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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

und des allgemeinen Schnlzwangs ist uns aber die freie Wahl versperrt und
sind wir auf den ersten Ausweg augewiesen, den wir nnn, wir mögen wollen
oder nicht, das Beste hoffend vorläufig weiter wandeln müssen.

Stimmen wir demnach im ersten Punkte der Hauptsache nach mit dem
Verfasser überein, so muß sich der Schreiber dieser Zeilen zum zweiten, der für
Breche der Hauptpunkt ist, ablehnend verhalte!?. Breche will den Patriotismus,
oder wie er sich ausdrückt, das Deutschtum zum "Prinzip" der Ethik machen.
Mit dem Worte Prinzip wird in der Philosophie viel grober Unfug getrieben.
Im vorliegenden Falle kam es dreierlei bedeuten. 1. Einen allgemeinen Satz,
aus dem die Sittenlehre alle einzelnen Tugenden und Pflichten abzuleiten hat.
Solche in der Wissenschaft übliche Ableitung ist ein fürs Leben wertloses
logisches Spiel; wir halten uns daher dabei nicht weiter auf. 2. Die Wurzel,
aus der in Wirklichkeit alle Tugenden hervorgehen. Wir gedenken demnächst
in einem besondern Aussatze zu zeigen, daß die Sittlichkeit niemals aus einer
einzigen Wurzel entspringt, sofern man mit der Wurzel uicht etwa den einen
unteilbaren Geist meint, in dem freilich zuletzt jede seiner Lebensäußerungen
wurzelt. 3. Den Antrieb zur Tilgend und Pflichterfüllung. Als solchen
lasten wir nun allerdings die Vaterlandsliebe gelten und leugnen namentlich
nicht, daß sie sich bei denjenigen Personen, die im Mittelpunkte des Staats¬
lebens stehen, sehr mächtig erweist; aber als einzigen Antrieb, der die übrigen
Antriebe entbehrlich machte, können wir sie uicht anerkennen. Auch überschätzt
Breche den Wirkungsbereich dieses Antriebes, wenn er von ihm z. B. die
Hebung und Läuterung des Familienlebens erwartet. Angenommen, das
deutsche Familienleben wäre im ganzen gegen früher gesunken, so würde der
Rückschritt ganz gewiß uicht im Mittelstände zu suchen sein, sondern nnr
darüber und darunter, und die Zunahme der schlechten Ehen würde nicht vom
Mangel an Patriotismus herrühren, sondern von dein Wachstum des Reich¬
tums und der Armut auf Kosten des Mittelstandes. Denn jene beide lockern
unfehlbar das Eheband; der erste, indem er die Mittel zu unbegrenztem Genuß
gewährt und beiden Gatten die Führung gesonderter Haushaltungen ermöglicht,
die andre, weil das Familienleben aufhört, wo die Fabrikarbeit der Frauen
und das Zusammenhäufen der Familie mit Fremden in einer Stube anfängt.
Einen augenfälligen Beweis für die Geringfügigkeit des Einflusses, den der
Patriotismus auf die Privatmoral ausübt, sehen wir bei den Franzosen.
Obgleich sie seit 1870 bis zur Verrücktheit patriotisch sind, und obwohl ihnen
unaufhörlich vorgepredigt wird, daß die Bevölkerungsabnahme das Vaterland
in Gefahr bringe, haben sie sich von der Unsitte, dnrch die sie der Teilung
des Familienvermögens vorzubeugen pflegen, noch nicht heilen lasten. Ver¬
sagt den verständigen Erwägungen einer greisenhafter Weisheit gegenüber die
Macht des Naturtriebes und die Stimme des einfältigen Gewissens, dann
nützt auch der glühendste Patriotismus nichts mehr. Es wäre im höchsten


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

und des allgemeinen Schnlzwangs ist uns aber die freie Wahl versperrt und
sind wir auf den ersten Ausweg augewiesen, den wir nnn, wir mögen wollen
oder nicht, das Beste hoffend vorläufig weiter wandeln müssen.

