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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Sudermanns Erzählungen

behauptet, sie stünden im Werte "dicht" bei einander, und das Urteil eines
Dichters muß doch etwas wert sein. Nein, es ist gar nichts weiter wert,
als -- angemerkt zu werden.

Die zweite Novelle der "Geschwister" tragt vollends den Charakter pro¬
saischer Lehrhaftigkeit mit glänzender Technik, wie er den Werken Ibsens an¬
haftet. Im "Wunsch" vereinigt sich Sudermanns Freude an der Gestaltung
der sinnlichen Leidenschaft mit seiner Teilnahme sür hypochondrische Naturen;
ja er erklärt hier den überspannten Kopf für den rechten sittlichen Muster¬
menschen. Er hat nämlich die Beobachtung gemacht, daß jeder Mensch ein
oder das andre mal in die Lage kommt, eine "Gemeinheit" zu begehen; so
z. B. wenn er ein andres Wesen liebt und gern besitzen möchte, das schon an
einen dritten Menschen gebunden ist; da kaun der Wunsch in uns aufsteigen,
daß dieser dritte Mensch vom Erdboden verschwinde, sterbe, damit wir un¬
gehindert in den leidenschaftlich geliebten Besitz gelangen. Dieser Wunsch nnn
ist die Gemeinheit, über die zwar die meisten gesunden Naturen im Laufe der
Zeit, die mit ihren neuen Eindrücken ältere Gefühle verdunkelt und in Ver¬
gessenheit bringt, leicht, innerliche Naturen aber, die neuen Eindrücken, weil
sie sich mit sich selbst so viel beschäftigen, weniger zugänglich find, z. B. hypo¬
chondrische Männer, hysterische Frauen, nicht so leicht hinweggekommen. Die
letztern erklärt Sudermann in seinem sittlichen Rigorismus sür die wahrhaft
Sittlichen. Das ist der echte Ibsen, aber nicht die Gesinnung eines Dichters,
der die menschliche Natur nach dem normalen Maße zeichnet und sich auf
Seiten der Gesundheit stellt. Der Kampf jedes Menschen mit den bösen Ge¬
lüsten in ihm ist allerdings das ergiebigste Feld der Poesie, und sie hat sich
bis jetzt nur um den Sieg des Guten oder um den Sieg des schlechten Prinzips
in der Menschenbrust gekümmert. Sudermann ist es vorbehalten geblieben,
weder das eine noch das andre zu verfolge", sondern beim Wunsch noch vor
der That stehen zu bleiben und die wahre Tragik in der Feigheit des Menschen
zu erkennen, in der krankhaften Schwäche, die den Tod der Entsagung vorzieht.
Übrigens hat er mit sehr viel Geschick das Exempel für seine Theorie aufgestellt.

Zwei Schwester" lieben denselben Mann, wie sie sich auch unter einander
ehrlich lieben. Dieser Man", Robert Hettinger, ist ein dem Helden der "Frau
Sorge" ähnlicher Mensch. Von deu Schwestern ist die ältere so zart und
schwach, daß sie zu dein großen, starken Robert weit weniger paßt, als die
jüngere, kraftvolle. Trotzdem heiratet die unpassende den von beiden geliebten
Robert und gerät im ersten Wochenbett schon an den Rand des Todes. Da
wird sie gepflegt von der jüngern Schwester, und am Bett der Kranken steigt
in der leidenschaftlichen Pflegerin der Wunsch auf: "O möchte sie sterben!"
Sudermann hat alles Mögliche gethan, unsre Sympathie für seine Heldin
nicht zu verscheuchen, er hat sie mit allen möglichen Tugenden und glänzenden
Eigenschaften ausgestattet. Sie ist ein normaler Mensch und wird nur in


Hermann Sudermanns Erzählungen

behauptet, sie stünden im Werte „dicht" bei einander, und das Urteil eines
Dichters muß doch etwas wert sein. Nein, es ist gar nichts weiter wert,
als — angemerkt zu werden.

Die zweite Novelle der „Geschwister" tragt vollends den Charakter pro¬
saischer Lehrhaftigkeit mit glänzender Technik, wie er den Werken Ibsens an¬
haftet. Im „Wunsch" vereinigt sich Sudermanns Freude an der Gestaltung
der sinnlichen Leidenschaft mit seiner Teilnahme sür hypochondrische Naturen;
ja er erklärt hier den überspannten Kopf für den rechten sittlichen Muster¬
menschen. Er hat nämlich die Beobachtung gemacht, daß jeder Mensch ein
oder das andre mal in die Lage kommt, eine „Gemeinheit" zu begehen; so
z. B. wenn er ein andres Wesen liebt und gern besitzen möchte, das schon an
einen dritten Menschen gebunden ist; da kaun der Wunsch in uns aufsteigen,
daß dieser dritte Mensch vom Erdboden verschwinde, sterbe, damit wir un¬
gehindert in den leidenschaftlich geliebten Besitz gelangen. Dieser Wunsch nnn
ist die Gemeinheit, über die zwar die meisten gesunden Naturen im Laufe der
Zeit, die mit ihren neuen Eindrücken ältere Gefühle verdunkelt und in Ver¬
gessenheit bringt, leicht, innerliche Naturen aber, die neuen Eindrücken, weil
sie sich mit sich selbst so viel beschäftigen, weniger zugänglich find, z. B. hypo¬
chondrische Männer, hysterische Frauen, nicht so leicht hinweggekommen. Die
letztern erklärt Sudermann in seinem sittlichen Rigorismus sür die wahrhaft
Sittlichen. Das ist der echte Ibsen, aber nicht die Gesinnung eines Dichters,
der die menschliche Natur nach dem normalen Maße zeichnet und sich auf
Seiten der Gesundheit stellt. Der Kampf jedes Menschen mit den bösen Ge¬
lüsten in ihm ist allerdings das ergiebigste Feld der Poesie, und sie hat sich
bis jetzt nur um den Sieg des Guten oder um den Sieg des schlechten Prinzips
in der Menschenbrust gekümmert. Sudermann ist es vorbehalten geblieben,
weder das eine noch das andre zu verfolge», sondern beim Wunsch noch vor
der That stehen zu bleiben und die wahre Tragik in der Feigheit des Menschen
zu erkennen, in der krankhaften Schwäche, die den Tod der Entsagung vorzieht.
Übrigens hat er mit sehr viel Geschick das Exempel für seine Theorie aufgestellt.

