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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Auf Irrwegen

Während die nun noch immer eine moralische Anstalt in ihr erblicken, sehen
die andern in ihr nnr eine Stätte der Erholung, der Unterhaltung, des
ästhetischen Genusses. Hätten die erster,. Recht, dann dürfte Ibsen trotz seiner
mehrfach recht bedenklichen Streifzüge auf die heikelsten Gebiete noch eine große
Bühueuzukunft haben, und jene Miseredramen, deren Stoffe halb den Er¬
fahrungen der Kriminalpolizei, halb denen der Vereine für innere Mission ent¬
lehnt sind, könnten in nicht allzuferner Zeit als die echtesten Kunstwerke gelten.
Aber Hebbel, in gewissem Sinne der Vorläufer Ibsens, hat bis zum heutigen
Tage noch nicht festen Fuß auf der Bühne gefaßt, und wenn man ans dem
Schicksal, das die Pflegekinder der Freien Bühne gehabt haben, einen Schluß
ziehe,, darf, so hat diese Gattung von Dramen vorläufig wenig Aussicht, in
die Mode zu kommen. Ehe sich das Publikum mit Stücken wie Björnsons
"Handschuh," Strindbergs "Vater," Tolstois "Macht der Finsternis" und ähn¬
liche", teilweise noch unerquicklicheren und nndramcitischeren Produkten be¬
freundet, wird es sich lieber "och jahrelang verbrauchte Motive und Charaktere
von bewahrten Alter gefallen lassen. Noch weniger als im Roman hat in,
Drama der Naturalismus Aussicht, bei uns zu allgemeiner Geltung zu gelangen.

Hullmui mittit g, ins g,1i(?um, puto ist zwar ein trefflicher Ausspruch,
aber der Dichter, insbesondre der dramatische, soll sich hüten, ihn zur Devise
zu wählen. Soll schlechterdings nur noch der Realismus berechtigt sein, so
giebt es auch im alltäglichen Leben Konflikte, Mißbräuche und Thorheiten
genug, die dankbare Stoffe für Komödien und ernste Stücke abgeben, und der
Dramatiker hat, um interessant zu sein, zu rühren und zu erschüttern, nicht
nötig, auf seine ans klinischen Berichten oder Schwurgerichtssitzungen ge¬
sammelten Kenntnisse zuriickzugreifeu.

Eine Schar jüngerer Schriftsteller, die uns glauben machen will, daß Goethe
und Schiller veraltete Vorbilder seien und auf der Bühne nur langweilten, die
sich gebärdet, als ob sie mit einigen energischen Sprüngen den Parnaß er¬
stürmen könnte, bisher aber ebenso wortreich als thatenarm geblieben ist, steht
im wesentlichen unter französischem, norwegischen und russischem Einfluß.
Wollen diese selbstbewußten Pfadfinder aus dem Bezirk des ihnen verhaßten
Epigonentums heraus einen Weg zeigen, so dürfen sie selbst nicht ans der
bereits stark befahrenen Hauptstraße hinter fremde,, Herrschern als Trabanten
einherziehen. Der Ausspruch Bei, Alldas, ans künstlerischen, Gebiet an sich
bedenklich, wirkt geradezu vernichtend, wenn er mit einer kleinen Abänderung
lautet: "Alles eben erst dagewesen, und zwar weit wirksamer!" Sie mögen
immerhin von ihren Meistern lernen, was des Lernens wert ist, aber das
eine nicht vergessen, daß die Fähigkeit, die platte Wirklichkeit abzuschreiben,
noch lange keinen Dichter macht. Jenes Goethische Wort, demzufolge das
Menschenleben, wo mans packt, interessant ist, hat seine Grenzen. Wo die
Musen das Geleit versage", da löst den Dichter der Berichterstatter ab.




Auf Irrwegen

Während die nun noch immer eine moralische Anstalt in ihr erblicken, sehen
die andern in ihr nnr eine Stätte der Erholung, der Unterhaltung, des
ästhetischen Genusses. Hätten die erster,. Recht, dann dürfte Ibsen trotz seiner
mehrfach recht bedenklichen Streifzüge auf die heikelsten Gebiete noch eine große
Bühueuzukunft haben, und jene Miseredramen, deren Stoffe halb den Er¬
fahrungen der Kriminalpolizei, halb denen der Vereine für innere Mission ent¬
lehnt sind, könnten in nicht allzuferner Zeit als die echtesten Kunstwerke gelten.
Aber Hebbel, in gewissem Sinne der Vorläufer Ibsens, hat bis zum heutigen
Tage noch nicht festen Fuß auf der Bühne gefaßt, und wenn man ans dem
Schicksal, das die Pflegekinder der Freien Bühne gehabt haben, einen Schluß
ziehe,, darf, so hat diese Gattung von Dramen vorläufig wenig Aussicht, in
die Mode zu kommen. Ehe sich das Publikum mit Stücken wie Björnsons
„Handschuh," Strindbergs „Vater," Tolstois „Macht der Finsternis" und ähn¬
liche», teilweise noch unerquicklicheren und nndramcitischeren Produkten be¬
freundet, wird es sich lieber „och jahrelang verbrauchte Motive und Charaktere
von bewahrten Alter gefallen lassen. Noch weniger als im Roman hat in,
Drama der Naturalismus Aussicht, bei uns zu allgemeiner Geltung zu gelangen.

Hullmui mittit g, ins g,1i(?um, puto ist zwar ein trefflicher Ausspruch,
aber der Dichter, insbesondre der dramatische, soll sich hüten, ihn zur Devise
zu wählen. Soll schlechterdings nur noch der Realismus berechtigt sein, so
giebt es auch im alltäglichen Leben Konflikte, Mißbräuche und Thorheiten
genug, die dankbare Stoffe für Komödien und ernste Stücke abgeben, und der
Dramatiker hat, um interessant zu sein, zu rühren und zu erschüttern, nicht
nötig, auf seine ans klinischen Berichten oder Schwurgerichtssitzungen ge¬
sammelten Kenntnisse zuriickzugreifeu.

Eine Schar jüngerer Schriftsteller, die uns glauben machen will, daß Goethe
und Schiller veraltete Vorbilder seien und auf der Bühne nur langweilten, die
sich gebärdet, als ob sie mit einigen energischen Sprüngen den Parnaß er¬
stürmen könnte, bisher aber ebenso wortreich als thatenarm geblieben ist, steht
im wesentlichen unter französischem, norwegischen und russischem Einfluß.
Wollen diese selbstbewußten Pfadfinder aus dem Bezirk des ihnen verhaßten
Epigonentums heraus einen Weg zeigen, so dürfen sie selbst nicht ans der
bereits stark befahrenen Hauptstraße hinter fremde,, Herrschern als Trabanten
einherziehen. Der Ausspruch Bei, Alldas, ans künstlerischen, Gebiet an sich
bedenklich, wirkt geradezu vernichtend, wenn er mit einer kleinen Abänderung
lautet: „Alles eben erst dagewesen, und zwar weit wirksamer!" Sie mögen
immerhin von ihren Meistern lernen, was des Lernens wert ist, aber das
eine nicht vergessen, daß die Fähigkeit, die platte Wirklichkeit abzuschreiben,
noch lange keinen Dichter macht. Jenes Goethische Wort, demzufolge das
Menschenleben, wo mans packt, interessant ist, hat seine Grenzen. Wo die
Musen das Geleit versage«, da löst den Dichter der Berichterstatter ab.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/375>, abgerufen am 26.06.2024.