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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hcmsindustrielle Zustände

Körpers, die Lebensdauer, den Schulunterricht durch den steten Verkehr mit
Erwachsenen die sittliche Ausbildung, schließlich die spätere Arbeitsfähigkeit,
indem sie den jugendlichen Geist abstumpft und zur Erlernung eines größere
Anstelligkeit erfordernden Berufes untauglich macht. Nicht zu verkennen ist,
daß durch eine solche Bestimmung die wirtschaftliche Not vieler hausindustriellen
Familien gesteigert werden würde, da sie ihnen fürs erste nichts böte, als einen
Zwang zur Verhinderung der Entartung ihrer Kinder. Die wohlthätigen so¬
zialen Folgen würden aber auch hier nicht ausbleiben.

Zur Erkenntnis der Lebenshaltung einer Bevölkerung sind für den Volks¬
wirt die Sterblichkeitsverhältnisse von hoher Bedeutung, denn die Sterblichkeit
ist, wie der Kameralist Süßmilch in seiner immer noch lesenswerten "Göttlichen
Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" in etwas über-
schwänglicher Weise sagt, der treueste Spiegel des Glückes, der Wohlfahrt der
Menschen und aller ihrer Wechselfälle. Leider bringt der Bericht über die
Hausindustrie in Berlin auch "ach dieser Richtung kein Material bei. Die
Beschaffung mag freilich bei den Verhältnissen der Hauptstadt und dem
Wechsel in der Erwerbsweise großen Schwierigkeiten unterliegen. Die Gesund-
heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Hausweberei im Fichtelgebirge und
in der Leinen-, Woll- und Baumwollen-, sowie der Zigarrenhansindustrie im
Bezirk der Handelskammer von Osnabrück werden als nicht ungünstig an¬
gegeben. Ein sehr düsteres Bild entwirft aber der auf ein großes Zahlen¬
material gestützte und durchaus objektiv gehaltene schlesische Bericht. Dieser hebt
zunächst hervor, daß in den neunzehn schlesischen Kreisen, die die Hauptsitze der
schlesischen Hausarbciter siud, auf tausend Bewohner jährlich 29,8 Sterbefälle
zu rechnen sind, während die entsprechenden Zahlen für den preußischen Staat
25,2 und für ganz Schlesien 28,9 sind. Wenn nun auch andre Ursachen mit¬
wirken mögen, so ist doch durch alle statistischen Erhebungen, insbesondre die
der Epidemien bestätigt, daß Armut der Hauptgrund der erhöhten Sterblichkeit ist.

Noch mehr als die Sterblichkeitsziffer im allgemeinen giebt die der ehe¬
lichen Kinder einen sichern Anhaltepunkt zur Beurteilung der sozialen Lage
einer Bevölkerung. Da, wie Freiherr von Firth in seiner Abhandlung über
die Zeit der Geburten und die Sterblichkeit der Kinder während des ersten
Lebensjahres im preußischen Staat (Zeitschrift des königl. preußischen statistischen
Bureaus 1885>) mit Recht betont, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
überall vorhanden ist und nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ihr Be¬
streben darauf richtet, das Leben ihrer Kinder zu erhalten, fo ist, wenn die
Erfolge der Kinderpflege so ungleich sind, kein andrer Schlich möglich, als
daß die wirtschaftliche Fähigkeit dem guten Willen nachsteht. Daher ist
es in hohem Grade bezeichnend, wenn wir aus dem Bericht erfahren, daß
in den neunzehn schlesischen hausindustriellen Kreisen die Totgebnrtsziffer und
die Säuglingssterblichkeit ehelicher Kinder außerordentlich hoch ist. Ja; wie


Grenzboten III 1890 46
Hcmsindustrielle Zustände

Körpers, die Lebensdauer, den Schulunterricht durch den steten Verkehr mit
Erwachsenen die sittliche Ausbildung, schließlich die spätere Arbeitsfähigkeit,
indem sie den jugendlichen Geist abstumpft und zur Erlernung eines größere
Anstelligkeit erfordernden Berufes untauglich macht. Nicht zu verkennen ist,
daß durch eine solche Bestimmung die wirtschaftliche Not vieler hausindustriellen
Familien gesteigert werden würde, da sie ihnen fürs erste nichts böte, als einen
Zwang zur Verhinderung der Entartung ihrer Kinder. Die wohlthätigen so¬
zialen Folgen würden aber auch hier nicht ausbleiben.

Zur Erkenntnis der Lebenshaltung einer Bevölkerung sind für den Volks¬
wirt die Sterblichkeitsverhältnisse von hoher Bedeutung, denn die Sterblichkeit
ist, wie der Kameralist Süßmilch in seiner immer noch lesenswerten „Göttlichen
Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" in etwas über-
schwänglicher Weise sagt, der treueste Spiegel des Glückes, der Wohlfahrt der
Menschen und aller ihrer Wechselfälle. Leider bringt der Bericht über die
Hausindustrie in Berlin auch »ach dieser Richtung kein Material bei. Die
Beschaffung mag freilich bei den Verhältnissen der Hauptstadt und dem
Wechsel in der Erwerbsweise großen Schwierigkeiten unterliegen. Die Gesund-
heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Hausweberei im Fichtelgebirge und
in der Leinen-, Woll- und Baumwollen-, sowie der Zigarrenhansindustrie im
Bezirk der Handelskammer von Osnabrück werden als nicht ungünstig an¬
gegeben. Ein sehr düsteres Bild entwirft aber der auf ein großes Zahlen¬
material gestützte und durchaus objektiv gehaltene schlesische Bericht. Dieser hebt
zunächst hervor, daß in den neunzehn schlesischen Kreisen, die die Hauptsitze der
schlesischen Hausarbciter siud, auf tausend Bewohner jährlich 29,8 Sterbefälle
zu rechnen sind, während die entsprechenden Zahlen für den preußischen Staat
25,2 und für ganz Schlesien 28,9 sind. Wenn nun auch andre Ursachen mit¬
wirken mögen, so ist doch durch alle statistischen Erhebungen, insbesondre die
der Epidemien bestätigt, daß Armut der Hauptgrund der erhöhten Sterblichkeit ist.

