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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Die Hebungen und Senkungen jeder einzelnen Tugend bieten ein wenn nicht
gerade durchaus erfreuliches, so doch höchst merkwürdiges Schauspiel. Nehmen
wir nur die zwei heraus, die der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind.
Bei der Mäßigkeit im Genuß gegorener Getränke spielt zunächst der Wohnsitz
jedes Volkes eine größere Rolle als das Zeitalter, in dein es lebt; in kalten
Gegenden liebt man den Weingeist mehr als in heißen. Doch giebt es Aus¬
nahmen; der Neger brennt vor Begier nach allem, was berauscht, der Icmkee
ist nüchtern und ein Zuckerlecker. Von uns Deutschen lassen sich in diesem
Stück viele Heldenthaten berichten, die zwar, wie es Heldenthaten zukommt,
ihre Säuger gefunden haben, deren Nühmlichkeit aber nicht allgemein zuge¬
standen wird. Das Christentum vermochte so wenig über den altgermanischen
Durst, daß die Pfaffheit als Meisterin der Trinkkunst einen Ruf erwarb, den
sie bis heute nicht ganz los zu werden vermochte, und der dem wackern Grützner
seine schone Villa hat banen helfen. Mehr vermochte die Eitelkeit. Die den
Romanen entlehnte feine Rittersitte verbot den Rausch; wie der Ritter eine Ehre
darein setzte, bei seinen Festen zu "tanzen, lachen unde singen lire Dörperheit,"
ohne bäuerisches Wesen, so mied er auch wüste Gelage, und trank den Wein
mit Wasser gemischt. Zuverlässige Nachrichten lassen erkennen, daß dieses
Beispiel auf das gemeine Volk nicht ohne Einfluß blieb. Mit dem Verfall
des Rittertums nahm die Trunksucht überHand. Im sechzehnten Jahrhundert
trügt der Junker Hans von Schweinichcn in sein Neisetagebuch jeden Morgen
den Rausch vom vorigen Abend ein, und ausländische Diplomaten, die im
siebzehnten Jahrhundert an den kursächsischen Hof gesendet wurden, mußten
sich vorher mit dem Humpen trciiniren, wenn sie nicht jeden Tag unter den
Tisch getrunken werden wollten, ehe sie ihren Auftrag zur Sprache brachten.
So schlimm ist es nun heute glücklicherweise nicht mehr; doch dürfte die Ver¬
minderung der Räusche in den höhern Ständen nicht durchweg der allgemeinen
Mäßigkeit, sondern teilweise einer größern Fassungskraft zu danken sein.
Auch bei den Engländern, Schotten, Skandinaviern und Russen hat die Trunk¬
sucht in den höher" Ständen seit zweihundert Jahren merklich abgenommen,
ist dagegen bei den niedern Klassen gerade im laufenden Jahrhundert gewaltig
gestiegen. Vielleicht auch bei uns, jedenfalls aber nicht in dem Grade wie
dort. In Italien scheint die Sache umgekehrt verlaufen zu sein. Nach den
Novellisten des vierzehnten Jahrhunderts zu schließen, war starkes Zechen da¬
mals nichts ungewöhnliches; wie mäßig die heutigen Italiener sind, ist all¬
gemein bekannt. Verständige Überlegung scheint also doch nicht unbeteiligt zu
sein bei einer Tugend, die wir Nordländer gern zu eigner Beruhigung für eine
unvermeidliche Wirkung des Klimas halten.

Weit ""zweifelhafter und erfreulicher erscheint aus den ersten Blick der
Fortschritt, den das Mitgefühl mit den Leiden andrer gemacht hat. Welch ein
Abstand zwischen dein Kannibalen und dem Tierschutzvereinsmitglied, zwischen


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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Die Hebungen und Senkungen jeder einzelnen Tugend bieten ein wenn nicht
gerade durchaus erfreuliches, so doch höchst merkwürdiges Schauspiel. Nehmen
wir nur die zwei heraus, die der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind.
Bei der Mäßigkeit im Genuß gegorener Getränke spielt zunächst der Wohnsitz
jedes Volkes eine größere Rolle als das Zeitalter, in dein es lebt; in kalten
Gegenden liebt man den Weingeist mehr als in heißen. Doch giebt es Aus¬
nahmen; der Neger brennt vor Begier nach allem, was berauscht, der Icmkee
ist nüchtern und ein Zuckerlecker. Von uns Deutschen lassen sich in diesem
Stück viele Heldenthaten berichten, die zwar, wie es Heldenthaten zukommt,
ihre Säuger gefunden haben, deren Nühmlichkeit aber nicht allgemein zuge¬
standen wird. Das Christentum vermochte so wenig über den altgermanischen
Durst, daß die Pfaffheit als Meisterin der Trinkkunst einen Ruf erwarb, den
sie bis heute nicht ganz los zu werden vermochte, und der dem wackern Grützner
seine schone Villa hat banen helfen. Mehr vermochte die Eitelkeit. Die den
Romanen entlehnte feine Rittersitte verbot den Rausch; wie der Ritter eine Ehre
darein setzte, bei seinen Festen zu „tanzen, lachen unde singen lire Dörperheit,"
ohne bäuerisches Wesen, so mied er auch wüste Gelage, und trank den Wein
mit Wasser gemischt. Zuverlässige Nachrichten lassen erkennen, daß dieses
Beispiel auf das gemeine Volk nicht ohne Einfluß blieb. Mit dem Verfall
des Rittertums nahm die Trunksucht überHand. Im sechzehnten Jahrhundert
trügt der Junker Hans von Schweinichcn in sein Neisetagebuch jeden Morgen
den Rausch vom vorigen Abend ein, und ausländische Diplomaten, die im
siebzehnten Jahrhundert an den kursächsischen Hof gesendet wurden, mußten
sich vorher mit dem Humpen trciiniren, wenn sie nicht jeden Tag unter den
Tisch getrunken werden wollten, ehe sie ihren Auftrag zur Sprache brachten.
So schlimm ist es nun heute glücklicherweise nicht mehr; doch dürfte die Ver¬
minderung der Räusche in den höhern Ständen nicht durchweg der allgemeinen
Mäßigkeit, sondern teilweise einer größern Fassungskraft zu danken sein.
Auch bei den Engländern, Schotten, Skandinaviern und Russen hat die Trunk¬
sucht in den höher» Ständen seit zweihundert Jahren merklich abgenommen,
ist dagegen bei den niedern Klassen gerade im laufenden Jahrhundert gewaltig
gestiegen. Vielleicht auch bei uns, jedenfalls aber nicht in dem Grade wie
dort. In Italien scheint die Sache umgekehrt verlaufen zu sein. Nach den
Novellisten des vierzehnten Jahrhunderts zu schließen, war starkes Zechen da¬
mals nichts ungewöhnliches; wie mäßig die heutigen Italiener sind, ist all¬
gemein bekannt. Verständige Überlegung scheint also doch nicht unbeteiligt zu
sein bei einer Tugend, die wir Nordländer gern zu eigner Beruhigung für eine
unvermeidliche Wirkung des Klimas halten.

