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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hansindnstrielle Zustände

der Bericht besonders hervorhebt, in den hausindustriellen Kreisen Landshut,
Hirschberg, Löwenberg, Waldenburg und Lauban ist die Sterblichkeit der ehe¬
lichen Kinder im ersten Lebensjahre die höchste, die im preußischen Staate
überhaupt beobachtet worden ist. Diese Thatsache läßt ahnen, wie groß der
soziale Notstand eines beträchtlichen Teiles der deutschen Hausarbeiter (Schlesien
steht hinsichtlich ihrer Zahl in Preußen nur der Rheinprovinz nach), wie tief
ihr soin1g.ra ok ins gesunken sein muß, sie bestätigt die alte, durch die sozialen
Untersuchungen Englands zuerst gemachte Erfahrung, daß die industrielle
Thätigkeit der verheirateten Frau die Kindersterblichkeit erhöht. Die Fabrik¬
arbeitersfrau findet jetzt immerhin einigen Schutz an der Bestimmung der Ge¬
werbeordnung, die die Fabrikbeschäftigung der Wöchnerinnen drei Wochen lang
verbietet, und deren praktische Durchführbarkeit wesentlich erleichtert ist, feit das
Krankenversichcrungsgesetz diesen Wöchnerinnen während derselben Zeit einen
Rechtsanspruch auf die Hälfte des ortsüblichen Tagelvhnes gegeben hat. Die
hausindustriell beschäftigte Mutter entbehrt noch immer dieser Fürsorge des
Gesetzes, denn wenn auch das Krankenversicherungsgesctz die Ansdehmmg ans
die Hausiudustriellen, so weit sie daS Rohmaterial und die Hilfsstoffe von
dem Unternehmer geliefert erhalten, zuläßt, so ist erstens, so viel bekannt ge¬
worden ist, von dieser Erlaubnis in größerem Umfange nur im Regierungs¬
bezirk Düsseldorf Gebrauch gemacht worden, anderseits umfaßt sie, selbst wenn
es geschieht, doch eben nur einen Teil der in der Hausindustrie ihren Erwerb
suchenden Bevölkerung. Auch in diesem Punkte erscheint demnach eine Aus¬
dehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung besonders dringlich. Die Schwierigkeit
der hierzu erforderlichen Abgrenzung der familienwirtschaftlichen von der haus-
industrielleu Thätigkeit der verheirateten Frau ist nicht gering; doch muß sie
überwunden werden, um auch in der Hausindustrie die Gesetzgebung einen
kleinen Schritt weiter zu führen zu dem hohen, leider noch weit entfernten
Ziele einer Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse dahin, daß es möglich wird,
die industrielle Arbeit der verheirateten Fran überhaupt zu beseitigen, die
Finn ausschließlich in der Familienwirtschaft zu beschäftigen und damit dem
Familienleben und dem Familienfrieden materielle wie ideale Werte schaffen zu
lassen.

Bei einer solchen Sachlage noch immer davon sprechen, daß die Haus¬
industrie für die arbeitenden Klassen die günstigste Betriebsfvrm sei, heißt ein
geträumtes Ideal nicht aufgeben können. Mögen im einzelnen mancherlei
Bordelle vorhanden sein, die sich auf den größern Fninilienzusnnnuenhang
zurückführen lassen, und sie sind es gewiß, so ist doch so viel durch die Berichte
aufs neue klar geworden: die Hausindustrie weist heute viel Schatten und
wenig Licht auf, und die größere Gewähr für Lebe" und Gesundheit findet
der Einzelne zur Zeit nicht mehr in ihr, sondern in der fabrikiudustriellen
Thätigkeit. Marx sagt einmal auf Grund englischer Erfahrungen in seinem


Hansindnstrielle Zustände

der Bericht besonders hervorhebt, in den hausindustriellen Kreisen Landshut,
Hirschberg, Löwenberg, Waldenburg und Lauban ist die Sterblichkeit der ehe¬
lichen Kinder im ersten Lebensjahre die höchste, die im preußischen Staate
überhaupt beobachtet worden ist. Diese Thatsache läßt ahnen, wie groß der
soziale Notstand eines beträchtlichen Teiles der deutschen Hausarbeiter (Schlesien
steht hinsichtlich ihrer Zahl in Preußen nur der Rheinprovinz nach), wie tief
ihr soin1g.ra ok ins gesunken sein muß, sie bestätigt die alte, durch die sozialen
Untersuchungen Englands zuerst gemachte Erfahrung, daß die industrielle
Thätigkeit der verheirateten Frau die Kindersterblichkeit erhöht. Die Fabrik¬
arbeitersfrau findet jetzt immerhin einigen Schutz an der Bestimmung der Ge¬
werbeordnung, die die Fabrikbeschäftigung der Wöchnerinnen drei Wochen lang
verbietet, und deren praktische Durchführbarkeit wesentlich erleichtert ist, feit das
Krankenversichcrungsgesetz diesen Wöchnerinnen während derselben Zeit einen
Rechtsanspruch auf die Hälfte des ortsüblichen Tagelvhnes gegeben hat. Die
hausindustriell beschäftigte Mutter entbehrt noch immer dieser Fürsorge des
Gesetzes, denn wenn auch das Krankenversicherungsgesctz die Ansdehmmg ans
die Hausiudustriellen, so weit sie daS Rohmaterial und die Hilfsstoffe von
dem Unternehmer geliefert erhalten, zuläßt, so ist erstens, so viel bekannt ge¬
worden ist, von dieser Erlaubnis in größerem Umfange nur im Regierungs¬
bezirk Düsseldorf Gebrauch gemacht worden, anderseits umfaßt sie, selbst wenn
es geschieht, doch eben nur einen Teil der in der Hausindustrie ihren Erwerb
suchenden Bevölkerung. Auch in diesem Punkte erscheint demnach eine Aus¬
dehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung besonders dringlich. Die Schwierigkeit
der hierzu erforderlichen Abgrenzung der familienwirtschaftlichen von der haus-
industrielleu Thätigkeit der verheirateten Frau ist nicht gering; doch muß sie
überwunden werden, um auch in der Hausindustrie die Gesetzgebung einen
kleinen Schritt weiter zu führen zu dem hohen, leider noch weit entfernten
Ziele einer Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse dahin, daß es möglich wird,
die industrielle Arbeit der verheirateten Fran überhaupt zu beseitigen, die
Finn ausschließlich in der Familienwirtschaft zu beschäftigen und damit dem
Familienleben und dem Familienfrieden materielle wie ideale Werte schaffen zu
lassen.

