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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

der Behandlung der Kriegsgefangnen bei den alten Assyrern und bei uns,
zwischen Sklavenjagden und internationalem Arbeiterschutz, zwischen Molochs¬
opfern und Kleinkinderbewahranstalten! Bei genaueren Hinsehen aber bemerken
wir, daß die im ersten Gliede angeführten Greuel doch auch heute noch nicht
ausgetilgt sind, daß sie nicht allein bei halbzivilisirten und Naturvölkern, sondern
mit Ausnahme der Menschenfresserei und der grausamen Hinschlachtung von
Kriegsgefangenen auch bei uns noch vorkommen, teils als Folgen der Armut,
teils als Verbrechen, die aus bestialischem Gelüste oder aus Grausamkeit be¬
gangen werden. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß schon die alten Athener
einen Mann zum Tode verurteilt haben, der einen Widder lebendig geschunden
hatte. Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, daß bei genauer Abrechnung
das neunzehnte Jahrhundert besser bestehen würde als alle frühern. Unser
deutsches Volk hat für sich allein mit diesem Fortschritt nur ungefähr wieder
die Stufe erreicht, auf der es vor Einführung des Christentums gestanden
hatte. Denn es ist von Natur nicht grausam. In wenn wir heute seine
ursprüngliche Rechtspflege wieder einführen wollten, so würden unsre Kon¬
servativen das als einen abscheulichen Humanitätsschwindel bezeichnen. Aus¬
genommen für wenige Arten von selten vorkommenden Verbrechen, die ehrlos
machten und den Tod uach sich zogen, kannte man weder Leibes- und Lebens-
uoch Freiheitsstrafen; alle Vergehungen einschließlich des Todschlages wurden
mit Wergeld gesühnt. Von weichlicher Empfindsamkeit waren unsre Vorfahren
trotzdem nicht angekränkelt. Sie opferten bei feierlichen Anlässen Sklaven und
Kriegsgefangene -- aber ohne sie zu martern --, sie liebten die Jagd und
den Krieg, und daß es bei ihren Trinkgelagen oft wüst genug Hergegaugen
sein muß, sieht man aus den für abgehauene Glieder und ausgestochene Augen
angesetzten Wergeldern. Freilich stammen diese Gesetzbücher aus der Zeit der
Völkerwanderung, die verwitternd gewirkt haben muß. Bekannt sind ja
namentlich die Unthaten im Hause der Merowinger, bei denen aber zu be¬
achten ist, daß die Franken sehr früh durch Vermischung mit den Gallorvnmnen
ihren deutschen Charakter verloren. Im eigentlichen Deutschland haben die
Geschichtschreiber bis ins dreizehnte Jahrhundert so manche That wilder Leiden¬
schaft und hie und da eine Massenniedermetzelung von Feinden zu berichten, aber
Grausamkeiten wie die am byzantinischen Hofe üblichen kamen kaum vor. Die
Wollust der Grausamkeit wurde in den Deutschen erst erweckt durch die Ein¬
führung des römischen Rechts und der kirchlichen Inquisition. Die einfache
Todesstrafe auch für geringe Vergehungen, die qualifizirte Todesstrafe,
namentlich das Lebendigverbrennen, die Tortur gewöhnten das Volk an den
Anblick gemarterter Mitmenschen und zogen ein Geschlecht von Richtern und
Henkern groß, neben dem Nero als Stümper erscheint. Seinen Höhepunkt
erreichte dieser abscheuliche Wahnsinn im siebzehnten Jahrhundert. Um 1700
läßt er nach und schlägt dann plötzlich in Sentimentalität um. Noch lebten


