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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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an der Seite der guten, aber ganz eingeschüchterten Mutter heran. Vor ihm
sind schon zwei Söhne da, die in die Hauptstadt geschickt werden, um zu
studiren; diese "pumpen" nur, aber sie zahlen nicht. Nach Paul ist noch ein
Zwillingspaar von Schwestern da, die als die schönsten Mädchen der Gegend
mit ihrer frischen Munterkeit und auch mit ihrem Leichtsinn gleichfalls in
Kontrast zu ihm treten. Der Knabe Paul, der im Hause immer für dumm
und unbrauchbar erklärt wird, weil der Alte nicht auch für ihn Geld zum
Studiren hergeben null, hat schon in der Dorfschule nicht die Gabe, sich geltend
zu machen, er läßt sich ungerächt säuseln, bestehlen, prügeln. Aber er lebt
in der Stille doch ein reges Gedankenleben, ist keineswegs unbegabt, hat immer
den Trieb, etwas zu thun, nur die Schüchternheit wird er uicht los, und sie
bildet sich zu einer an Hypochondrie grenzenden Gewissenhaftigkeit aus. Diese
treibt ihn an, sich nützlich zu machen, und darin bringt er es so weit im Laufe
der Jahre, daß er der Mutter das Regiment abnimmt und in unermüdlicher
Arbeit die Wirtschaft verbessert, Vater, Brüder und Schwestern durch seine
Thätigkeit ernährt. Dennoch darf er sich selbst nie als den Erhalter des
Hauses fühlen nud benehmen. Er hat einmal den Vater und alle Welt daran
gewöhnt, ihn für dumm zu halten, und dabei muß es bleiben.

Es kommt in jeder Familie vor, daß sich die Eltern und Geschwister am
wenigsten kennen; mit dem Bilde des Kindes im Geiste behandeln sie den älter
gewordenen Sohn noch so, wie er vor zehn Jahren war; seine innere Wandlung
merken sie gar nicht. So wird anch Paul immer ins Dunkel geschoben, fast schämt
man sich seiner. Denn wie er als Dorfschüler einsam blieb, so benimmt er
sich auch um in Gesellschaft als eine ungesellige Natur. Er kaun nicht spielen,
macht keine Witze, kann nicht tändeln, hat gar kein Organ für Weltlust, für
Tanzen und Hofmachen. Dies zeigt sich in seinem Verkehr mit der Familie
Douglas, die das "weiße Haus" uach Abzug der Meyhöfers bezogen hat, und
deren schöne Tochter Paul liebt. Aber anch in der Liebe ist er zaghaft, beinahe
läßt er sich das Mädchen von einem Modegecken wegnehmen. Paul kann nicht
um Liebe werben. Je älter er wird, umso zahlreicher werden die Pflichten, die
er auf sich lasten fühlt. Er kennt überhaupt nur Pflichten, keine Rechte. Nur
wenn er pfeift, stiehlt sich ein Sonnenstrahl von Vergnügen in sein Gemüt; zum
Flötenspielenlernen hat er keine Muße gefunden, so pfeift er sich eins aus
musikalischen Triebe, wenn sein Herz voll ist.

Als die Zwillingsschwestern herangewachsen sind, fühlt Paul an Stelle
des verlotterten Vaters sich geradezu verpflichtet, ihnen eine ausreichende Mit¬
gift zu erwerben, damit sie heiraten können. Da macht er die Entdeckung,
daß sie sich mit den Brüdern Erdmann so weit eingelassen haben, daß sie von
diesen um jeden Preis geheiratet werden müssen, wenn sie nicht in Schande
geraten sollen. Kostbar ist es nun, wie sich der Hypochonder Paul bei diesem
Zwange, eine That zu leisten, benimmt: wo er fordern soll, bettelt er. Die


Grenzboten III 1890 62

an der Seite der guten, aber ganz eingeschüchterten Mutter heran. Vor ihm
sind schon zwei Söhne da, die in die Hauptstadt geschickt werden, um zu
studiren; diese „pumpen" nur, aber sie zahlen nicht. Nach Paul ist noch ein
Zwillingspaar von Schwestern da, die als die schönsten Mädchen der Gegend
mit ihrer frischen Munterkeit und auch mit ihrem Leichtsinn gleichfalls in
Kontrast zu ihm treten. Der Knabe Paul, der im Hause immer für dumm
und unbrauchbar erklärt wird, weil der Alte nicht auch für ihn Geld zum
Studiren hergeben null, hat schon in der Dorfschule nicht die Gabe, sich geltend
zu machen, er läßt sich ungerächt säuseln, bestehlen, prügeln. Aber er lebt
in der Stille doch ein reges Gedankenleben, ist keineswegs unbegabt, hat immer
den Trieb, etwas zu thun, nur die Schüchternheit wird er uicht los, und sie
bildet sich zu einer an Hypochondrie grenzenden Gewissenhaftigkeit aus. Diese
treibt ihn an, sich nützlich zu machen, und darin bringt er es so weit im Laufe
der Jahre, daß er der Mutter das Regiment abnimmt und in unermüdlicher
Arbeit die Wirtschaft verbessert, Vater, Brüder und Schwestern durch seine
Thätigkeit ernährt. Dennoch darf er sich selbst nie als den Erhalter des
Hauses fühlen nud benehmen. Er hat einmal den Vater und alle Welt daran
gewöhnt, ihn für dumm zu halten, und dabei muß es bleiben.

