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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hera-an Sudermanns Erzählungen

Vriider selbst sagen ihm, daß er die Verführer seiner Schwestern eigentlich
niederschießen müßte, wenn sie ihnen die Ehe verweigern. Das bringt Paul
auf den Gedanken, die Erdmanns mit der Pistole zur Ehe zu zwingen. Er,
der Friedfertige, geht also mit der Pistole umher und lauert wie ein Meuchel¬
mörder auf die Verführer. Aber sie schlafen gerade, als er sie trifft, und
Schlafende zu töten, erscheint ihm doch schändlich. Als die Erdmanns er¬
wachen, verlegen sie sich im Angesichte der Pistole aufs Bitten. Und Feig¬
linge niederzuschießen, ekelt den Hamlet-Paul auch wieder an; schließlich nimmt
er ihnen doch das feierliche Eheversprechen ab.

Doch genug. Es soll ja der Roman hier nicht nacherzählt werden, sondern
nur der Charakter des Helden und der Geist des Dichters skizzirt werden, und
dafür genügt das Bisherige. Die Zeichnung Pauls ist jedenfalls dichterisch
gelungen, wir werden ganz vertraut mit seinem schwermütigen und doch edeln
Wesen. Wie die erwähnte Episode an die Szene Hamlets mit König Claudius
am Betschemel erinnert, so ist die Erfindung der Zwillingsschwestern eine
Nachahmung der Zwillingsbrüder Weidelich in Gottfried Kellers "Martin
Salander." Auch Anklänge an den ,.Grünen Heinrich" sind in der Schilderung
von Pauls Jugend zu finden. Das was? und wie? einer Nachahmung großer
Meister ist bezeichnend für einen jungen Dichter. Ein andrer unsrer neuern
Novellisten, Hans Hoffmann, stand auch lange Zeit unter dem Banne Gottfried
Kellers; aber es war Kellers heitere Ironie, das graziöse Lächeln der ,,Sieben
Legenden," das auf Hoffmann überging. Silbermann hat nichts von dem
sonnigen Humor Kellers, nur in der Satire hat er ihm nachgefühlt und sie
mit etwas Galle versetzt. Die Stimmung des Romans ,,Frau Sorge" ist
geradezu niederdrückend, das Lesen macht einem trotz der zweifellosen Kunst in
Komposition und Vortrag keine Freude, dem Dichter fehlt der Humor, er ist
zu grimmig gegen die Dutzendware, die den armen Paul nicht begreift. Nur
zum Schluß, wo er mit einem Ruck sich über seinen Helden stellt, indem er
ihn selbst das Rätsel seines Charakters lösen läßt, atmet der Leser freier ans.
Aber es wäre besser gewesen, wenn der Dichter von Anfang diese freiere
Stellung festgehalten hätte; wir hätten den schweren Schleier der ,,Fran Sorge"
immerhin noch genügend auf uns lasten fühlen und uns doch die unentbehrliche
ästhetische Freiheit im Genuß der Dichtung bewahrt.

Diese freiere ästhetische Haltung ist von Silbermann in dem andern
Romane, Der Katzensteg, weit mehr angestrebt worden. Möglicherweise
werden ihm hier Kellers "Leute von Seldwhla" in der Charakteristik der
Schrnndener vorgeschwebt haben; aber zum Humor hat er sich auch hier uicht
erhoben, wo er doch so nötig gewesen wäre.

Ist Paul Meyhöfer eine einseitig und ausschließlich leidende Natur, so
ist Boleslav von Schrauben. der Held des wesentlich dramatisch empfundenen
"Katzensteg," ein Mann der That, des trotzigsten Eigensinns, der sich nicht das


Hera-an Sudermanns Erzählungen

Vriider selbst sagen ihm, daß er die Verführer seiner Schwestern eigentlich
niederschießen müßte, wenn sie ihnen die Ehe verweigern. Das bringt Paul
auf den Gedanken, die Erdmanns mit der Pistole zur Ehe zu zwingen. Er,
der Friedfertige, geht also mit der Pistole umher und lauert wie ein Meuchel¬
mörder auf die Verführer. Aber sie schlafen gerade, als er sie trifft, und
Schlafende zu töten, erscheint ihm doch schändlich. Als die Erdmanns er¬
wachen, verlegen sie sich im Angesichte der Pistole aufs Bitten. Und Feig¬
linge niederzuschießen, ekelt den Hamlet-Paul auch wieder an; schließlich nimmt
er ihnen doch das feierliche Eheversprechen ab.

