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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Sudermanns Erzählungen

hat Sudermann namentlich in den zwei Novellen: "Die stille Mühle" und
"Der Wunsch," die unter dein Titel: Geschwister vereinigt erschienen sind,
Befriedigung gewährt. In beiden schildert er das unbewußte Wachsen der
Liebe bis zur sinnlichen Begierde, die nicht gestillt werden kann; beide Novellen
haben tragischen Ausgang, der aber im "Wunsch" eher peinlich als läuternd ist.

In der "Stillen Mühle" liebt der Schwager seine schöne, junge Schwägerin,
das wird so reichlich motivirt, daß nichts dagegen zu sagen ist. Freilich kann
auch hier nicht die hypochondrische Lieblingsfigur Sudermanns fehlen, das ist
Martin Felshammer. Martin ist seinem Vater nachgeraten, er ist jähzornig.
In einem solchen Anfalle hat er als Knabe sein jüngeres Brüderchen so un-
gliicklich mit einem Steine getroffen, daß es blöde wurde und starb. Diese
unglückliche That ist aber von dauernder Wirkung auf Martin geblieben, er
ist ans Reue Hypochonder geworden. An dein später gebornen Bruder
Johannes, der sein lebensfreudiges Widerspiel ist, sucht er seine Jugendsünde
durch hingebende Liebe gut zu macheu. Nun heiratet Martin ein junges,
schönes Mädchen, das seine Neigung für den schönern jüngern Bruder noch
vor der Hochzeit verrät, und die Folge dieser unvorsichtigen Heirat ist natürlich,
daß beide sich in einander verlieben. Auf das ihnen unbewußte Entstehen und
Wachsen dieser Liebe ist der Nachdruck der Novelle gelegt. Wir sehen Schritt
für Schritt, wie Johannes und Trude uuter Lachen und Scherzen und Spielen
in die Leidenschaft hineintanzen; die Sinnlichkeit flackert wie ein Irrlicht zwischen
beiden auf, was sie lange nicht zu ahnen scheinen, wogegen sie sich jedoch
als gutgeartete Menschen gewissenhaft wehren. Am Ende aber verzweifelt
Johannes an seiner Kraft, zu entsagen, ergiebt sich dem Trunk und wird
ein Lump. Das Unwahrscheinliche an der ganzen Geschichte ist aber
Martins bis zum letzten Augenblick behauptete Blindheit, die doch durch seine
Hypochondrie am allerwenigsten begründet ist, denn solche Menschen sind eher
mißtrauisch.

Ohne Zweifel sind hier Anklänge an Gottfried Kellers Novelle "Romeo
und Julia auf dem Dorfe" vorhanden. So kauft z. B. Johannes der
Schwägerin Schuhe für den Tanz, wie Sau solche der Vroni kauft, und auch
hier hat der Liebende Gelegenheit, den Fuß der Geliebten in die Hand zu
nehmen. Diese Anklänge mögen Ernst Wichert zu folgendem Urteil verleitet
haben, das auf dein Umschlage der Bücher Sudermanns mitgeteilt wird: "Die
Geschichte der stillen Mühle steht in meiner Schätzung dicht neben Gottfried
Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe. Ich bin mir wohl bewußt, was
ich damit zu ihrem Lobe sage. Es ist dieselbe Kraft der anschaulichen Schilderung
in dichter Aufeinanderfolge von charakteristischen Momentbildern, dieselbe Energie
im Forttreiben der Handlung, dieselbe unerbittliche Folgerichtigkeit in der Ent¬
wicklung der todbringenden Leidenschaft, dieselbe Realistik in der Darstellung
bei echt dichterischer Tendenz."


Hermann Sudermanns Erzählungen

hat Sudermann namentlich in den zwei Novellen: „Die stille Mühle" und
„Der Wunsch," die unter dein Titel: Geschwister vereinigt erschienen sind,
Befriedigung gewährt. In beiden schildert er das unbewußte Wachsen der
Liebe bis zur sinnlichen Begierde, die nicht gestillt werden kann; beide Novellen
haben tragischen Ausgang, der aber im „Wunsch" eher peinlich als läuternd ist.

In der „Stillen Mühle" liebt der Schwager seine schöne, junge Schwägerin,
das wird so reichlich motivirt, daß nichts dagegen zu sagen ist. Freilich kann
auch hier nicht die hypochondrische Lieblingsfigur Sudermanns fehlen, das ist
Martin Felshammer. Martin ist seinem Vater nachgeraten, er ist jähzornig.
In einem solchen Anfalle hat er als Knabe sein jüngeres Brüderchen so un-
gliicklich mit einem Steine getroffen, daß es blöde wurde und starb. Diese
unglückliche That ist aber von dauernder Wirkung auf Martin geblieben, er
ist ans Reue Hypochonder geworden. An dein später gebornen Bruder
Johannes, der sein lebensfreudiges Widerspiel ist, sucht er seine Jugendsünde
durch hingebende Liebe gut zu macheu. Nun heiratet Martin ein junges,
schönes Mädchen, das seine Neigung für den schönern jüngern Bruder noch
vor der Hochzeit verrät, und die Folge dieser unvorsichtigen Heirat ist natürlich,
daß beide sich in einander verlieben. Auf das ihnen unbewußte Entstehen und
Wachsen dieser Liebe ist der Nachdruck der Novelle gelegt. Wir sehen Schritt
für Schritt, wie Johannes und Trude uuter Lachen und Scherzen und Spielen
in die Leidenschaft hineintanzen; die Sinnlichkeit flackert wie ein Irrlicht zwischen
beiden auf, was sie lange nicht zu ahnen scheinen, wogegen sie sich jedoch
als gutgeartete Menschen gewissenhaft wehren. Am Ende aber verzweifelt
Johannes an seiner Kraft, zu entsagen, ergiebt sich dem Trunk und wird
ein Lump. Das Unwahrscheinliche an der ganzen Geschichte ist aber
Martins bis zum letzten Augenblick behauptete Blindheit, die doch durch seine
Hypochondrie am allerwenigsten begründet ist, denn solche Menschen sind eher
mißtrauisch.

Ohne Zweifel sind hier Anklänge an Gottfried Kellers Novelle „Romeo
und Julia auf dem Dorfe" vorhanden. So kauft z. B. Johannes der
Schwägerin Schuhe für den Tanz, wie Sau solche der Vroni kauft, und auch
hier hat der Liebende Gelegenheit, den Fuß der Geliebten in die Hand zu
nehmen. Diese Anklänge mögen Ernst Wichert zu folgendem Urteil verleitet
haben, das auf dein Umschlage der Bücher Sudermanns mitgeteilt wird: „Die
Geschichte der stillen Mühle steht in meiner Schätzung dicht neben Gottfried
Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe. Ich bin mir wohl bewußt, was
ich damit zu ihrem Lobe sage. Es ist dieselbe Kraft der anschaulichen Schilderung
in dichter Aufeinanderfolge von charakteristischen Momentbildern, dieselbe Energie
im Forttreiben der Handlung, dieselbe unerbittliche Folgerichtigkeit in der Ent¬
wicklung der todbringenden Leidenschaft, dieselbe Realistik in der Darstellung
bei echt dichterischer Tendenz."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/422>, abgerufen am 29.06.2024.