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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hermann Hudermanns Erzählungen

Guten sind in der Minderzahl und stehen abseits, den Plan füllt das Pack.
Die Mehrzahl denkt immer nur an sich selbst und setzt diesen Egoismus bei
jedermann voraus. Wer nicht egoistisch ist, den halten sie für einen Thoren,
wenn nicht gar sür einen Schwachkopf oder, was das schlimmste ist, für einen
Feigling. Darum wird der persönliche Mut so hoch geschätzt, und stünde auch
nichts andres dahinter als übermütige Rauflust. Das ist der Geist von
"Frau Sorge." Wer die moderne Litteratur kennt, wird ihn als durchaus
modern empfinden, aber sich nicht erinnern können, ihm irgendwo so verdichtet
begegnet zu sein. Der erste, der diesen Gegensatz zwischen dem Wesen des
beschaulichen und vorwiegend ethischen Charakters zu den thätigeren und minder
ethischen Charakteren in aller bittern Schärfe gefaßt hat, war Schopenhauer
in seiner Genielehre; ein geistreicher Dilettant der Philosophie hat vor längerer
Zeit den Begriff und Charakter des "Hhpercephalen" nach Schopenhauer auf¬
gestellt, Emerich du Mont in seinem Buche über Schopenhauer und Darwin.
Die von Hermann Türk und dann von Alfred v. Berger gegebenen Erklärungen
von Shakespeares Hamlet bewegen sich ganz in derselben Richtung. Und ge¬
meinsam ist allen diesen Auffassungen die Parteinahme sür den wehrlosen
Grübler gegen die übrige Welt. Das ist spezifisch modern.

Der Held von "Frau Sorge," Paul Meyhöfer, ist ein solcher Mann, dem
es an der Gabe fehlt, sich die Würde, auf die er in reichstem Maße Anspruch
erheben darf, zu verschaffen, und das ist sein trauriges Schicksal. Dieses
Schicksal erzählt uus Sudermann mit einer solchen Folgerichtigkeit und Einsicht,
daß wir kaum jemals aus der Täuschung kommen und an seinen Helden so
fest glauben wie nnr an irgend eine geschichtliche Persönlichkeit. Bon der
Geburt angefangen, sehen wir den Charakter sich bilden und befestigen, bis
Paul zu der Erkenntnis dessen kommt, was ihm mangelt, und sich zu einer That
aufrafft, die ihn, ironisch genug, unschuldig ins Zuchthaus bringt, was nur
zu loben ist, denn so tief in sich selbst vergrabene Naturen wie dieser Paul
können nur durch Gewaltmittel kurirt werden.

Paul wird gerade zu der Zeit geboren, wo der Vater das "weiße Haus,"
ein schönes Schloß mit Landbesitz im fernen Ostpreußen, räumen muß, weil
er seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Dieser Vater Meyhöfer ist der
volle Gegensatz zu seinem Sohne. Der Alte strotzt von Selbstgefühl und
Eitelkeit, er führt immer das große Wort, hat jeden Tag neue Ideen, Gold
zu machen, erklärt jeden für einen Narren, der sich an seiner geplanten Aktien¬
gesellschaft nicht beteiligen will, ist roh gegen seine Frau und seine Kinder,
prügelt seine Knechte, tadelt alles und kann doch selbst in Wahrheit gar nichts
als saufen und Lärm machen, seine Wirtschaft überläßt er Weib und Kind,
die für ihn zu sorgen haben. Jeder Zug an der Charakteristik dieses Maul¬
helden ist wahr, die ganze Zeichnung vortrefflich. Unter diesem Vater wächst
Paul, unter Sorgen getragen, unter Sorgen geboren, unter Sorgen auferzogen,


Hermann Hudermanns Erzählungen

Guten sind in der Minderzahl und stehen abseits, den Plan füllt das Pack.
Die Mehrzahl denkt immer nur an sich selbst und setzt diesen Egoismus bei
jedermann voraus. Wer nicht egoistisch ist, den halten sie für einen Thoren,
wenn nicht gar sür einen Schwachkopf oder, was das schlimmste ist, für einen
Feigling. Darum wird der persönliche Mut so hoch geschätzt, und stünde auch
nichts andres dahinter als übermütige Rauflust. Das ist der Geist von
„Frau Sorge." Wer die moderne Litteratur kennt, wird ihn als durchaus
modern empfinden, aber sich nicht erinnern können, ihm irgendwo so verdichtet
begegnet zu sein. Der erste, der diesen Gegensatz zwischen dem Wesen des
beschaulichen und vorwiegend ethischen Charakters zu den thätigeren und minder
ethischen Charakteren in aller bittern Schärfe gefaßt hat, war Schopenhauer
in seiner Genielehre; ein geistreicher Dilettant der Philosophie hat vor längerer
Zeit den Begriff und Charakter des „Hhpercephalen" nach Schopenhauer auf¬
gestellt, Emerich du Mont in seinem Buche über Schopenhauer und Darwin.
Die von Hermann Türk und dann von Alfred v. Berger gegebenen Erklärungen
von Shakespeares Hamlet bewegen sich ganz in derselben Richtung. Und ge¬
meinsam ist allen diesen Auffassungen die Parteinahme sür den wehrlosen
Grübler gegen die übrige Welt. Das ist spezifisch modern.

