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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Auf Irrwegen

eingehende Besprechungen einzelner Werke, ganze Essays über ihr Leben, ihren
Entwicklungsgang, ihr litterarisches Wirken mit einer Ausführlichkeit, wie sie
deutschen Autoren bei uns nnr selten, in ausländischen Zeitschriften wahr¬
scheinlich nie zu Teil wird.

Diese Bevorzugung des Fremdländischen führt die heimischem Schriftsteller,
soweit sie nicht bereits eine feste Stellung von bestimmtem Gepräge einnehmen,
irre, und selbst bei stärker" Talenten kann man ein unsicheres Tasten wahr¬
nehmen. Der Erfolg ist ein verlockender Wegweiser, von dem sich viele leiten
lassen, aber er zeigt nicht immer die richtige Bahn. Gerade die Muster von
eigenartigem Charakter werden in Nachahmungen am leichtesten wiedererkannt,
und die Entdeckung dieser geistigen Vaterschaft ist von keinem Segen für die,
die in solcher Abhängigkeit Lorberen zu erringen hoffen. Zu durchschlagenden
Erfolge bringen es die Werke nach berühmten Mustern niemals, und so ist
die Klage über die Vernachlässigung einheimischer Leistungen wenn mich be¬
gründet, doch nicht unerklärlich und vor allem uicht ungerechtfertigt.

Das Interesse der gebildeten Leser auch an den Werken jener berühmten
Ausländer ist im allgemeinen nicht so groß, wie man annimmt, vor allem ist
es keins, das auf reinem Kunstgenuß beruht. Die pessimistische Grundstim-
mung ohne eine Spur mildernden Humors ermüdet den Leser, und der
kritischere Kopf bemerkt zugleich, daß in diesem einseitigen Hervorheben der
Schattenseiten des Lebens mindestens ebenso viel Unwahrheit liegt, als in jenen
idealisirenden Schilderungen, mit denen die Anhänger der naturalistischem Richtung
gründlich aufgeräumt zu haben meinen. Auch die wüste Häufung von Verbrechen,
Lastern und Elend ergiebt ein falsches Bild des menschlichen Daseins. Selbst
auf das armseligste Leben fallen einige Sonnenstrahlen, wie Dickens in seineu
meisterhaften Schilderungen menschlichen Jammers gezeigt hat. Diese Licht¬
seiten zu suchen und zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe des Dichters. Das
vergessen jene leidenschaftlichen Vertreter des naturalistischen Prinzips. Ihnen
ist das Häßliche und Brutale das hauptsächliche, oft das alleinige Objekt der
Darstellung. Aber Unwahrheit bleibt Unwahrheit, mag sie nun in Schön¬
färberei oder in Schwarzmalerei bestehen.

Wer sich auf die Teilnahme beruft, die namentlich russische Schriftsteller
mit ihren Schilderungen fauler Zustünde und menschlicher Verkommenheit ge¬
funden haben, der übersieht, daß in den meisten Werken das ethnographisch
Interessante das dichterisch Bedeutende und sozusagen allgemein Menschliche
überwiegt. Aber der Reiz des Fremdartigen verblaßt durch die Wiederholung,
und so kommt es, daß Novellen, wie Turgenjews "Frühliugswogen," "Eine
Unglückliche" u. a. einen tiefern und nachhaltigem Entbruck machen, als jene
hochberühmten, spezifisch russischen Erzählungen, wie ,,Dunst" und "Väter
und Sohne." Kein Wunder. Die letzten, sind ebenso wie die meisten Werke
Dostojewskis, Tolstois und andrer lediglich für die russische Nation, zum Teil


Auf Irrwegen

eingehende Besprechungen einzelner Werke, ganze Essays über ihr Leben, ihren
Entwicklungsgang, ihr litterarisches Wirken mit einer Ausführlichkeit, wie sie
deutschen Autoren bei uns nnr selten, in ausländischen Zeitschriften wahr¬
scheinlich nie zu Teil wird.

Diese Bevorzugung des Fremdländischen führt die heimischem Schriftsteller,
soweit sie nicht bereits eine feste Stellung von bestimmtem Gepräge einnehmen,
irre, und selbst bei stärker» Talenten kann man ein unsicheres Tasten wahr¬
nehmen. Der Erfolg ist ein verlockender Wegweiser, von dem sich viele leiten
lassen, aber er zeigt nicht immer die richtige Bahn. Gerade die Muster von
eigenartigem Charakter werden in Nachahmungen am leichtesten wiedererkannt,
und die Entdeckung dieser geistigen Vaterschaft ist von keinem Segen für die,
die in solcher Abhängigkeit Lorberen zu erringen hoffen. Zu durchschlagenden
Erfolge bringen es die Werke nach berühmten Mustern niemals, und so ist
die Klage über die Vernachlässigung einheimischer Leistungen wenn mich be¬
gründet, doch nicht unerklärlich und vor allem uicht ungerechtfertigt.

