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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Sudermanns Erzählungen

Wie jemand, der selber dichterisch thätig ist, ein solches Urteil niederschreiben
konnte, ist mir unbegreiflich. Ich will mich durchaus nicht auf den Standpunkt
der Vergötterung Kellers stellen, die jeden Vergleich andrer Dichter mit ihm als
Lästerung abwehrt; auch will ich nicht, was am nächsten liegt, sagen, daß
solche Vergleiche eines Werdenden mit einem allgemein verehrten Meister von
vornherein den Widerspruch herausfordern. Es kann ja vorkommen, daß ein
Genie gleich mit einem Löwensprung in die Litteratur tritt; als Keller seinen
"Grünen Heinrich" schrieb, war er auch ein junger Mann, und ein mutiger
Wiehert hätte ihm gute Dienste leisten können. Aber der Unterschied zwischen
den Novellen Sudermanns und Kellers ist doch ein so himmelweiter, daß man
nicht umhin kann, das Urteil Wicherts als das zu bezeichnen, was es ist, als
den Ausdruck landsmannschaftlichen Wohlwollens; Silbermann ist wie Wichert
ein Ostpreuße. Ich will gar uicht von dem sehr wichtigen Unterschiede der
beiden Fabeln reden: bei Keller die natürliche und reine, berechtigte Leidenschaft
zweier unverdorbenen Menschen, die die Liebe niemals vorher kennen gelernt
haben; bei Sudermann die trübe Leidenschaft einer verheirateten Frau, die doch
weiß, um was es sich handelt, mag sie übrigens noch so kindisch sein. Vronis
Naivität ist echt, sie weiß nicht, daß sie mit dem Feuer spielt; die Einfalt
Trudens ist leichtfertig, erkünstelt. Wie wahre Natur und ihr geschminktes
Abbild auf dem Theater, so unterscheiden sich Vroni und Trude. Wie im
"Katzensteg" ist die Schilderung der Leidenschaft in der "Stillen Mühle" bis
an die Grenze des überhaupt erzählbaren geführt, sie ist von Lüsternheit nicht
freizusprechen. Man vergleiche nur die Schuhszene bei Keller mit der bei
Sudermann. Der tragische Untergang des Kellerschen Liebespaares ist poetisch
der schönste Ausklang der Leidenschaft, die gar nichts zu sühnen hat, sondern
einen nicht mehr zu überbietendem Höhepunkt erreicht hat und darum so ab¬
schließt; in solchem Zustande wünschen sich ja die Menschen wirklich in die
Ewigkeit schlafend hinüberzugehen, weil jedes Erwachen ans dem Gipfel der
Lust uur einen Rückschlag gegen die Lust bietet; sittlich genommen wird der Tod
der Liebenden bei Keller gar nicht gefordert. Dagegen ist bei Sudermann eine
gemeine, wenn auch raffinirt verhüllte Sünde zu sühnen, und überdies ist der
Untergang der Brüder nur das Werk des Zufalles; von einer "todbringenden
Leidenschaft" ist bei Keller ganz und gar nicht die Rede; in der "Stillen Mühle"
bleibt Trude sogar am Leben. Und was nun vollends die Form anlangt --
wenn man nur in einem der Sudermannschen Bücher ein Stück Prosa fände,
das Kellers Sprache auch uur halbwegs ebenbürtig wäre! Ich erinnere mich an
keine Stelle. Wenn man nnr irgendwo ein Stück Poesie bei Sudermann fände,
das sich mit Kellers Schilderung des Balles bei Mondenschein, oder des Ringens
der herabgekommenen Väter in Gegenwart der Kinder, oder ihres Spazierganges
und der Einkehr bei der fremden Wirtin vergleichen könnte! In Kellers Novelle
ist alles schöne Natur, in der "Stillen Mühle" alles "gemacht." Aber Wichert


