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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Auf Irrwegen

in belehrender Absicht geschrieben und besitzen jene rein dichterischen Vorzüge
nicht, die sie zum Gemeingut der Gebildeten aller Nationen machen könnten.

Die Unterschätzung der ethnographischen Seite ist die Klippe für die
deutschen Nachahmer. Sie malen düstre Bilder auf allbekannten Hintergrunde,
selten mit annähernd gleicher Energie in der Entwicklung psychologischer Pro¬
bleme, zum Glück auch meist ohne den Mut, ihre Vorbilder in der Schilde¬
rung gewagter oder gar schmutziger Szenen nachzuahmen. Sie vertreten einen
gemilderten, von vornherein lebensunfähigen Naturalismus.

Aber auch jener starke, auf is ooeliou llmrmin berechnete Naturalismus
neigt sich seinem Ende zu. In Frankreich macht sich gegen Zola bereits eine
kräftige litterarische Gegenströmung geltend, und was noch mehr ins Gewicht
sällt, er selbst scheint an der Grenze seines dichterischen Vermögens angelangt
zu sein. Wenigstens zeigen seine letzten Werke, abgesehen von einer gewissen
Unerschöpflichkeit in der Erfindung brutaler Situationen, keine neuen Seiten
seines Talents. Wer daher aus dem großen äußern Erfolge, den er in seiner
Heimat noch immer verzeichnen kann, sowie aus dein Umstände, daß sein Name
auch bei uns viel genannt wird, den Schluß zieht, daß auch in deutschen
Landen mit dieser Richtung "etwas zu machen sei," befindet sich in arger
Täuschung, schon deshalb, weil die Zahl seiner Leser bei uns viel geringer
ist, als man glaubt. Die Gebildeten aber, die ihn gelesen haben, haben trotz
aller Anerkennung seines starken Talents aus seinen Werken mehr Ekel und
leider auch Langeweile, als Genuß geschöpft.

Auf dramatischem Gebiete find weniger die Franzosen als Ibsen das
Licht, dem sich die aufsprießenden Talente zuwenden. Da jene von den Bühnen
ungleich mehr berücksichtigt werden, so erklärt sich diese -- fast möchte man
sagen -- unpraktische Vorliebe für Ibsen aus dem Umstände, daß er ein ori¬
ginelleres und kraftvolleres Talent ist als jene. Er hat wie Zola, Dostojewski
und Tolstoi jenen fanatischen Zug, der nicht bloß ans politischem und religiösem,
sondern auch auf ästhetischem Gebiete Anhänger wirbt und Gemeinden stiftet.
Was von Verschrobenheit und Eigensinn beigemischt ist, stoßt nicht ab; die
Jugend hält die eine für Originalität, den andern für "zielbewußte" Zähigkeit,
die allein den Erfolg sichert. Aber Ibsen besitzt noch einen andern Anziehungs¬
punkt, seine technische Meisterschaft. Von den offenbar nicht für die Aufführung
berechneten Stücken sehe ich selbstverständlich ab. Aber die späteren mag
ihr Inhalt auch oft unerquicklich oder geradezu abstoßend, der Schluß nicht
selten unklar sein -- offenbaren eine große Sicherheit in der Charakteristik und
eine seltene Kunst in der dramatischen Entwicklung. "Nosmershvlm" ist in
dieser Hinsicht eine bewunderungswürdige Leistung.

Daß jüngere Schriftsteller sehr viel von Ibsen lernen können, ist uicht
zweifelhaft; fraglich dagegen ist es, ob sie anch seiner dichterischen Tendenz
folgen sollen. Die Ansichten über den Zweck der Bühne gehen aus einander.


Auf Irrwegen

in belehrender Absicht geschrieben und besitzen jene rein dichterischen Vorzüge
nicht, die sie zum Gemeingut der Gebildeten aller Nationen machen könnten.

Die Unterschätzung der ethnographischen Seite ist die Klippe für die
deutschen Nachahmer. Sie malen düstre Bilder auf allbekannten Hintergrunde,
selten mit annähernd gleicher Energie in der Entwicklung psychologischer Pro¬
bleme, zum Glück auch meist ohne den Mut, ihre Vorbilder in der Schilde¬
rung gewagter oder gar schmutziger Szenen nachzuahmen. Sie vertreten einen
gemilderten, von vornherein lebensunfähigen Naturalismus.

Aber auch jener starke, auf is ooeliou llmrmin berechnete Naturalismus
neigt sich seinem Ende zu. In Frankreich macht sich gegen Zola bereits eine
kräftige litterarische Gegenströmung geltend, und was noch mehr ins Gewicht
sällt, er selbst scheint an der Grenze seines dichterischen Vermögens angelangt
zu sein. Wenigstens zeigen seine letzten Werke, abgesehen von einer gewissen
Unerschöpflichkeit in der Erfindung brutaler Situationen, keine neuen Seiten
seines Talents. Wer daher aus dem großen äußern Erfolge, den er in seiner
Heimat noch immer verzeichnen kann, sowie aus dein Umstände, daß sein Name
auch bei uns viel genannt wird, den Schluß zieht, daß auch in deutschen
Landen mit dieser Richtung „etwas zu machen sei," befindet sich in arger
Täuschung, schon deshalb, weil die Zahl seiner Leser bei uns viel geringer
ist, als man glaubt. Die Gebildeten aber, die ihn gelesen haben, haben trotz
aller Anerkennung seines starken Talents aus seinen Werken mehr Ekel und
leider auch Langeweile, als Genuß geschöpft.

