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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

Sklaven oder bloße, wenn euch persönlich freie Unterthanen, gar keinen Einfluß
auf die Staatsverwaltung ausüben, keine Rechte haben und sich keine Vorteile
sichern können -- höchstens daß eine geordnete Rechtspflege sie der Notwendig¬
keit der Selbsthilfe überhebt, die noch dazu manchem von ihnen lieber wäre --,
daß also diese Armen dem Staate "lehr feindlich als freundlich gegenüber¬
stehen. Daher dürfen sich die Reichen immer und überall Ariswkrateu oder
Optimateu nennen, denn im Staate und für den Staat sind sie wirklich die
Besten, sind sie die, die den Staat, und zwar den Staat in seiner gegen¬
wärtigen Verfassung, unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht
erhalten wollen. Alle Armen dagegen sind von Natur Staatsfeinde, und
zwar genau in dem Grade umso staatsfeindlicher, je ärmer und rechtloser sie
sind. Mit jeder Scholle, die ein Tagelöhner zu eigen erwirbt, verschwindet
ein Staatsfeind, und mit jeder Gewährung politischer Rechte, die dein Prole¬
tariat die Aussicht eröffnet, sich auf gesetzmäßigem Wege Besserung seiner
Lage zu erkämpfen, wird die Staatsfeindschaft dieser Klasse vermindert. Daher
bilden die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung einer Verfassung und
das allgemeine Stimmrecht ebenso viele Sprossen einer Leiter, auf der die
untersten Klassen zum Verständnis des Staates und zum Interesse an ihm
emporklimmen und dabei ein Stück Staatsfeindschaft nach dem andern ab¬
legen. So staatsfeindlich sich auch die Verbissneren unter den Sozialdemokrnten
geberden, der deutsche Staat ist ihnen doch noch lieber als der belgische und
der italienische, wo ans je hundert Einwohner nur zwei stimmberechtigte Bürger
kommen, oder gar der verfassungslvse russische. Soeben ist unser Kaiser daran,
eine weitere Sprosse einzufügen, und unendlich viel hängt davou ab, ob es
gelingt, so viel, daß das Gelingen jede Bedrohung des Staates von innen
beseitigen und alle besondern Veranstaltungen zur Pflege des Patriotismus
überflüssig machen würde. Die soziale Frage lautet, von der einen Seite her
gesehen: Ist ein freier Arbeiterstand und ist ein Großstaat möglich, dessen
männliche Bewohner sämtlich Vollbürger sind? Die formale Bejahung der
Frage durch Gesetz und Verfassung bedeutet uoch nicht die wirkliche Lösung
der Schwierigkeit. Die letztere liegt hauptsächlich darin, daß alle Vorteile,
die dem einen Stande zugesichert werden, in die Benachteiligung der andern
Stände auszuschlagen Pflegen, und daß die Ansicht von einer allgemeinen
Harmonie der Interessen, die jeden Einzelnen die Bordelle aller andern mit¬
genießen läßt, von optimistischen Theoretikern zwar gepredigt, in der Wirklich¬
keit aber selten gefunden wird. Die Frage ist also, ob auf dem bisher be-
schrittenen Wege einer allmählichen Befreiung der ärmern Klassen fortgefahren
oder zu Wiederherstellung alter Abhüugigkeitsverhültnisse unter neuen Formen
zurückgegangen werden soll, die es ermöglichen würden, die natürliche Staats¬
feindschaft des Proletariats dadurch unschädlich zu machen, daß man es aller
Machtmittel beraubte. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

