an sich und ihrem Verhältnis
zur Unsittlichkeit. Die Sittlichkeit an sich wächst, sofern sie einen immer
reichern Inhalt gewinnt, dagegen scheint die Kraft der Selbstüberwindung (der
freiwilligen, nicht polizeilich erzwungenen Selbstüberwindung) und Selbstauf¬
opferung abzunehmen. Die heroischen Tilgenden weichen den bürgerlichen, wie
Hartpole Lecky es ausdrückt. Man muß heute nach Afrika gehen, um den
Heroismus der That zu beweisen; ungesuchte Leiden, deren Ertragung Helden¬
kraft erfordert, legen die heimischen Verhältnisse oft genug auf. Das Massen¬
verhältnis zwischeu Sittlichkeit und Unsittlichkeit zu bestimmen, haben wir kein
Mittel. Die Kriminalstatistik ist keins, wie der große Moralstatistiker Alexander
von Oettingen offen bekennt, und was die Moralstatistik außer ihr an Material
findet, ist äußerst dürftig; eine Statistik der edeln Empfindungen, der Selbst¬
überwindungen, der täglichen Pflichterfüllungen ist nicht möglich. Die Kriminal¬
statistik sagt uns vom vorhandenen Guten gar nichts und vom Bösen sehr
wenig. Es giebt nichtswürdige und ruchlose Menschen, die nicht ein einziges-
mal im Leben mit den Gesetzen in Konflikt geraten, und es giebt rechtschaffene,
edle und hochherzige Menschen, die nach langer, verdienstvoller Lebensarbeit
in einem Augenblick der Übereilung oder der Leidenschaft ein Verbrechen be¬
gehen. Die Führer einer Revolution kommen, je nachdem diese gelingt oder
nicht, in die Verbrecherliste oder in das Pantheon der Nationalhelden. Manches
korrekte Philisterleben ist sittlich wertlos. Zudem häugt es von vielen ver-


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Kindes selbst mit zu weinen anfinge und der kein Blntströpflein sehen könnte,
ohne ohnmächtig zu werden, ein Volk, bei dem niemand mehr das Herz hätte,
Fleischer, Chirurg, Zahnarzt und — Unteroffizier zu werden, wäre das ein
Jdealvolk? Nein, es wäre eine lächerliche und verächtliche Gesellschaft von
Schwächlingen. Also das Wohlwollen ist eine angeborne Empfindung, die
sich beim Fortschritt der Zivilisation einerseits oft in ihr Gegenteil verliert,
namentlich unter dem Einflusse des Fanatismus und einer verschrobenen juri¬
stischen Sophistik, anderseits sich klärt, veredelt, verfeinert, auf diesem Wege
aber schließlich in unmännliche Empfindelei und Schwäche ausartet. Der
wirkliche Fortschritt besteht also nur in einer reichern Entfaltung des ursprüng¬
lichen Inhalts und ist nicht so zu verstehen, daß die Menschheit von ursprüng¬
licher Grausamkeit zum Mitgefühl und vou da zu immer feinerer Empfindsam¬
keit aufstiege; vielmehr liegen Ursprung wie Ideal in der Mrtte zwischen diesen
beiden Extremen, und die historische Erscheinung des Mitgefühls schwingt
zwischen ihnen hin und her. Wir dürfen von vornherein vermuten, daß es
sich mit den übrigen sittlichen Empfindungen ähnlich verhalte, und wer sich
die Mühe giebt, nachzuforschen, wird die Vermutung bestätigt finden.

Demnach ist der Fortschritt der Sittlichkeit nicht als Veränderung, sondern
nur als Entfaltung einer ursprünglich gegebenen Empfindung zu denken.
Fragt man dann weiter, ob die Summe der vorhandenen Sittlichkeit wachse,
so ist zu unterscheiden zwischen der Sittlichkeit an sich und ihrem Verhältnis
zur Unsittlichkeit. Die Sittlichkeit an sich wächst, sofern sie einen immer
reichern Inhalt gewinnt, dagegen scheint die Kraft der Selbstüberwindung (der
freiwilligen, nicht polizeilich erzwungenen Selbstüberwindung) und Selbstauf¬
opferung abzunehmen. Die heroischen Tilgenden weichen den bürgerlichen, wie
Hartpole Lecky es ausdrückt. Man muß heute nach Afrika gehen, um den
Heroismus der That zu beweisen; ungesuchte Leiden, deren Ertragung Helden¬
kraft erfordert, legen die heimischen Verhältnisse oft genug auf. Das Massen¬
verhältnis zwischeu Sittlichkeit und Unsittlichkeit zu bestimmen, haben wir kein
Mittel. Die Kriminalstatistik ist keins, wie der große Moralstatistiker Alexander
von Oettingen offen bekennt, und was die Moralstatistik außer ihr an Material
findet, ist äußerst dürftig; eine Statistik der edeln Empfindungen, der Selbst¬
überwindungen, der täglichen Pflichterfüllungen ist nicht möglich. Die Kriminal¬
statistik sagt uns vom vorhandenen Guten gar nichts und vom Bösen sehr
wenig. Es giebt nichtswürdige und ruchlose Menschen, die nicht ein einziges-
mal im Leben mit den Gesetzen in Konflikt geraten, und es giebt rechtschaffene,
edle und hochherzige Menschen, die nach langer, verdienstvoller Lebensarbeit
in einem Augenblick der Übereilung oder der Leidenschaft ein Verbrechen be¬
gehen. Die Führer einer Revolution kommen, je nachdem diese gelingt oder
nicht, in die Verbrecherliste oder in das Pantheon der Nationalhelden. Manches
korrekte Philisterleben ist sittlich wertlos. Zudem häugt es von vielen ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/460>, abgerufen am 28.09.2024.