Auf dramatischem Gebiete find weniger die Franzosen als Ibsen das
Licht, dem sich die aufsprießenden Talente zuwenden. Da jene von den Bühnen
ungleich mehr berücksichtigt werden, so erklärt sich diese — fast möchte man
sagen — unpraktische Vorliebe für Ibsen aus dem Umstände, daß er ein ori¬
ginelleres und kraftvolleres Talent ist als jene. Er hat wie Zola, Dostojewski
und Tolstoi jenen fanatischen Zug, der nicht bloß ans politischem und religiösem,
sondern auch auf ästhetischem Gebiete Anhänger wirbt und Gemeinden stiftet.
Was von Verschrobenheit und Eigensinn beigemischt ist, stoßt nicht ab; die
Jugend hält die eine für Originalität, den andern für „zielbewußte" Zähigkeit,
die allein den Erfolg sichert. Aber Ibsen besitzt noch einen andern Anziehungs¬
punkt, seine technische Meisterschaft. Von den offenbar nicht für die Aufführung
berechneten Stücken sehe ich selbstverständlich ab. Aber die späteren mag
ihr Inhalt auch oft unerquicklich oder geradezu abstoßend, der Schluß nicht
selten unklar sein — offenbaren eine große Sicherheit in der Charakteristik und
eine seltene Kunst in der dramatischen Entwicklung. „Nosmershvlm" ist in
dieser Hinsicht eine bewunderungswürdige Leistung.

Daß jüngere Schriftsteller sehr viel von Ibsen lernen können, ist uicht
zweifelhaft; fraglich dagegen ist es, ob sie anch seiner dichterischen Tendenz
folgen sollen. Die Ansichten über den Zweck der Bühne gehen aus einander.


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[0374] Auf Irrwegen in belehrender Absicht geschrieben und besitzen jene rein dichterischen Vorzüge nicht, die sie zum Gemeingut der Gebildeten aller Nationen machen könnten. Die Unterschätzung der ethnographischen Seite ist die Klippe für die deutschen Nachahmer. Sie malen düstre Bilder auf allbekannten Hintergrunde, selten mit annähernd gleicher Energie in der Entwicklung psychologischer Pro¬ bleme, zum Glück auch meist ohne den Mut, ihre Vorbilder in der Schilde¬ rung gewagter oder gar schmutziger Szenen nachzuahmen. Sie vertreten einen gemilderten, von vornherein lebensunfähigen Naturalismus. Aber auch jener starke, auf is ooeliou llmrmin berechnete Naturalismus neigt sich seinem Ende zu. In Frankreich macht sich gegen Zola bereits eine kräftige litterarische Gegenströmung geltend, und was noch mehr ins Gewicht sällt, er selbst scheint an der Grenze seines dichterischen Vermögens angelangt zu sein. Wenigstens zeigen seine letzten Werke, abgesehen von einer gewissen Unerschöpflichkeit in der Erfindung brutaler Situationen, keine neuen Seiten seines Talents. Wer daher aus dem großen äußern Erfolge, den er in seiner Heimat noch immer verzeichnen kann, sowie aus dein Umstände, daß sein Name auch bei uns viel genannt wird, den Schluß zieht, daß auch in deutschen Landen mit dieser Richtung „etwas zu machen sei," befindet sich in arger Täuschung, schon deshalb, weil die Zahl seiner Leser bei uns viel geringer ist, als man glaubt. Die Gebildeten aber, die ihn gelesen haben, haben trotz aller Anerkennung seines starken Talents aus seinen Werken mehr Ekel und leider auch Langeweile, als Genuß geschöpft. Auf dramatischem Gebiete find weniger die Franzosen als Ibsen das Licht, dem sich die aufsprießenden Talente zuwenden. Da jene von den Bühnen ungleich mehr berücksichtigt werden, so erklärt sich diese — fast möchte man sagen — unpraktische Vorliebe für Ibsen aus dem Umstände, daß er ein ori¬ ginelleres und kraftvolleres Talent ist als jene. Er hat wie Zola, Dostojewski und Tolstoi jenen fanatischen Zug, der nicht bloß ans politischem und religiösem, sondern auch auf ästhetischem Gebiete Anhänger wirbt und Gemeinden stiftet. Was von Verschrobenheit und Eigensinn beigemischt ist, stoßt nicht ab; die Jugend hält die eine für Originalität, den andern für „zielbewußte" Zähigkeit, die allein den Erfolg sichert. Aber Ibsen besitzt noch einen andern Anziehungs¬ punkt, seine technische Meisterschaft. Von den offenbar nicht für die Aufführung berechneten Stücken sehe ich selbstverständlich ab. Aber die späteren mag ihr Inhalt auch oft unerquicklich oder geradezu abstoßend, der Schluß nicht selten unklar sein — offenbaren eine große Sicherheit in der Charakteristik und eine seltene Kunst in der dramatischen Entwicklung. „Nosmershvlm" ist in dieser Hinsicht eine bewunderungswürdige Leistung. Daß jüngere Schriftsteller sehr viel von Ibsen lernen können, ist uicht zweifelhaft; fraglich dagegen ist es, ob sie anch seiner dichterischen Tendenz folgen sollen. Die Ansichten über den Zweck der Bühne gehen aus einander.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/374>, abgerufen am 26.06.2024.