Bei einer solchen Sachlage noch immer davon sprechen, daß die Haus¬
industrie für die arbeitenden Klassen die günstigste Betriebsfvrm sei, heißt ein
geträumtes Ideal nicht aufgeben können. Mögen im einzelnen mancherlei
Bordelle vorhanden sein, die sich auf den größern Fninilienzusnnnuenhang
zurückführen lassen, und sie sind es gewiß, so ist doch so viel durch die Berichte
aufs neue klar geworden: die Hausindustrie weist heute viel Schatten und
wenig Licht auf, und die größere Gewähr für Lebe» und Gesundheit findet
der Einzelne zur Zeit nicht mehr in ihr, sondern in der fabrikiudustriellen
Thätigkeit. Marx sagt einmal auf Grund englischer Erfahrungen in seinem


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[0370] Hansindnstrielle Zustände der Bericht besonders hervorhebt, in den hausindustriellen Kreisen Landshut, Hirschberg, Löwenberg, Waldenburg und Lauban ist die Sterblichkeit der ehe¬ lichen Kinder im ersten Lebensjahre die höchste, die im preußischen Staate überhaupt beobachtet worden ist. Diese Thatsache läßt ahnen, wie groß der soziale Notstand eines beträchtlichen Teiles der deutschen Hausarbeiter (Schlesien steht hinsichtlich ihrer Zahl in Preußen nur der Rheinprovinz nach), wie tief ihr soin1g.ra ok ins gesunken sein muß, sie bestätigt die alte, durch die sozialen Untersuchungen Englands zuerst gemachte Erfahrung, daß die industrielle Thätigkeit der verheirateten Frau die Kindersterblichkeit erhöht. Die Fabrik¬ arbeitersfrau findet jetzt immerhin einigen Schutz an der Bestimmung der Ge¬ werbeordnung, die die Fabrikbeschäftigung der Wöchnerinnen drei Wochen lang verbietet, und deren praktische Durchführbarkeit wesentlich erleichtert ist, feit das Krankenversichcrungsgesetz diesen Wöchnerinnen während derselben Zeit einen Rechtsanspruch auf die Hälfte des ortsüblichen Tagelvhnes gegeben hat. Die hausindustriell beschäftigte Mutter entbehrt noch immer dieser Fürsorge des Gesetzes, denn wenn auch das Krankenversicherungsgesctz die Ansdehmmg ans die Hausiudustriellen, so weit sie daS Rohmaterial und die Hilfsstoffe von dem Unternehmer geliefert erhalten, zuläßt, so ist erstens, so viel bekannt ge¬ worden ist, von dieser Erlaubnis in größerem Umfange nur im Regierungs¬ bezirk Düsseldorf Gebrauch gemacht worden, anderseits umfaßt sie, selbst wenn es geschieht, doch eben nur einen Teil der in der Hausindustrie ihren Erwerb suchenden Bevölkerung. Auch in diesem Punkte erscheint demnach eine Aus¬ dehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung besonders dringlich. Die Schwierigkeit der hierzu erforderlichen Abgrenzung der familienwirtschaftlichen von der haus- industrielleu Thätigkeit der verheirateten Frau ist nicht gering; doch muß sie überwunden werden, um auch in der Hausindustrie die Gesetzgebung einen kleinen Schritt weiter zu führen zu dem hohen, leider noch weit entfernten Ziele einer Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse dahin, daß es möglich wird, die industrielle Arbeit der verheirateten Fran überhaupt zu beseitigen, die Finn ausschließlich in der Familienwirtschaft zu beschäftigen und damit dem Familienleben und dem Familienfrieden materielle wie ideale Werte schaffen zu lassen. Bei einer solchen Sachlage noch immer davon sprechen, daß die Haus¬ industrie für die arbeitenden Klassen die günstigste Betriebsfvrm sei, heißt ein geträumtes Ideal nicht aufgeben können. Mögen im einzelnen mancherlei Bordelle vorhanden sein, die sich auf den größern Fninilienzusnnnuenhang zurückführen lassen, und sie sind es gewiß, so ist doch so viel durch die Berichte aufs neue klar geworden: die Hausindustrie weist heute viel Schatten und wenig Licht auf, und die größere Gewähr für Lebe» und Gesundheit findet der Einzelne zur Zeit nicht mehr in ihr, sondern in der fabrikiudustriellen Thätigkeit. Marx sagt einmal auf Grund englischer Erfahrungen in seinem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/370>, abgerufen am 26.06.2024.