Noch mehr als die Sterblichkeitsziffer im allgemeinen giebt die der ehe¬
lichen Kinder einen sichern Anhaltepunkt zur Beurteilung der sozialen Lage
einer Bevölkerung. Da, wie Freiherr von Firth in seiner Abhandlung über
die Zeit der Geburten und die Sterblichkeit der Kinder während des ersten
Lebensjahres im preußischen Staat (Zeitschrift des königl. preußischen statistischen
Bureaus 1885>) mit Recht betont, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
überall vorhanden ist und nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ihr Be¬
streben darauf richtet, das Leben ihrer Kinder zu erhalten, fo ist, wenn die
Erfolge der Kinderpflege so ungleich sind, kein andrer Schlich möglich, als
daß die wirtschaftliche Fähigkeit dem guten Willen nachsteht. Daher ist
es in hohem Grade bezeichnend, wenn wir aus dem Bericht erfahren, daß
in den neunzehn schlesischen hausindustriellen Kreisen die Totgebnrtsziffer und
die Säuglingssterblichkeit ehelicher Kinder außerordentlich hoch ist. Ja; wie


Grenzboten III 1890 46
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[0369] Hcmsindustrielle Zustände Körpers, die Lebensdauer, den Schulunterricht durch den steten Verkehr mit Erwachsenen die sittliche Ausbildung, schließlich die spätere Arbeitsfähigkeit, indem sie den jugendlichen Geist abstumpft und zur Erlernung eines größere Anstelligkeit erfordernden Berufes untauglich macht. Nicht zu verkennen ist, daß durch eine solche Bestimmung die wirtschaftliche Not vieler hausindustriellen Familien gesteigert werden würde, da sie ihnen fürs erste nichts böte, als einen Zwang zur Verhinderung der Entartung ihrer Kinder. Die wohlthätigen so¬ zialen Folgen würden aber auch hier nicht ausbleiben. Zur Erkenntnis der Lebenshaltung einer Bevölkerung sind für den Volks¬ wirt die Sterblichkeitsverhältnisse von hoher Bedeutung, denn die Sterblichkeit ist, wie der Kameralist Süßmilch in seiner immer noch lesenswerten „Göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" in etwas über- schwänglicher Weise sagt, der treueste Spiegel des Glückes, der Wohlfahrt der Menschen und aller ihrer Wechselfälle. Leider bringt der Bericht über die Hausindustrie in Berlin auch »ach dieser Richtung kein Material bei. Die Beschaffung mag freilich bei den Verhältnissen der Hauptstadt und dem Wechsel in der Erwerbsweise großen Schwierigkeiten unterliegen. Die Gesund- heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Hausweberei im Fichtelgebirge und in der Leinen-, Woll- und Baumwollen-, sowie der Zigarrenhansindustrie im Bezirk der Handelskammer von Osnabrück werden als nicht ungünstig an¬ gegeben. Ein sehr düsteres Bild entwirft aber der auf ein großes Zahlen¬ material gestützte und durchaus objektiv gehaltene schlesische Bericht. Dieser hebt zunächst hervor, daß in den neunzehn schlesischen Kreisen, die die Hauptsitze der schlesischen Hausarbciter siud, auf tausend Bewohner jährlich 29,8 Sterbefälle zu rechnen sind, während die entsprechenden Zahlen für den preußischen Staat 25,2 und für ganz Schlesien 28,9 sind. Wenn nun auch andre Ursachen mit¬ wirken mögen, so ist doch durch alle statistischen Erhebungen, insbesondre die der Epidemien bestätigt, daß Armut der Hauptgrund der erhöhten Sterblichkeit ist. Noch mehr als die Sterblichkeitsziffer im allgemeinen giebt die der ehe¬ lichen Kinder einen sichern Anhaltepunkt zur Beurteilung der sozialen Lage einer Bevölkerung. Da, wie Freiherr von Firth in seiner Abhandlung über die Zeit der Geburten und die Sterblichkeit der Kinder während des ersten Lebensjahres im preußischen Staat (Zeitschrift des königl. preußischen statistischen Bureaus 1885>) mit Recht betont, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern überall vorhanden ist und nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ihr Be¬ streben darauf richtet, das Leben ihrer Kinder zu erhalten, fo ist, wenn die Erfolge der Kinderpflege so ungleich sind, kein andrer Schlich möglich, als daß die wirtschaftliche Fähigkeit dem guten Willen nachsteht. Daher ist es in hohem Grade bezeichnend, wenn wir aus dem Bericht erfahren, daß in den neunzehn schlesischen hausindustriellen Kreisen die Totgebnrtsziffer und die Säuglingssterblichkeit ehelicher Kinder außerordentlich hoch ist. Ja; wie Grenzboten III 1890 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/369>, abgerufen am 24.06.2024.