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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Sudermanns Lrzählnngeit

der letzten Zeit infolge der Überanstrengung und Aufregung überreizt, um die
Theorie des Dichters in Praxis umsetzen zu können. In diesem Zustande,
wo sie sich auf dem gemeinen, aber sehr eindringlich begründeten und damit
entschuldigten Wunsche "O mochte sie sterben!" ertappt, wird sie Hypochonder,
verachtet sich selbst, und als Robert in der That einige Zeit nach dem Tode
seiner Frau um die Schwester, die ihn liebt, anhält, bringt sie sich mit
Morphium um. Anstatt zu entsagen, entschließt sie sich lieber, zu sterben.
Das findet Sudermann schöner, folgerichtiger. Aber es ist doch nur die That
einer Seelenkrauken und darum ohne wahre Tragik.

In der Form ist diese Novelle sehr geschickt. Sie erzählt analytisch.
Mit dem Selbstmorde des schönen Mädchens setzt sie spannungsvoll ein, und
nun soll die Frage gelöst werden, die in der ganzen Familie, im ganzen
Städtchen auf aller Lippen schwebt: "Warum ist sie gestorben?" Das ist
sehr effektvoll. Auch sonst weist die Novelle viele Schönheiten auf: in der
Charakteristik der Figuren, die wirklich überzeugend und schneidig ist, zumal
in der Mutter Roberts, wie auch in der Schilderung der Liebe zwischen Robert
und den zwei so ganz ungleichen Schwestern. Wir blicken in das tägliche
Leben des mittlern deutschen Gutsbesitzers, wie der sich plagen muß, um von
seinen: bescheidnen Grundbesitz eine große Familie zu ernähren, wie das Geld¬
bedürfnis die Herzen verhärtet, gemein und kleinlich macht, wie die Menschen
rohe Egoisten werden und es gar nicht einmal merken. Das alles ist vor¬
trefflich gemacht, bis auf den Schluß, wo Silbermann in Ibsens Manier die
Maske fallen läßt und zu doziren beginnt.

Die Vereinigung von Lehre und Erzählung, wo jede Geschichte zum kon¬
kreten Beispiel für eine allgemeine Wahrheit oder Vevbachtnng dienen muß,
hat Silbermann in den "zwanglosen Geschichten": Im Zwielicht aufs artigste
und amüsanteste durchgeführt. Da zeigt er sich als den Mann von Geist und
Weltkenntnis, der sich mit heiterer Ironie, die zuweilen in strengere Satire
hinübcrspielt, über die Fehler der Berliner Gesellschaft, zumal ihrer Frauen
lustig machen kann. Ohne verletzend zu werden, ohne eigentliche Bitterkeit
sagt er dieser Gesellschaft die Wahrheit, wie er sie als Dichter und Kenner der
reinen Natur fühlt. Sämtliche Geschichten sind von einem feinen Rahmen
umgeben, es sind pikante und fesselnde Plaudereien, die zugleich für den er¬
finderischen Geist Sudermanns sprechen.

Nach all dem Lobens- und Tadelnswerten, was wir ohne Vorein¬
genommenheit über Sudermanns Erzählungen zu sagen hatten, erscheint er uns
zwar nicht als eines jener dichterischen Talente, wofür ihn seine Umgebung
gern ausgebe" möchte, es steckt noch viel zu viel Prosa in seinen Erzählungen;
aber er hat starken Sinn für eine effektvolle Form, er versteht sich aufs Packen,
aufs Fesseln und aufs Erschüttern, und der geborne Dramatiker ist überall in
seinen Werken erkennbar. Läntert er sich auch noch rein menschlich -- er ist


Grenzboten 111 1890 63
Hermann Sudermanns Lrzählnngeit

der letzten Zeit infolge der Überanstrengung und Aufregung überreizt, um die
Theorie des Dichters in Praxis umsetzen zu können. In diesem Zustande,
wo sie sich auf dem gemeinen, aber sehr eindringlich begründeten und damit
entschuldigten Wunsche „O mochte sie sterben!" ertappt, wird sie Hypochonder,
verachtet sich selbst, und als Robert in der That einige Zeit nach dem Tode
seiner Frau um die Schwester, die ihn liebt, anhält, bringt sie sich mit
Morphium um. Anstatt zu entsagen, entschließt sie sich lieber, zu sterben.
Das findet Sudermann schöner, folgerichtiger. Aber es ist doch nur die That
einer Seelenkrauken und darum ohne wahre Tragik.

In der Form ist diese Novelle sehr geschickt. Sie erzählt analytisch.
Mit dem Selbstmorde des schönen Mädchens setzt sie spannungsvoll ein, und
nun soll die Frage gelöst werden, die in der ganzen Familie, im ganzen
Städtchen auf aller Lippen schwebt: „Warum ist sie gestorben?" Das ist
sehr effektvoll. Auch sonst weist die Novelle viele Schönheiten auf: in der
Charakteristik der Figuren, die wirklich überzeugend und schneidig ist, zumal
in der Mutter Roberts, wie auch in der Schilderung der Liebe zwischen Robert
und den zwei so ganz ungleichen Schwestern. Wir blicken in das tägliche
Leben des mittlern deutschen Gutsbesitzers, wie der sich plagen muß, um von
seinen: bescheidnen Grundbesitz eine große Familie zu ernähren, wie das Geld¬
bedürfnis die Herzen verhärtet, gemein und kleinlich macht, wie die Menschen
rohe Egoisten werden und es gar nicht einmal merken. Das alles ist vor¬
trefflich gemacht, bis auf den Schluß, wo Silbermann in Ibsens Manier die
Maske fallen läßt und zu doziren beginnt.

Die Vereinigung von Lehre und Erzählung, wo jede Geschichte zum kon¬
kreten Beispiel für eine allgemeine Wahrheit oder Vevbachtnng dienen muß,
hat Silbermann in den „zwanglosen Geschichten": Im Zwielicht aufs artigste
und amüsanteste durchgeführt. Da zeigt er sich als den Mann von Geist und
Weltkenntnis, der sich mit heiterer Ironie, die zuweilen in strengere Satire
hinübcrspielt, über die Fehler der Berliner Gesellschaft, zumal ihrer Frauen
lustig machen kann. Ohne verletzend zu werden, ohne eigentliche Bitterkeit
sagt er dieser Gesellschaft die Wahrheit, wie er sie als Dichter und Kenner der
reinen Natur fühlt. Sämtliche Geschichten sind von einem feinen Rahmen
umgeben, es sind pikante und fesselnde Plaudereien, die zugleich für den er¬
finderischen Geist Sudermanns sprechen.

Nach all dem Lobens- und Tadelnswerten, was wir ohne Vorein¬
genommenheit über Sudermanns Erzählungen zu sagen hatten, erscheint er uns
zwar nicht als eines jener dichterischen Talente, wofür ihn seine Umgebung
gern ausgebe» möchte, es steckt noch viel zu viel Prosa in seinen Erzählungen;
aber er hat starken Sinn für eine effektvolle Form, er versteht sich aufs Packen,
aufs Fesseln und aufs Erschüttern, und der geborne Dramatiker ist überall in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/425>, abgerufen am 29.06.2024.