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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Menschen schwer versagen können, ein wenig glücklich zu sein; wie denn auch
der größte der jetzt lebenden pessimistischen Philosophen, der ein außerordentlich
liebenswürdiger und guter Herr ist, selbst schreibt: Wer glückliche Menschen
sehen will, der komme zu uns Pessimisten.

Der Fortschritt der Sittlichkeit kann in doppelter Weise gedacht werden:
als Erhöhung des sittlichen Ideals und als zunehmende Verwirklichung eines
zu allen Zeiten unveränderlichen Ideals dnrch eine immer größere Zahl von
Menschen. Die Darwinianer würden die erste Art des Fortschritts zu lehren
genötigt sein, wenn bei ihnen überhaupt von einem Ideal die Rede sein könnte.
Ihnen und den verwandten Richtungen gegenüber hat Buckle die UnVeränder¬
lichkeit der sittlichen Begriffe behauptet und nur den Fortschritt im andern
Sinne zugegeben, und zwar nicht durch stetige Erhöhung der sittlichen Kraft,
sondern nur durch wachsende Einsicht in die Vernünftigkeit des Sittlichen und
durch Wegräumung materieller Hindernisse. Das orthodoxe Christentum stellt,
auf die Bibel gestützt, den Verlauf der sittlichen Entwicklung etwa folgender¬
maßen dar. Vom Zustande der Gottähnlichkeit sinkt Adam in den Zustand
der Sünde herab. Das Verderben seiner Nachkommenschaft steigt, bis sie durch
die große Flut vertilgt wird. Von dieser aus scheidet sich der Strom der
Menschheit in zwei ungleiche Arme. Der gewaltig große, die Heidenwelt,
versinkt in immer größere Ruchlosigkeit, der winzig kleine, das Judentum,
bewegt sich im allgemeinen in aufsteigender Linie, weniger durch sittliche Er¬
hebung, als durch die dem wachsenden Schuldbewußtsein entsprechend wachsende
Sehnsucht darnach. Durch die Menschwerdung Gottes wird das höchste
sittliche Ideal mit einem Schlage verwirklicht und der Menschheit die Mög¬
lichkeit dargeboten, durch den Glauben, wie die einen, durch Liebe und Gnade,
wie die andern sagen, diesen neuen Menschen anzuziehen. Insofern das eine
immer größere Zahl vou Menschen thut, kann von einem sittlichen Fortschritt
der Menschheit gesprochen werdeu. Aber überwunden wird das Böse hienieden
niemals; ja am Ende der Zeiten wird es sich zu gewaltiger Höhe ausbäumen
und in der Person des Widerchrists, des Menschen der Sünde, dem Gott- und
Menschensohne die Stiru bieten, bis ihn "der Herr Jesus mit dem Hauche
seines Mundes zu nichte macht" und nach Abhaltung des Weltgerichts die
Welt in einem Läuterungsfeuer erneuert. In dieses Drama schaltet der
Protestantismus noch die Episode des Verderbens der Kirche unterm Papsttum
und ihre Erneuerung durch Luther ein.

Fassen wir nun, von der Theorie zur Erfahrung übergehend, einzelne
Seiten des sittlichen Lebens ins Auge, so bemerken wir jenes Auf- und Ab¬
steigen, das dem alles überschauenden Ranke das Geständnis abnötigte, er
vermöge einen Fortschritt der Gesaintsittlichkeit (in der zweiten der oben an¬
gegebenen beiden Bedeutungen) nicht zu erkennen; die Summe des Guten wie
des Bösen scheine sich durch allen Wandel der Zeiten hindurch gleich zu bleiben.


Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er?

Menschen schwer versagen können, ein wenig glücklich zu sein; wie denn auch
der größte der jetzt lebenden pessimistischen Philosophen, der ein außerordentlich
liebenswürdiger und guter Herr ist, selbst schreibt: Wer glückliche Menschen
sehen will, der komme zu uns Pessimisten.

Der Fortschritt der Sittlichkeit kann in doppelter Weise gedacht werden:
als Erhöhung des sittlichen Ideals und als zunehmende Verwirklichung eines
zu allen Zeiten unveränderlichen Ideals dnrch eine immer größere Zahl von
Menschen. Die Darwinianer würden die erste Art des Fortschritts zu lehren
genötigt sein, wenn bei ihnen überhaupt von einem Ideal die Rede sein könnte.
Ihnen und den verwandten Richtungen gegenüber hat Buckle die UnVeränder¬
lichkeit der sittlichen Begriffe behauptet und nur den Fortschritt im andern
Sinne zugegeben, und zwar nicht durch stetige Erhöhung der sittlichen Kraft,
sondern nur durch wachsende Einsicht in die Vernünftigkeit des Sittlichen und
durch Wegräumung materieller Hindernisse. Das orthodoxe Christentum stellt,
auf die Bibel gestützt, den Verlauf der sittlichen Entwicklung etwa folgender¬
maßen dar. Vom Zustande der Gottähnlichkeit sinkt Adam in den Zustand
der Sünde herab. Das Verderben seiner Nachkommenschaft steigt, bis sie durch
die große Flut vertilgt wird. Von dieser aus scheidet sich der Strom der
Menschheit in zwei ungleiche Arme. Der gewaltig große, die Heidenwelt,
versinkt in immer größere Ruchlosigkeit, der winzig kleine, das Judentum,
bewegt sich im allgemeinen in aufsteigender Linie, weniger durch sittliche Er¬
hebung, als durch die dem wachsenden Schuldbewußtsein entsprechend wachsende
Sehnsucht darnach. Durch die Menschwerdung Gottes wird das höchste
sittliche Ideal mit einem Schlage verwirklicht und der Menschheit die Mög¬
lichkeit dargeboten, durch den Glauben, wie die einen, durch Liebe und Gnade,
wie die andern sagen, diesen neuen Menschen anzuziehen. Insofern das eine
immer größere Zahl vou Menschen thut, kann von einem sittlichen Fortschritt
der Menschheit gesprochen werdeu. Aber überwunden wird das Böse hienieden
niemals; ja am Ende der Zeiten wird es sich zu gewaltiger Höhe ausbäumen
und in der Person des Widerchrists, des Menschen der Sünde, dem Gott- und
Menschensohne die Stiru bieten, bis ihn „der Herr Jesus mit dem Hauche
seines Mundes zu nichte macht" und nach Abhaltung des Weltgerichts die
Welt in einem Läuterungsfeuer erneuert. In dieses Drama schaltet der
Protestantismus noch die Episode des Verderbens der Kirche unterm Papsttum
und ihre Erneuerung durch Luther ein.