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

der Behandlung der Kriegsgefangnen bei den alten Assyrern und bei uns,
zwischen Sklavenjagden und internationalem Arbeiterschutz, zwischen Molochs¬
opfern und Kleinkinderbewahranstalten! Bei genaueren Hinsehen aber bemerken
wir, daß die im ersten Gliede angeführten Greuel doch auch heute noch nicht
ausgetilgt sind, daß sie nicht allein bei halbzivilisirten und Naturvölkern, sondern
mit Ausnahme der Menschenfresserei und der grausamen Hinschlachtung von
Kriegsgefangenen auch bei uns noch vorkommen, teils als Folgen der Armut,
teils als Verbrechen, die aus bestialischem Gelüste oder aus Grausamkeit be¬
gangen werden. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß schon die alten Athener
einen Mann zum Tode verurteilt haben, der einen Widder lebendig geschunden
hatte. Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, daß bei genauer Abrechnung
das neunzehnte Jahrhundert besser bestehen würde als alle frühern. Unser
deutsches Volk hat für sich allein mit diesem Fortschritt nur ungefähr wieder
die Stufe erreicht, auf der es vor Einführung des Christentums gestanden
hatte. Denn es ist von Natur nicht grausam. In wenn wir heute seine
ursprüngliche Rechtspflege wieder einführen wollten, so würden unsre Kon¬
servativen das als einen abscheulichen Humanitätsschwindel bezeichnen. Aus¬
genommen für wenige Arten von selten vorkommenden Verbrechen, die ehrlos
machten und den Tod uach sich zogen, kannte man weder Leibes- und Lebens-
uoch Freiheitsstrafen; alle Vergehungen einschließlich des Todschlages wurden
mit Wergeld gesühnt. Von weichlicher Empfindsamkeit waren unsre Vorfahren
trotzdem nicht angekränkelt. Sie opferten bei feierlichen Anlässen Sklaven und
Kriegsgefangene — aber ohne sie zu martern —, sie liebten die Jagd und
den Krieg, und daß es bei ihren Trinkgelagen oft wüst genug Hergegaugen
sein muß, sieht man aus den für abgehauene Glieder und ausgestochene Augen
angesetzten Wergeldern. Freilich stammen diese Gesetzbücher aus der Zeit der
Völkerwanderung, die verwitternd gewirkt haben muß. Bekannt sind ja
namentlich die Unthaten im Hause der Merowinger, bei denen aber zu be¬
achten ist, daß die Franken sehr früh durch Vermischung mit den Gallorvnmnen
ihren deutschen Charakter verloren. Im eigentlichen Deutschland haben die
Geschichtschreiber bis ins dreizehnte Jahrhundert so manche That wilder Leiden¬
schaft und hie und da eine Massenniedermetzelung von Feinden zu berichten, aber
Grausamkeiten wie die am byzantinischen Hofe üblichen kamen kaum vor. Die
Wollust der Grausamkeit wurde in den Deutschen erst erweckt durch die Ein¬
führung des römischen Rechts und der kirchlichen Inquisition. Die einfache
Todesstrafe auch für geringe Vergehungen, die qualifizirte Todesstrafe,
namentlich das Lebendigverbrennen, die Tortur gewöhnten das Volk an den
Anblick gemarterter Mitmenschen und zogen ein Geschlecht von Richtern und
Henkern groß, neben dem Nero als Stümper erscheint. Seinen Höhepunkt
erreichte dieser abscheuliche Wahnsinn im siebzehnten Jahrhundert. Um 1700
läßt er nach und schlägt dann plötzlich in Sentimentalität um. Noch lebten


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[0458] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? der Behandlung der Kriegsgefangnen bei den alten Assyrern und bei uns, zwischen Sklavenjagden und internationalem Arbeiterschutz, zwischen Molochs¬ opfern und Kleinkinderbewahranstalten! Bei genaueren Hinsehen aber bemerken wir, daß die im ersten Gliede angeführten Greuel doch auch heute noch nicht ausgetilgt sind, daß sie nicht allein bei halbzivilisirten und Naturvölkern, sondern mit Ausnahme der Menschenfresserei und der grausamen Hinschlachtung von Kriegsgefangenen auch bei uns noch vorkommen, teils als Folgen der Armut, teils als Verbrechen, die aus bestialischem Gelüste oder aus Grausamkeit be¬ gangen werden. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß schon die alten Athener einen Mann zum Tode verurteilt haben, der einen Widder lebendig geschunden hatte. Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, daß bei genauer Abrechnung das neunzehnte Jahrhundert besser bestehen würde als alle frühern. Unser deutsches Volk hat für sich allein mit diesem Fortschritt nur ungefähr wieder die Stufe erreicht, auf der es vor Einführung des Christentums gestanden hatte. Denn es ist von Natur nicht grausam. In wenn wir heute seine ursprüngliche Rechtspflege wieder einführen wollten, so würden unsre Kon¬ servativen das als einen abscheulichen Humanitätsschwindel bezeichnen. Aus¬ genommen für wenige Arten von selten vorkommenden Verbrechen, die ehrlos machten und den Tod uach sich zogen, kannte man weder Leibes- und Lebens- uoch Freiheitsstrafen; alle Vergehungen einschließlich des Todschlages wurden mit Wergeld gesühnt. Von weichlicher Empfindsamkeit waren unsre Vorfahren trotzdem nicht angekränkelt. Sie opferten bei feierlichen Anlässen Sklaven und Kriegsgefangene — aber ohne sie zu martern —, sie liebten die Jagd und den Krieg, und daß es bei ihren Trinkgelagen oft wüst genug Hergegaugen sein muß, sieht man aus den für abgehauene Glieder und ausgestochene Augen angesetzten Wergeldern. Freilich stammen diese Gesetzbücher aus der Zeit der Völkerwanderung, die verwitternd gewirkt haben muß. Bekannt sind ja namentlich die Unthaten im Hause der Merowinger, bei denen aber zu be¬ achten ist, daß die Franken sehr früh durch Vermischung mit den Gallorvnmnen ihren deutschen Charakter verloren. Im eigentlichen Deutschland haben die Geschichtschreiber bis ins dreizehnte Jahrhundert so manche That wilder Leiden¬ schaft und hie und da eine Massenniedermetzelung von Feinden zu berichten, aber Grausamkeiten wie die am byzantinischen Hofe üblichen kamen kaum vor. Die Wollust der Grausamkeit wurde in den Deutschen erst erweckt durch die Ein¬ führung des römischen Rechts und der kirchlichen Inquisition. Die einfache Todesstrafe auch für geringe Vergehungen, die qualifizirte Todesstrafe, namentlich das Lebendigverbrennen, die Tortur gewöhnten das Volk an den Anblick gemarterter Mitmenschen und zogen ein Geschlecht von Richtern und Henkern groß, neben dem Nero als Stümper erscheint. Seinen Höhepunkt erreichte dieser abscheuliche Wahnsinn im siebzehnten Jahrhundert. Um 1700 läßt er nach und schlägt dann plötzlich in Sentimentalität um. Noch lebten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/458>, abgerufen am 29.06.2024.