Stimmen wir demnach im ersten Punkte der Hauptsache nach mit dem
Verfasser überein, so muß sich der Schreiber dieser Zeilen zum zweiten, der für
Breche der Hauptpunkt ist, ablehnend verhalte!?. Breche will den Patriotismus,
oder wie er sich ausdrückt, das Deutschtum zum „Prinzip" der Ethik machen.
Mit dem Worte Prinzip wird in der Philosophie viel grober Unfug getrieben.
Im vorliegenden Falle kam es dreierlei bedeuten. 1. Einen allgemeinen Satz,
aus dem die Sittenlehre alle einzelnen Tugenden und Pflichten abzuleiten hat.
Solche in der Wissenschaft übliche Ableitung ist ein fürs Leben wertloses
logisches Spiel; wir halten uns daher dabei nicht weiter auf. 2. Die Wurzel,
aus der in Wirklichkeit alle Tugenden hervorgehen. Wir gedenken demnächst
in einem besondern Aussatze zu zeigen, daß die Sittlichkeit niemals aus einer
einzigen Wurzel entspringt, sofern man mit der Wurzel uicht etwa den einen
unteilbaren Geist meint, in dem freilich zuletzt jede seiner Lebensäußerungen
wurzelt. 3. Den Antrieb zur Tilgend und Pflichterfüllung. Als solchen
lasten wir nun allerdings die Vaterlandsliebe gelten und leugnen namentlich
nicht, daß sie sich bei denjenigen Personen, die im Mittelpunkte des Staats¬
lebens stehen, sehr mächtig erweist; aber als einzigen Antrieb, der die übrigen
Antriebe entbehrlich machte, können wir sie uicht anerkennen. Auch überschätzt
Breche den Wirkungsbereich dieses Antriebes, wenn er von ihm z. B. die
Hebung und Läuterung des Familienlebens erwartet. Angenommen, das
deutsche Familienleben wäre im ganzen gegen früher gesunken, so würde der
Rückschritt ganz gewiß uicht im Mittelstände zu suchen sein, sondern nnr
darüber und darunter, und die Zunahme der schlechten Ehen würde nicht vom
Mangel an Patriotismus herrühren, sondern von dein Wachstum des Reich¬
tums und der Armut auf Kosten des Mittelstandes. Denn jene beide lockern
unfehlbar das Eheband; der erste, indem er die Mittel zu unbegrenztem Genuß
gewährt und beiden Gatten die Führung gesonderter Haushaltungen ermöglicht,
die andre, weil das Familienleben aufhört, wo die Fabrikarbeit der Frauen
und das Zusammenhäufen der Familie mit Fremden in einer Stube anfängt.
Einen augenfälligen Beweis für die Geringfügigkeit des Einflusses, den der
Patriotismus auf die Privatmoral ausübt, sehen wir bei den Franzosen.
Obgleich sie seit 1870 bis zur Verrücktheit patriotisch sind, und obwohl ihnen
unaufhörlich vorgepredigt wird, daß die Bevölkerungsabnahme das Vaterland
in Gefahr bringe, haben sie sich von der Unsitte, dnrch die sie der Teilung
des Familienvermögens vorzubeugen pflegen, noch nicht heilen lasten. Ver¬
sagt den verständigen Erwägungen einer greisenhafter Weisheit gegenüber die
Macht des Naturtriebes und die Stimme des einfältigen Gewissens, dann
nützt auch der glühendste Patriotismus nichts mehr. Es wäre im höchsten


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[0364] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit und des allgemeinen Schnlzwangs ist uns aber die freie Wahl versperrt und sind wir auf den ersten Ausweg augewiesen, den wir nnn, wir mögen wollen oder nicht, das Beste hoffend vorläufig weiter wandeln müssen. Stimmen wir demnach im ersten Punkte der Hauptsache nach mit dem Verfasser überein, so muß sich der Schreiber dieser Zeilen zum zweiten, der für Breche der Hauptpunkt ist, ablehnend verhalte!?. Breche will den Patriotismus, oder wie er sich ausdrückt, das Deutschtum zum „Prinzip" der Ethik machen. Mit dem Worte Prinzip wird in der Philosophie viel grober Unfug getrieben. Im vorliegenden Falle kam es dreierlei bedeuten. 1. Einen allgemeinen Satz, aus dem die Sittenlehre alle einzelnen Tugenden und Pflichten abzuleiten hat. Solche in der Wissenschaft übliche Ableitung ist ein fürs Leben wertloses logisches Spiel; wir halten uns daher dabei nicht weiter auf. 2. Die Wurzel, aus der in Wirklichkeit alle Tugenden hervorgehen. Wir gedenken demnächst in einem besondern Aussatze zu zeigen, daß die Sittlichkeit niemals aus einer einzigen Wurzel entspringt, sofern man mit der Wurzel uicht etwa den einen unteilbaren Geist meint, in dem freilich zuletzt jede seiner Lebensäußerungen wurzelt. 3. Den Antrieb zur Tilgend und Pflichterfüllung. Als solchen lasten wir nun allerdings die Vaterlandsliebe gelten und leugnen namentlich nicht, daß sie sich bei denjenigen Personen, die im Mittelpunkte des Staats¬ lebens stehen, sehr mächtig erweist; aber als einzigen Antrieb, der die übrigen Antriebe entbehrlich machte, können wir sie uicht anerkennen. Auch überschätzt Breche den Wirkungsbereich dieses Antriebes, wenn er von ihm z. B. die Hebung und Läuterung des Familienlebens erwartet. Angenommen, das deutsche Familienleben wäre im ganzen gegen früher gesunken, so würde der Rückschritt ganz gewiß uicht im Mittelstände zu suchen sein, sondern nnr darüber und darunter, und die Zunahme der schlechten Ehen würde nicht vom Mangel an Patriotismus herrühren, sondern von dein Wachstum des Reich¬ tums und der Armut auf Kosten des Mittelstandes. Denn jene beide lockern unfehlbar das Eheband; der erste, indem er die Mittel zu unbegrenztem Genuß gewährt und beiden Gatten die Führung gesonderter Haushaltungen ermöglicht, die andre, weil das Familienleben aufhört, wo die Fabrikarbeit der Frauen und das Zusammenhäufen der Familie mit Fremden in einer Stube anfängt. Einen augenfälligen Beweis für die Geringfügigkeit des Einflusses, den der Patriotismus auf die Privatmoral ausübt, sehen wir bei den Franzosen. Obgleich sie seit 1870 bis zur Verrücktheit patriotisch sind, und obwohl ihnen unaufhörlich vorgepredigt wird, daß die Bevölkerungsabnahme das Vaterland in Gefahr bringe, haben sie sich von der Unsitte, dnrch die sie der Teilung des Familienvermögens vorzubeugen pflegen, noch nicht heilen lasten. Ver¬ sagt den verständigen Erwägungen einer greisenhafter Weisheit gegenüber die Macht des Naturtriebes und die Stimme des einfältigen Gewissens, dann nützt auch der glühendste Patriotismus nichts mehr. Es wäre im höchsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/364>, abgerufen am 26.06.2024.