Fassen wir nun, von der Theorie zur Erfahrung übergehend, einzelne
Seiten des sittlichen Lebens ins Auge, so bemerken wir jenes Auf- und Ab¬
steigen, das dem alles überschauenden Ranke das Geständnis abnötigte, er
vermöge einen Fortschritt der Gesaintsittlichkeit (in der zweiten der oben an¬
gegebenen beiden Bedeutungen) nicht zu erkennen; die Summe des Guten wie
des Bösen scheine sich durch allen Wandel der Zeiten hindurch gleich zu bleiben.


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[0456] Giebt es einen sittlichen Fortschritt, und worin besteht er? Menschen schwer versagen können, ein wenig glücklich zu sein; wie denn auch der größte der jetzt lebenden pessimistischen Philosophen, der ein außerordentlich liebenswürdiger und guter Herr ist, selbst schreibt: Wer glückliche Menschen sehen will, der komme zu uns Pessimisten. Der Fortschritt der Sittlichkeit kann in doppelter Weise gedacht werden: als Erhöhung des sittlichen Ideals und als zunehmende Verwirklichung eines zu allen Zeiten unveränderlichen Ideals dnrch eine immer größere Zahl von Menschen. Die Darwinianer würden die erste Art des Fortschritts zu lehren genötigt sein, wenn bei ihnen überhaupt von einem Ideal die Rede sein könnte. Ihnen und den verwandten Richtungen gegenüber hat Buckle die UnVeränder¬ lichkeit der sittlichen Begriffe behauptet und nur den Fortschritt im andern Sinne zugegeben, und zwar nicht durch stetige Erhöhung der sittlichen Kraft, sondern nur durch wachsende Einsicht in die Vernünftigkeit des Sittlichen und durch Wegräumung materieller Hindernisse. Das orthodoxe Christentum stellt, auf die Bibel gestützt, den Verlauf der sittlichen Entwicklung etwa folgender¬ maßen dar. Vom Zustande der Gottähnlichkeit sinkt Adam in den Zustand der Sünde herab. Das Verderben seiner Nachkommenschaft steigt, bis sie durch die große Flut vertilgt wird. Von dieser aus scheidet sich der Strom der Menschheit in zwei ungleiche Arme. Der gewaltig große, die Heidenwelt, versinkt in immer größere Ruchlosigkeit, der winzig kleine, das Judentum, bewegt sich im allgemeinen in aufsteigender Linie, weniger durch sittliche Er¬ hebung, als durch die dem wachsenden Schuldbewußtsein entsprechend wachsende Sehnsucht darnach. Durch die Menschwerdung Gottes wird das höchste sittliche Ideal mit einem Schlage verwirklicht und der Menschheit die Mög¬ lichkeit dargeboten, durch den Glauben, wie die einen, durch Liebe und Gnade, wie die andern sagen, diesen neuen Menschen anzuziehen. Insofern das eine immer größere Zahl vou Menschen thut, kann von einem sittlichen Fortschritt der Menschheit gesprochen werdeu. Aber überwunden wird das Böse hienieden niemals; ja am Ende der Zeiten wird es sich zu gewaltiger Höhe ausbäumen und in der Person des Widerchrists, des Menschen der Sünde, dem Gott- und Menschensohne die Stiru bieten, bis ihn „der Herr Jesus mit dem Hauche seines Mundes zu nichte macht" und nach Abhaltung des Weltgerichts die Welt in einem Läuterungsfeuer erneuert. In dieses Drama schaltet der Protestantismus noch die Episode des Verderbens der Kirche unterm Papsttum und ihre Erneuerung durch Luther ein. Fassen wir nun, von der Theorie zur Erfahrung übergehend, einzelne Seiten des sittlichen Lebens ins Auge, so bemerken wir jenes Auf- und Ab¬ steigen, das dem alles überschauenden Ranke das Geständnis abnötigte, er vermöge einen Fortschritt der Gesaintsittlichkeit (in der zweiten der oben an¬ gegebenen beiden Bedeutungen) nicht zu erkennen; die Summe des Guten wie des Bösen scheine sich durch allen Wandel der Zeiten hindurch gleich zu bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/456>, abgerufen am 26.06.2024.