Zwei Schwester» lieben denselben Mann, wie sie sich auch unter einander
ehrlich lieben. Dieser Man», Robert Hettinger, ist ein dem Helden der „Frau
Sorge" ähnlicher Mensch. Von deu Schwestern ist die ältere so zart und
schwach, daß sie zu dein großen, starken Robert weit weniger paßt, als die
jüngere, kraftvolle. Trotzdem heiratet die unpassende den von beiden geliebten
Robert und gerät im ersten Wochenbett schon an den Rand des Todes. Da
wird sie gepflegt von der jüngern Schwester, und am Bett der Kranken steigt
in der leidenschaftlichen Pflegerin der Wunsch auf: „O möchte sie sterben!"
Sudermann hat alles Mögliche gethan, unsre Sympathie für seine Heldin
nicht zu verscheuchen, er hat sie mit allen möglichen Tugenden und glänzenden
Eigenschaften ausgestattet. Sie ist ein normaler Mensch und wird nur in


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[0424] Hermann Sudermanns Erzählungen behauptet, sie stünden im Werte „dicht" bei einander, und das Urteil eines Dichters muß doch etwas wert sein. Nein, es ist gar nichts weiter wert, als — angemerkt zu werden. Die zweite Novelle der „Geschwister" tragt vollends den Charakter pro¬ saischer Lehrhaftigkeit mit glänzender Technik, wie er den Werken Ibsens an¬ haftet. Im „Wunsch" vereinigt sich Sudermanns Freude an der Gestaltung der sinnlichen Leidenschaft mit seiner Teilnahme sür hypochondrische Naturen; ja er erklärt hier den überspannten Kopf für den rechten sittlichen Muster¬ menschen. Er hat nämlich die Beobachtung gemacht, daß jeder Mensch ein oder das andre mal in die Lage kommt, eine „Gemeinheit" zu begehen; so z. B. wenn er ein andres Wesen liebt und gern besitzen möchte, das schon an einen dritten Menschen gebunden ist; da kaun der Wunsch in uns aufsteigen, daß dieser dritte Mensch vom Erdboden verschwinde, sterbe, damit wir un¬ gehindert in den leidenschaftlich geliebten Besitz gelangen. Dieser Wunsch nnn ist die Gemeinheit, über die zwar die meisten gesunden Naturen im Laufe der Zeit, die mit ihren neuen Eindrücken ältere Gefühle verdunkelt und in Ver¬ gessenheit bringt, leicht, innerliche Naturen aber, die neuen Eindrücken, weil sie sich mit sich selbst so viel beschäftigen, weniger zugänglich find, z. B. hypo¬ chondrische Männer, hysterische Frauen, nicht so leicht hinweggekommen. Die letztern erklärt Sudermann in seinem sittlichen Rigorismus sür die wahrhaft Sittlichen. Das ist der echte Ibsen, aber nicht die Gesinnung eines Dichters, der die menschliche Natur nach dem normalen Maße zeichnet und sich auf Seiten der Gesundheit stellt. Der Kampf jedes Menschen mit den bösen Ge¬ lüsten in ihm ist allerdings das ergiebigste Feld der Poesie, und sie hat sich bis jetzt nur um den Sieg des Guten oder um den Sieg des schlechten Prinzips in der Menschenbrust gekümmert. Sudermann ist es vorbehalten geblieben, weder das eine noch das andre zu verfolge», sondern beim Wunsch noch vor der That stehen zu bleiben und die wahre Tragik in der Feigheit des Menschen zu erkennen, in der krankhaften Schwäche, die den Tod der Entsagung vorzieht. Übrigens hat er mit sehr viel Geschick das Exempel für seine Theorie aufgestellt. Zwei Schwester» lieben denselben Mann, wie sie sich auch unter einander ehrlich lieben. Dieser Man», Robert Hettinger, ist ein dem Helden der „Frau Sorge" ähnlicher Mensch. Von deu Schwestern ist die ältere so zart und schwach, daß sie zu dein großen, starken Robert weit weniger paßt, als die jüngere, kraftvolle. Trotzdem heiratet die unpassende den von beiden geliebten Robert und gerät im ersten Wochenbett schon an den Rand des Todes. Da wird sie gepflegt von der jüngern Schwester, und am Bett der Kranken steigt in der leidenschaftlichen Pflegerin der Wunsch auf: „O möchte sie sterben!" Sudermann hat alles Mögliche gethan, unsre Sympathie für seine Heldin nicht zu verscheuchen, er hat sie mit allen möglichen Tugenden und glänzenden Eigenschaften ausgestattet. Sie ist ein normaler Mensch und wird nur in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/424>, abgerufen am 29.06.2024.