Doch genug. Es soll ja der Roman hier nicht nacherzählt werden, sondern
nur der Charakter des Helden und der Geist des Dichters skizzirt werden, und
dafür genügt das Bisherige. Die Zeichnung Pauls ist jedenfalls dichterisch
gelungen, wir werden ganz vertraut mit seinem schwermütigen und doch edeln
Wesen. Wie die erwähnte Episode an die Szene Hamlets mit König Claudius
am Betschemel erinnert, so ist die Erfindung der Zwillingsschwestern eine
Nachahmung der Zwillingsbrüder Weidelich in Gottfried Kellers „Martin
Salander." Auch Anklänge an den ,.Grünen Heinrich" sind in der Schilderung
von Pauls Jugend zu finden. Das was? und wie? einer Nachahmung großer
Meister ist bezeichnend für einen jungen Dichter. Ein andrer unsrer neuern
Novellisten, Hans Hoffmann, stand auch lange Zeit unter dem Banne Gottfried
Kellers; aber es war Kellers heitere Ironie, das graziöse Lächeln der ,,Sieben
Legenden," das auf Hoffmann überging. Silbermann hat nichts von dem
sonnigen Humor Kellers, nur in der Satire hat er ihm nachgefühlt und sie
mit etwas Galle versetzt. Die Stimmung des Romans ,,Frau Sorge" ist
geradezu niederdrückend, das Lesen macht einem trotz der zweifellosen Kunst in
Komposition und Vortrag keine Freude, dem Dichter fehlt der Humor, er ist
zu grimmig gegen die Dutzendware, die den armen Paul nicht begreift. Nur
zum Schluß, wo er mit einem Ruck sich über seinen Helden stellt, indem er
ihn selbst das Rätsel seines Charakters lösen läßt, atmet der Leser freier ans.
Aber es wäre besser gewesen, wenn der Dichter von Anfang diese freiere
Stellung festgehalten hätte; wir hätten den schweren Schleier der ,,Fran Sorge"
immerhin noch genügend auf uns lasten fühlen und uns doch die unentbehrliche
ästhetische Freiheit im Genuß der Dichtung bewahrt.

Diese freiere ästhetische Haltung ist von Silbermann in dem andern
Romane, Der Katzensteg, weit mehr angestrebt worden. Möglicherweise
werden ihm hier Kellers „Leute von Seldwhla" in der Charakteristik der
Schrnndener vorgeschwebt haben; aber zum Humor hat er sich auch hier uicht
erhoben, wo er doch so nötig gewesen wäre.

Ist Paul Meyhöfer eine einseitig und ausschließlich leidende Natur, so
ist Boleslav von Schrauben. der Held des wesentlich dramatisch empfundenen
„Katzensteg," ein Mann der That, des trotzigsten Eigensinns, der sich nicht das


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[0418] Hera-an Sudermanns Erzählungen Vriider selbst sagen ihm, daß er die Verführer seiner Schwestern eigentlich niederschießen müßte, wenn sie ihnen die Ehe verweigern. Das bringt Paul auf den Gedanken, die Erdmanns mit der Pistole zur Ehe zu zwingen. Er, der Friedfertige, geht also mit der Pistole umher und lauert wie ein Meuchel¬ mörder auf die Verführer. Aber sie schlafen gerade, als er sie trifft, und Schlafende zu töten, erscheint ihm doch schändlich. Als die Erdmanns er¬ wachen, verlegen sie sich im Angesichte der Pistole aufs Bitten. Und Feig¬ linge niederzuschießen, ekelt den Hamlet-Paul auch wieder an; schließlich nimmt er ihnen doch das feierliche Eheversprechen ab. Doch genug. Es soll ja der Roman hier nicht nacherzählt werden, sondern nur der Charakter des Helden und der Geist des Dichters skizzirt werden, und dafür genügt das Bisherige. Die Zeichnung Pauls ist jedenfalls dichterisch gelungen, wir werden ganz vertraut mit seinem schwermütigen und doch edeln Wesen. Wie die erwähnte Episode an die Szene Hamlets mit König Claudius am Betschemel erinnert, so ist die Erfindung der Zwillingsschwestern eine Nachahmung der Zwillingsbrüder Weidelich in Gottfried Kellers „Martin Salander." Auch Anklänge an den ,.Grünen Heinrich" sind in der Schilderung von Pauls Jugend zu finden. Das was? und wie? einer Nachahmung großer Meister ist bezeichnend für einen jungen Dichter. Ein andrer unsrer neuern Novellisten, Hans Hoffmann, stand auch lange Zeit unter dem Banne Gottfried Kellers; aber es war Kellers heitere Ironie, das graziöse Lächeln der ,,Sieben Legenden," das auf Hoffmann überging. Silbermann hat nichts von dem sonnigen Humor Kellers, nur in der Satire hat er ihm nachgefühlt und sie mit etwas Galle versetzt. Die Stimmung des Romans ,,Frau Sorge" ist geradezu niederdrückend, das Lesen macht einem trotz der zweifellosen Kunst in Komposition und Vortrag keine Freude, dem Dichter fehlt der Humor, er ist zu grimmig gegen die Dutzendware, die den armen Paul nicht begreift. Nur zum Schluß, wo er mit einem Ruck sich über seinen Helden stellt, indem er ihn selbst das Rätsel seines Charakters lösen läßt, atmet der Leser freier ans. Aber es wäre besser gewesen, wenn der Dichter von Anfang diese freiere Stellung festgehalten hätte; wir hätten den schweren Schleier der ,,Fran Sorge" immerhin noch genügend auf uns lasten fühlen und uns doch die unentbehrliche ästhetische Freiheit im Genuß der Dichtung bewahrt. Diese freiere ästhetische Haltung ist von Silbermann in dem andern Romane, Der Katzensteg, weit mehr angestrebt worden. Möglicherweise werden ihm hier Kellers „Leute von Seldwhla" in der Charakteristik der Schrnndener vorgeschwebt haben; aber zum Humor hat er sich auch hier uicht erhoben, wo er doch so nötig gewesen wäre. Ist Paul Meyhöfer eine einseitig und ausschließlich leidende Natur, so ist Boleslav von Schrauben. der Held des wesentlich dramatisch empfundenen „Katzensteg," ein Mann der That, des trotzigsten Eigensinns, der sich nicht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/418>, abgerufen am 29.06.2024.