Sklaven oder bloße, wenn euch persönlich freie Unterthanen, gar keinen Einfluß
auf die Staatsverwaltung ausüben, keine Rechte haben und sich keine Vorteile
sichern können — höchstens daß eine geordnete Rechtspflege sie der Notwendig¬
keit der Selbsthilfe überhebt, die noch dazu manchem von ihnen lieber wäre —,
daß also diese Armen dem Staate »lehr feindlich als freundlich gegenüber¬
stehen. Daher dürfen sich die Reichen immer und überall Ariswkrateu oder
Optimateu nennen, denn im Staate und für den Staat sind sie wirklich die
Besten, sind sie die, die den Staat, und zwar den Staat in seiner gegen¬
wärtigen Verfassung, unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht
erhalten wollen. Alle Armen dagegen sind von Natur Staatsfeinde, und
zwar genau in dem Grade umso staatsfeindlicher, je ärmer und rechtloser sie
sind. Mit jeder Scholle, die ein Tagelöhner zu eigen erwirbt, verschwindet
ein Staatsfeind, und mit jeder Gewährung politischer Rechte, die dein Prole¬
tariat die Aussicht eröffnet, sich auf gesetzmäßigem Wege Besserung seiner
Lage zu erkämpfen, wird die Staatsfeindschaft dieser Klasse vermindert. Daher
bilden die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung einer Verfassung und
das allgemeine Stimmrecht ebenso viele Sprossen einer Leiter, auf der die
untersten Klassen zum Verständnis des Staates und zum Interesse an ihm
emporklimmen und dabei ein Stück Staatsfeindschaft nach dem andern ab¬
legen. So staatsfeindlich sich auch die Verbissneren unter den Sozialdemokrnten
geberden, der deutsche Staat ist ihnen doch noch lieber als der belgische und
der italienische, wo ans je hundert Einwohner nur zwei stimmberechtigte Bürger
kommen, oder gar der verfassungslvse russische. Soeben ist unser Kaiser daran,
eine weitere Sprosse einzufügen, und unendlich viel hängt davou ab, ob es
gelingt, so viel, daß das Gelingen jede Bedrohung des Staates von innen
beseitigen und alle besondern Veranstaltungen zur Pflege des Patriotismus
überflüssig machen würde. Die soziale Frage lautet, von der einen Seite her
gesehen: Ist ein freier Arbeiterstand und ist ein Großstaat möglich, dessen
männliche Bewohner sämtlich Vollbürger sind? Die formale Bejahung der
Frage durch Gesetz und Verfassung bedeutet uoch nicht die wirkliche Lösung
der Schwierigkeit. Die letztere liegt hauptsächlich darin, daß alle Vorteile,
die dem einen Stande zugesichert werden, in die Benachteiligung der andern
Stände auszuschlagen Pflegen, und daß die Ansicht von einer allgemeinen
Harmonie der Interessen, die jeden Einzelnen die Bordelle aller andern mit¬
genießen läßt, von optimistischen Theoretikern zwar gepredigt, in der Wirklich¬
keit aber selten gefunden wird. Die Frage ist also, ob auf dem bisher be-
schrittenen Wege einer allmählichen Befreiung der ärmern Klassen fortgefahren
oder zu Wiederherstellung alter Abhüugigkeitsverhültnisse unter neuen Formen
zurückgegangen werden soll, die es ermöglichen würden, die natürliche Staats¬
feindschaft des Proletariats dadurch unschädlich zu machen, daß man es aller
Machtmittel beraubte. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht


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[0363] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit Sklaven oder bloße, wenn euch persönlich freie Unterthanen, gar keinen Einfluß auf die Staatsverwaltung ausüben, keine Rechte haben und sich keine Vorteile sichern können — höchstens daß eine geordnete Rechtspflege sie der Notwendig¬ keit der Selbsthilfe überhebt, die noch dazu manchem von ihnen lieber wäre —, daß also diese Armen dem Staate »lehr feindlich als freundlich gegenüber¬ stehen. Daher dürfen sich die Reichen immer und überall Ariswkrateu oder Optimateu nennen, denn im Staate und für den Staat sind sie wirklich die Besten, sind sie die, die den Staat, und zwar den Staat in seiner gegen¬ wärtigen Verfassung, unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht erhalten wollen. Alle Armen dagegen sind von Natur Staatsfeinde, und zwar genau in dem Grade umso staatsfeindlicher, je ärmer und rechtloser sie sind. Mit jeder Scholle, die ein Tagelöhner zu eigen erwirbt, verschwindet ein Staatsfeind, und mit jeder Gewährung politischer Rechte, die dein Prole¬ tariat die Aussicht eröffnet, sich auf gesetzmäßigem Wege Besserung seiner Lage zu erkämpfen, wird die Staatsfeindschaft dieser Klasse vermindert. Daher bilden die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung einer Verfassung und das allgemeine Stimmrecht ebenso viele Sprossen einer Leiter, auf der die untersten Klassen zum Verständnis des Staates und zum Interesse an ihm emporklimmen und dabei ein Stück Staatsfeindschaft nach dem andern ab¬ legen. So staatsfeindlich sich auch die Verbissneren unter den Sozialdemokrnten geberden, der deutsche Staat ist ihnen doch noch lieber als der belgische und der italienische, wo ans je hundert Einwohner nur zwei stimmberechtigte Bürger kommen, oder gar der verfassungslvse russische. Soeben ist unser Kaiser daran, eine weitere Sprosse einzufügen, und unendlich viel hängt davou ab, ob es gelingt, so viel, daß das Gelingen jede Bedrohung des Staates von innen beseitigen und alle besondern Veranstaltungen zur Pflege des Patriotismus überflüssig machen würde. Die soziale Frage lautet, von der einen Seite her gesehen: Ist ein freier Arbeiterstand und ist ein Großstaat möglich, dessen männliche Bewohner sämtlich Vollbürger sind? Die formale Bejahung der Frage durch Gesetz und Verfassung bedeutet uoch nicht die wirkliche Lösung der Schwierigkeit. Die letztere liegt hauptsächlich darin, daß alle Vorteile, die dem einen Stande zugesichert werden, in die Benachteiligung der andern Stände auszuschlagen Pflegen, und daß die Ansicht von einer allgemeinen Harmonie der Interessen, die jeden Einzelnen die Bordelle aller andern mit¬ genießen läßt, von optimistischen Theoretikern zwar gepredigt, in der Wirklich¬ keit aber selten gefunden wird. Die Frage ist also, ob auf dem bisher be- schrittenen Wege einer allmählichen Befreiung der ärmern Klassen fortgefahren oder zu Wiederherstellung alter Abhüugigkeitsverhültnisse unter neuen Formen zurückgegangen werden soll, die es ermöglichen würden, die natürliche Staats¬ feindschaft des Proletariats dadurch unschädlich zu machen, daß man es aller Machtmittel beraubte. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/363>, abgerufen am 26.06.2024.