Es kommt in jeder Familie vor, daß sich die Eltern und Geschwister am
wenigsten kennen; mit dem Bilde des Kindes im Geiste behandeln sie den älter
gewordenen Sohn noch so, wie er vor zehn Jahren war; seine innere Wandlung
merken sie gar nicht. So wird anch Paul immer ins Dunkel geschoben, fast schämt
man sich seiner. Denn wie er als Dorfschüler einsam blieb, so benimmt er
sich auch um in Gesellschaft als eine ungesellige Natur. Er kaun nicht spielen,
macht keine Witze, kann nicht tändeln, hat gar kein Organ für Weltlust, für
Tanzen und Hofmachen. Dies zeigt sich in seinem Verkehr mit der Familie
Douglas, die das „weiße Haus" uach Abzug der Meyhöfers bezogen hat, und
deren schöne Tochter Paul liebt. Aber anch in der Liebe ist er zaghaft, beinahe
läßt er sich das Mädchen von einem Modegecken wegnehmen. Paul kann nicht
um Liebe werben. Je älter er wird, umso zahlreicher werden die Pflichten, die
er auf sich lasten fühlt. Er kennt überhaupt nur Pflichten, keine Rechte. Nur
wenn er pfeift, stiehlt sich ein Sonnenstrahl von Vergnügen in sein Gemüt; zum
Flötenspielenlernen hat er keine Muße gefunden, so pfeift er sich eins aus
musikalischen Triebe, wenn sein Herz voll ist.

Als die Zwillingsschwestern herangewachsen sind, fühlt Paul an Stelle
des verlotterten Vaters sich geradezu verpflichtet, ihnen eine ausreichende Mit¬
gift zu erwerben, damit sie heiraten können. Da macht er die Entdeckung,
daß sie sich mit den Brüdern Erdmann so weit eingelassen haben, daß sie von
diesen um jeden Preis geheiratet werden müssen, wenn sie nicht in Schande
geraten sollen. Kostbar ist es nun, wie sich der Hypochonder Paul bei diesem
Zwange, eine That zu leisten, benimmt: wo er fordern soll, bettelt er. Die


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[0417] an der Seite der guten, aber ganz eingeschüchterten Mutter heran. Vor ihm sind schon zwei Söhne da, die in die Hauptstadt geschickt werden, um zu studiren; diese „pumpen" nur, aber sie zahlen nicht. Nach Paul ist noch ein Zwillingspaar von Schwestern da, die als die schönsten Mädchen der Gegend mit ihrer frischen Munterkeit und auch mit ihrem Leichtsinn gleichfalls in Kontrast zu ihm treten. Der Knabe Paul, der im Hause immer für dumm und unbrauchbar erklärt wird, weil der Alte nicht auch für ihn Geld zum Studiren hergeben null, hat schon in der Dorfschule nicht die Gabe, sich geltend zu machen, er läßt sich ungerächt säuseln, bestehlen, prügeln. Aber er lebt in der Stille doch ein reges Gedankenleben, ist keineswegs unbegabt, hat immer den Trieb, etwas zu thun, nur die Schüchternheit wird er uicht los, und sie bildet sich zu einer an Hypochondrie grenzenden Gewissenhaftigkeit aus. Diese treibt ihn an, sich nützlich zu machen, und darin bringt er es so weit im Laufe der Jahre, daß er der Mutter das Regiment abnimmt und in unermüdlicher Arbeit die Wirtschaft verbessert, Vater, Brüder und Schwestern durch seine Thätigkeit ernährt. Dennoch darf er sich selbst nie als den Erhalter des Hauses fühlen nud benehmen. Er hat einmal den Vater und alle Welt daran gewöhnt, ihn für dumm zu halten, und dabei muß es bleiben. Es kommt in jeder Familie vor, daß sich die Eltern und Geschwister am wenigsten kennen; mit dem Bilde des Kindes im Geiste behandeln sie den älter gewordenen Sohn noch so, wie er vor zehn Jahren war; seine innere Wandlung merken sie gar nicht. So wird anch Paul immer ins Dunkel geschoben, fast schämt man sich seiner. Denn wie er als Dorfschüler einsam blieb, so benimmt er sich auch um in Gesellschaft als eine ungesellige Natur. Er kaun nicht spielen, macht keine Witze, kann nicht tändeln, hat gar kein Organ für Weltlust, für Tanzen und Hofmachen. Dies zeigt sich in seinem Verkehr mit der Familie Douglas, die das „weiße Haus" uach Abzug der Meyhöfers bezogen hat, und deren schöne Tochter Paul liebt. Aber anch in der Liebe ist er zaghaft, beinahe läßt er sich das Mädchen von einem Modegecken wegnehmen. Paul kann nicht um Liebe werben. Je älter er wird, umso zahlreicher werden die Pflichten, die er auf sich lasten fühlt. Er kennt überhaupt nur Pflichten, keine Rechte. Nur wenn er pfeift, stiehlt sich ein Sonnenstrahl von Vergnügen in sein Gemüt; zum Flötenspielenlernen hat er keine Muße gefunden, so pfeift er sich eins aus musikalischen Triebe, wenn sein Herz voll ist. Als die Zwillingsschwestern herangewachsen sind, fühlt Paul an Stelle des verlotterten Vaters sich geradezu verpflichtet, ihnen eine ausreichende Mit¬ gift zu erwerben, damit sie heiraten können. Da macht er die Entdeckung, daß sie sich mit den Brüdern Erdmann so weit eingelassen haben, daß sie von diesen um jeden Preis geheiratet werden müssen, wenn sie nicht in Schande geraten sollen. Kostbar ist es nun, wie sich der Hypochonder Paul bei diesem Zwange, eine That zu leisten, benimmt: wo er fordern soll, bettelt er. Die Grenzboten III 1890 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/417>, abgerufen am 29.06.2024.