Das Interesse der gebildeten Leser auch an den Werken jener berühmten
Ausländer ist im allgemeinen nicht so groß, wie man annimmt, vor allem ist
es keins, das auf reinem Kunstgenuß beruht. Die pessimistische Grundstim-
mung ohne eine Spur mildernden Humors ermüdet den Leser, und der
kritischere Kopf bemerkt zugleich, daß in diesem einseitigen Hervorheben der
Schattenseiten des Lebens mindestens ebenso viel Unwahrheit liegt, als in jenen
idealisirenden Schilderungen, mit denen die Anhänger der naturalistischem Richtung
gründlich aufgeräumt zu haben meinen. Auch die wüste Häufung von Verbrechen,
Lastern und Elend ergiebt ein falsches Bild des menschlichen Daseins. Selbst
auf das armseligste Leben fallen einige Sonnenstrahlen, wie Dickens in seineu
meisterhaften Schilderungen menschlichen Jammers gezeigt hat. Diese Licht¬
seiten zu suchen und zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe des Dichters. Das
vergessen jene leidenschaftlichen Vertreter des naturalistischen Prinzips. Ihnen
ist das Häßliche und Brutale das hauptsächliche, oft das alleinige Objekt der
Darstellung. Aber Unwahrheit bleibt Unwahrheit, mag sie nun in Schön¬
färberei oder in Schwarzmalerei bestehen.

Wer sich auf die Teilnahme beruft, die namentlich russische Schriftsteller
mit ihren Schilderungen fauler Zustünde und menschlicher Verkommenheit ge¬
funden haben, der übersieht, daß in den meisten Werken das ethnographisch
Interessante das dichterisch Bedeutende und sozusagen allgemein Menschliche
überwiegt. Aber der Reiz des Fremdartigen verblaßt durch die Wiederholung,
und so kommt es, daß Novellen, wie Turgenjews „Frühliugswogen," „Eine
Unglückliche" u. a. einen tiefern und nachhaltigem Entbruck machen, als jene
hochberühmten, spezifisch russischen Erzählungen, wie ,,Dunst" und „Väter
und Sohne." Kein Wunder. Die letzten, sind ebenso wie die meisten Werke
Dostojewskis, Tolstois und andrer lediglich für die russische Nation, zum Teil


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[0373] Auf Irrwegen eingehende Besprechungen einzelner Werke, ganze Essays über ihr Leben, ihren Entwicklungsgang, ihr litterarisches Wirken mit einer Ausführlichkeit, wie sie deutschen Autoren bei uns nnr selten, in ausländischen Zeitschriften wahr¬ scheinlich nie zu Teil wird. Diese Bevorzugung des Fremdländischen führt die heimischem Schriftsteller, soweit sie nicht bereits eine feste Stellung von bestimmtem Gepräge einnehmen, irre, und selbst bei stärker» Talenten kann man ein unsicheres Tasten wahr¬ nehmen. Der Erfolg ist ein verlockender Wegweiser, von dem sich viele leiten lassen, aber er zeigt nicht immer die richtige Bahn. Gerade die Muster von eigenartigem Charakter werden in Nachahmungen am leichtesten wiedererkannt, und die Entdeckung dieser geistigen Vaterschaft ist von keinem Segen für die, die in solcher Abhängigkeit Lorberen zu erringen hoffen. Zu durchschlagenden Erfolge bringen es die Werke nach berühmten Mustern niemals, und so ist die Klage über die Vernachlässigung einheimischer Leistungen wenn mich be¬ gründet, doch nicht unerklärlich und vor allem uicht ungerechtfertigt. Das Interesse der gebildeten Leser auch an den Werken jener berühmten Ausländer ist im allgemeinen nicht so groß, wie man annimmt, vor allem ist es keins, das auf reinem Kunstgenuß beruht. Die pessimistische Grundstim- mung ohne eine Spur mildernden Humors ermüdet den Leser, und der kritischere Kopf bemerkt zugleich, daß in diesem einseitigen Hervorheben der Schattenseiten des Lebens mindestens ebenso viel Unwahrheit liegt, als in jenen idealisirenden Schilderungen, mit denen die Anhänger der naturalistischem Richtung gründlich aufgeräumt zu haben meinen. Auch die wüste Häufung von Verbrechen, Lastern und Elend ergiebt ein falsches Bild des menschlichen Daseins. Selbst auf das armseligste Leben fallen einige Sonnenstrahlen, wie Dickens in seineu meisterhaften Schilderungen menschlichen Jammers gezeigt hat. Diese Licht¬ seiten zu suchen und zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe des Dichters. Das vergessen jene leidenschaftlichen Vertreter des naturalistischen Prinzips. Ihnen ist das Häßliche und Brutale das hauptsächliche, oft das alleinige Objekt der Darstellung. Aber Unwahrheit bleibt Unwahrheit, mag sie nun in Schön¬ färberei oder in Schwarzmalerei bestehen. Wer sich auf die Teilnahme beruft, die namentlich russische Schriftsteller mit ihren Schilderungen fauler Zustünde und menschlicher Verkommenheit ge¬ funden haben, der übersieht, daß in den meisten Werken das ethnographisch Interessante das dichterisch Bedeutende und sozusagen allgemein Menschliche überwiegt. Aber der Reiz des Fremdartigen verblaßt durch die Wiederholung, und so kommt es, daß Novellen, wie Turgenjews „Frühliugswogen," „Eine Unglückliche" u. a. einen tiefern und nachhaltigem Entbruck machen, als jene hochberühmten, spezifisch russischen Erzählungen, wie ,,Dunst" und „Väter und Sohne." Kein Wunder. Die letzten, sind ebenso wie die meisten Werke Dostojewskis, Tolstois und andrer lediglich für die russische Nation, zum Teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/373>, abgerufen am 26.06.2024.