Weit »»zweifelhafter und erfreulicher erscheint aus den ersten Blick der
Fortschritt, den das Mitgefühl mit den Leiden andrer gemacht hat. Welch ein
Abstand zwischen dein Kannibalen und dem Tierschutzvereinsmitglied, zwischen


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[0457] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? Die Hebungen und Senkungen jeder einzelnen Tugend bieten ein wenn nicht gerade durchaus erfreuliches, so doch höchst merkwürdiges Schauspiel. Nehmen wir nur die zwei heraus, die der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind. Bei der Mäßigkeit im Genuß gegorener Getränke spielt zunächst der Wohnsitz jedes Volkes eine größere Rolle als das Zeitalter, in dein es lebt; in kalten Gegenden liebt man den Weingeist mehr als in heißen. Doch giebt es Aus¬ nahmen; der Neger brennt vor Begier nach allem, was berauscht, der Icmkee ist nüchtern und ein Zuckerlecker. Von uns Deutschen lassen sich in diesem Stück viele Heldenthaten berichten, die zwar, wie es Heldenthaten zukommt, ihre Säuger gefunden haben, deren Nühmlichkeit aber nicht allgemein zuge¬ standen wird. Das Christentum vermochte so wenig über den altgermanischen Durst, daß die Pfaffheit als Meisterin der Trinkkunst einen Ruf erwarb, den sie bis heute nicht ganz los zu werden vermochte, und der dem wackern Grützner seine schone Villa hat banen helfen. Mehr vermochte die Eitelkeit. Die den Romanen entlehnte feine Rittersitte verbot den Rausch; wie der Ritter eine Ehre darein setzte, bei seinen Festen zu „tanzen, lachen unde singen lire Dörperheit," ohne bäuerisches Wesen, so mied er auch wüste Gelage, und trank den Wein mit Wasser gemischt. Zuverlässige Nachrichten lassen erkennen, daß dieses Beispiel auf das gemeine Volk nicht ohne Einfluß blieb. Mit dem Verfall des Rittertums nahm die Trunksucht überHand. Im sechzehnten Jahrhundert trügt der Junker Hans von Schweinichcn in sein Neisetagebuch jeden Morgen den Rausch vom vorigen Abend ein, und ausländische Diplomaten, die im siebzehnten Jahrhundert an den kursächsischen Hof gesendet wurden, mußten sich vorher mit dem Humpen trciiniren, wenn sie nicht jeden Tag unter den Tisch getrunken werden wollten, ehe sie ihren Auftrag zur Sprache brachten. So schlimm ist es nun heute glücklicherweise nicht mehr; doch dürfte die Ver¬ minderung der Räusche in den höhern Ständen nicht durchweg der allgemeinen Mäßigkeit, sondern teilweise einer größern Fassungskraft zu danken sein. Auch bei den Engländern, Schotten, Skandinaviern und Russen hat die Trunk¬ sucht in den höher» Ständen seit zweihundert Jahren merklich abgenommen, ist dagegen bei den niedern Klassen gerade im laufenden Jahrhundert gewaltig gestiegen. Vielleicht auch bei uns, jedenfalls aber nicht in dem Grade wie dort. In Italien scheint die Sache umgekehrt verlaufen zu sein. Nach den Novellisten des vierzehnten Jahrhunderts zu schließen, war starkes Zechen da¬ mals nichts ungewöhnliches; wie mäßig die heutigen Italiener sind, ist all¬ gemein bekannt. Verständige Überlegung scheint also doch nicht unbeteiligt zu sein bei einer Tugend, die wir Nordländer gern zu eigner Beruhigung für eine unvermeidliche Wirkung des Klimas halten. Weit »»zweifelhafter und erfreulicher erscheint aus den ersten Blick der Fortschritt, den das Mitgefühl mit den Leiden andrer gemacht hat. Welch ein Abstand zwischen dein Kannibalen und dem Tierschutzvereinsmitglied, zwischen Grenzboten III 1L90 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/457>, abgerufen am 28.09.2024.