Der Held von „Frau Sorge," Paul Meyhöfer, ist ein solcher Mann, dem
es an der Gabe fehlt, sich die Würde, auf die er in reichstem Maße Anspruch
erheben darf, zu verschaffen, und das ist sein trauriges Schicksal. Dieses
Schicksal erzählt uus Sudermann mit einer solchen Folgerichtigkeit und Einsicht,
daß wir kaum jemals aus der Täuschung kommen und an seinen Helden so
fest glauben wie nnr an irgend eine geschichtliche Persönlichkeit. Bon der
Geburt angefangen, sehen wir den Charakter sich bilden und befestigen, bis
Paul zu der Erkenntnis dessen kommt, was ihm mangelt, und sich zu einer That
aufrafft, die ihn, ironisch genug, unschuldig ins Zuchthaus bringt, was nur
zu loben ist, denn so tief in sich selbst vergrabene Naturen wie dieser Paul
können nur durch Gewaltmittel kurirt werden.

Paul wird gerade zu der Zeit geboren, wo der Vater das „weiße Haus,"
ein schönes Schloß mit Landbesitz im fernen Ostpreußen, räumen muß, weil
er seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Dieser Vater Meyhöfer ist der
volle Gegensatz zu seinem Sohne. Der Alte strotzt von Selbstgefühl und
Eitelkeit, er führt immer das große Wort, hat jeden Tag neue Ideen, Gold
zu machen, erklärt jeden für einen Narren, der sich an seiner geplanten Aktien¬
gesellschaft nicht beteiligen will, ist roh gegen seine Frau und seine Kinder,
prügelt seine Knechte, tadelt alles und kann doch selbst in Wahrheit gar nichts
als saufen und Lärm machen, seine Wirtschaft überläßt er Weib und Kind,
die für ihn zu sorgen haben. Jeder Zug an der Charakteristik dieses Maul¬
helden ist wahr, die ganze Zeichnung vortrefflich. Unter diesem Vater wächst
Paul, unter Sorgen getragen, unter Sorgen geboren, unter Sorgen auferzogen,


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[0416] Hermann Hudermanns Erzählungen Guten sind in der Minderzahl und stehen abseits, den Plan füllt das Pack. Die Mehrzahl denkt immer nur an sich selbst und setzt diesen Egoismus bei jedermann voraus. Wer nicht egoistisch ist, den halten sie für einen Thoren, wenn nicht gar sür einen Schwachkopf oder, was das schlimmste ist, für einen Feigling. Darum wird der persönliche Mut so hoch geschätzt, und stünde auch nichts andres dahinter als übermütige Rauflust. Das ist der Geist von „Frau Sorge." Wer die moderne Litteratur kennt, wird ihn als durchaus modern empfinden, aber sich nicht erinnern können, ihm irgendwo so verdichtet begegnet zu sein. Der erste, der diesen Gegensatz zwischen dem Wesen des beschaulichen und vorwiegend ethischen Charakters zu den thätigeren und minder ethischen Charakteren in aller bittern Schärfe gefaßt hat, war Schopenhauer in seiner Genielehre; ein geistreicher Dilettant der Philosophie hat vor längerer Zeit den Begriff und Charakter des „Hhpercephalen" nach Schopenhauer auf¬ gestellt, Emerich du Mont in seinem Buche über Schopenhauer und Darwin. Die von Hermann Türk und dann von Alfred v. Berger gegebenen Erklärungen von Shakespeares Hamlet bewegen sich ganz in derselben Richtung. Und ge¬ meinsam ist allen diesen Auffassungen die Parteinahme sür den wehrlosen Grübler gegen die übrige Welt. Das ist spezifisch modern. Der Held von „Frau Sorge," Paul Meyhöfer, ist ein solcher Mann, dem es an der Gabe fehlt, sich die Würde, auf die er in reichstem Maße Anspruch erheben darf, zu verschaffen, und das ist sein trauriges Schicksal. Dieses Schicksal erzählt uus Sudermann mit einer solchen Folgerichtigkeit und Einsicht, daß wir kaum jemals aus der Täuschung kommen und an seinen Helden so fest glauben wie nnr an irgend eine geschichtliche Persönlichkeit. Bon der Geburt angefangen, sehen wir den Charakter sich bilden und befestigen, bis Paul zu der Erkenntnis dessen kommt, was ihm mangelt, und sich zu einer That aufrafft, die ihn, ironisch genug, unschuldig ins Zuchthaus bringt, was nur zu loben ist, denn so tief in sich selbst vergrabene Naturen wie dieser Paul können nur durch Gewaltmittel kurirt werden. Paul wird gerade zu der Zeit geboren, wo der Vater das „weiße Haus," ein schönes Schloß mit Landbesitz im fernen Ostpreußen, räumen muß, weil er seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Dieser Vater Meyhöfer ist der volle Gegensatz zu seinem Sohne. Der Alte strotzt von Selbstgefühl und Eitelkeit, er führt immer das große Wort, hat jeden Tag neue Ideen, Gold zu machen, erklärt jeden für einen Narren, der sich an seiner geplanten Aktien¬ gesellschaft nicht beteiligen will, ist roh gegen seine Frau und seine Kinder, prügelt seine Knechte, tadelt alles und kann doch selbst in Wahrheit gar nichts als saufen und Lärm machen, seine Wirtschaft überläßt er Weib und Kind, die für ihn zu sorgen haben. Jeder Zug an der Charakteristik dieses Maul¬ helden ist wahr, die ganze Zeichnung vortrefflich. Unter diesem Vater wächst Paul, unter Sorgen getragen, unter Sorgen geboren, unter Sorgen auferzogen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/416>, abgerufen am 29.06.2024.