Hermann Sudermanns Erzählungen

Wie jemand, der selber dichterisch thätig ist, ein solches Urteil niederschreiben
konnte, ist mir unbegreiflich. Ich will mich durchaus nicht auf den Standpunkt
der Vergötterung Kellers stellen, die jeden Vergleich andrer Dichter mit ihm als
Lästerung abwehrt; auch will ich nicht, was am nächsten liegt, sagen, daß
solche Vergleiche eines Werdenden mit einem allgemein verehrten Meister von
vornherein den Widerspruch herausfordern. Es kann ja vorkommen, daß ein
Genie gleich mit einem Löwensprung in die Litteratur tritt; als Keller seinen
„Grünen Heinrich" schrieb, war er auch ein junger Mann, und ein mutiger
Wiehert hätte ihm gute Dienste leisten können. Aber der Unterschied zwischen
den Novellen Sudermanns und Kellers ist doch ein so himmelweiter, daß man
nicht umhin kann, das Urteil Wicherts als das zu bezeichnen, was es ist, als
den Ausdruck landsmannschaftlichen Wohlwollens; Silbermann ist wie Wichert
ein Ostpreuße. Ich will gar uicht von dem sehr wichtigen Unterschiede der
beiden Fabeln reden: bei Keller die natürliche und reine, berechtigte Leidenschaft
zweier unverdorbenen Menschen, die die Liebe niemals vorher kennen gelernt
haben; bei Sudermann die trübe Leidenschaft einer verheirateten Frau, die doch
weiß, um was es sich handelt, mag sie übrigens noch so kindisch sein. Vronis
Naivität ist echt, sie weiß nicht, daß sie mit dem Feuer spielt; die Einfalt
Trudens ist leichtfertig, erkünstelt. Wie wahre Natur und ihr geschminktes
Abbild auf dem Theater, so unterscheiden sich Vroni und Trude. Wie im
„Katzensteg" ist die Schilderung der Leidenschaft in der „Stillen Mühle" bis
an die Grenze des überhaupt erzählbaren geführt, sie ist von Lüsternheit nicht
freizusprechen. Man vergleiche nur die Schuhszene bei Keller mit der bei
Sudermann. Der tragische Untergang des Kellerschen Liebespaares ist poetisch
der schönste Ausklang der Leidenschaft, die gar nichts zu sühnen hat, sondern
einen nicht mehr zu überbietendem Höhepunkt erreicht hat und darum so ab¬
schließt; in solchem Zustande wünschen sich ja die Menschen wirklich in die
Ewigkeit schlafend hinüberzugehen, weil jedes Erwachen ans dem Gipfel der
Lust uur einen Rückschlag gegen die Lust bietet; sittlich genommen wird der Tod
der Liebenden bei Keller gar nicht gefordert. Dagegen ist bei Sudermann eine
gemeine, wenn auch raffinirt verhüllte Sünde zu sühnen, und überdies ist der
Untergang der Brüder nur das Werk des Zufalles; von einer „todbringenden
Leidenschaft" ist bei Keller ganz und gar nicht die Rede; in der „Stillen Mühle"
bleibt Trude sogar am Leben. Und was nun vollends die Form anlangt —
wenn man nur in einem der Sudermannschen Bücher ein Stück Prosa fände,
das Kellers Sprache auch uur halbwegs ebenbürtig wäre! Ich erinnere mich an
keine Stelle. Wenn man nnr irgendwo ein Stück Poesie bei Sudermann fände,
das sich mit Kellers Schilderung des Balles bei Mondenschein, oder des Ringens
der herabgekommenen Väter in Gegenwart der Kinder, oder ihres Spazierganges
und der Einkehr bei der fremden Wirtin vergleichen könnte! In Kellers Novelle
ist alles schöne Natur, in der „Stillen Mühle" alles „gemacht." Aber Wichert


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[0423] Hermann Sudermanns Erzählungen Wie jemand, der selber dichterisch thätig ist, ein solches Urteil niederschreiben konnte, ist mir unbegreiflich. Ich will mich durchaus nicht auf den Standpunkt der Vergötterung Kellers stellen, die jeden Vergleich andrer Dichter mit ihm als Lästerung abwehrt; auch will ich nicht, was am nächsten liegt, sagen, daß solche Vergleiche eines Werdenden mit einem allgemein verehrten Meister von vornherein den Widerspruch herausfordern. Es kann ja vorkommen, daß ein Genie gleich mit einem Löwensprung in die Litteratur tritt; als Keller seinen „Grünen Heinrich" schrieb, war er auch ein junger Mann, und ein mutiger Wiehert hätte ihm gute Dienste leisten können. Aber der Unterschied zwischen den Novellen Sudermanns und Kellers ist doch ein so himmelweiter, daß man nicht umhin kann, das Urteil Wicherts als das zu bezeichnen, was es ist, als den Ausdruck landsmannschaftlichen Wohlwollens; Silbermann ist wie Wichert ein Ostpreuße. Ich will gar uicht von dem sehr wichtigen Unterschiede der beiden Fabeln reden: bei Keller die natürliche und reine, berechtigte Leidenschaft zweier unverdorbenen Menschen, die die Liebe niemals vorher kennen gelernt haben; bei Sudermann die trübe Leidenschaft einer verheirateten Frau, die doch weiß, um was es sich handelt, mag sie übrigens noch so kindisch sein. Vronis Naivität ist echt, sie weiß nicht, daß sie mit dem Feuer spielt; die Einfalt Trudens ist leichtfertig, erkünstelt. Wie wahre Natur und ihr geschminktes Abbild auf dem Theater, so unterscheiden sich Vroni und Trude. Wie im „Katzensteg" ist die Schilderung der Leidenschaft in der „Stillen Mühle" bis an die Grenze des überhaupt erzählbaren geführt, sie ist von Lüsternheit nicht freizusprechen. Man vergleiche nur die Schuhszene bei Keller mit der bei Sudermann. Der tragische Untergang des Kellerschen Liebespaares ist poetisch der schönste Ausklang der Leidenschaft, die gar nichts zu sühnen hat, sondern einen nicht mehr zu überbietendem Höhepunkt erreicht hat und darum so ab¬ schließt; in solchem Zustande wünschen sich ja die Menschen wirklich in die Ewigkeit schlafend hinüberzugehen, weil jedes Erwachen ans dem Gipfel der Lust uur einen Rückschlag gegen die Lust bietet; sittlich genommen wird der Tod der Liebenden bei Keller gar nicht gefordert. Dagegen ist bei Sudermann eine gemeine, wenn auch raffinirt verhüllte Sünde zu sühnen, und überdies ist der Untergang der Brüder nur das Werk des Zufalles; von einer „todbringenden Leidenschaft" ist bei Keller ganz und gar nicht die Rede; in der „Stillen Mühle" bleibt Trude sogar am Leben. Und was nun vollends die Form anlangt — wenn man nur in einem der Sudermannschen Bücher ein Stück Prosa fände, das Kellers Sprache auch uur halbwegs ebenbürtig wäre! Ich erinnere mich an keine Stelle. Wenn man nnr irgendwo ein Stück Poesie bei Sudermann fände, das sich mit Kellers Schilderung des Balles bei Mondenschein, oder des Ringens der herabgekommenen Väter in Gegenwart der Kinder, oder ihres Spazierganges und der Einkehr bei der fremden Wirtin vergleichen könnte! In Kellers Novelle ist alles schöne Natur, in der „Stillen Mühle" alles „gemacht." Aber Wichert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/423>, abgerufen am 29.06.2024.