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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

in den hellen Wahnsinn der Gründer- und Tingeltangelwirtschaft ausbrach.
Dieser Wirkung der großen Siege, so natürlich sie war, mußte nun allerdings
und muß auch in Zukunft entgegengewirkt werden, nicht durch Bußpredigten,
die nur verlacht werden würden, sondern durch die Jugenderziehung und den
Erwachsenen gegenüber durch verstandesmäßige, kühle Erwägung, die das Un¬
vernünftige und Schädliche solchen Treibens klar zu machen sucht.

sind wir demnach, wie gesagt, mit dem Verfasser vollkommen einverstanden
in der Ansicht, daß unser Patriotismus sorglicher Pflege, in viele" einzelnen
Fällen der Reinigung, Vertiefung, Klärung und Stärkung bedürfe, daß sogar
der Patriotismus mancher Leute als Heuchelei entlarvt werden müsse, um der
Ausbreitung dieses Übels vorzubeugen, so müssen wir ihm doch zum Vorwurfe
machen, daß er einen der wichtigsten Punkte übersehen hat, nämlich die
Schwierigkeit, die der Verallgemeinerung des Patriotismus entgegensteht. Dieses
Übersehe" befremdet um so mehr, als er die Schwierigkeit bei den alten Staaten
erkannt und mit dein Worte "Sklaverei" anch ausgesprochen hat.

Wie wir schon bemerkten, die Forderung, daß der Patriot vom Staate
keinen Vorteil erwarten dürfe, wäre einfach lächerlich. Der Staat ist eben
dazu da, deu Einzelnen manche Vorteile zu sichern, die sie sich in der Ver¬
einzelung nicht zu verschaffen vermögen. Zwar giebt es bei uns in Preußen
noch eine höhere Auffassung des Staates, nach der er die verkörperte sittliche
Weltordnung und der Quell aller höhern Kultur ist, nud in dieser Eigenschaft,
als höchstes Gut, auch von denen geliebt werden muß, denen er keinen materiellen
Vorteil gewährt; allein diese erhabene Staatsidee ist der Masse unzugänglich
und wird selbst von den Gebildeten mehr mit beifälligem Kopfnicken nach¬
gesprochen als im Herzen empfunden. Außerdem wird sie von zwei großen
Parteien entschieden abgelehnt, deren eine die Kirche und deren andre die
gebildete Menschheit aller Staaten für die Trägerin der höchsten Kultnranf-
gaben erklärt. Wer bei seinen patriotischen Vestrebuugeu den Boden im Volke
nicht verlieren will, wird also zunächst das Hauptgewicht auf die greifbaren
und verständlichen Vorteile legen, die der Staat seinen Bürgern gewährt. Es
ist gewiß schändlich, wenn einer für die Vorteile, die ihm der Staat gewährt,
nicht einmal die Steuer zahlen will, die er zu zahlen schuldig ist; man darf
auch fordern, daß der Patriot in außerordentlichen Fällen außerordentliche
Opfer bringe und auf Vorteile verzichte; aber in gewöhnlicher Zeit angemessene
Vorteile vom Staate zu erwarten, das ist ganz und gar nicht schändlich, sondern
natürlich und notwendig.

Nun ist es klar, daß die Reichen im Staate, die gewöhnlich die Klinke
der Gesetzgebung in der Hand haben, sich selbst zuerst bedenke" werden, und
daß sie vor allen andern Staaten gerade diesen Staat schätzen, der ihnen
solche Vorteile sichert und der eigentlich mit ihnen, mit ihrer Gesamtheit zu-
sanunenfällt. Und ebenso klar ist es, daß die Armen, die als rechtlose


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

in den hellen Wahnsinn der Gründer- und Tingeltangelwirtschaft ausbrach.
Dieser Wirkung der großen Siege, so natürlich sie war, mußte nun allerdings
und muß auch in Zukunft entgegengewirkt werden, nicht durch Bußpredigten,
die nur verlacht werden würden, sondern durch die Jugenderziehung und den
Erwachsenen gegenüber durch verstandesmäßige, kühle Erwägung, die das Un¬
vernünftige und Schädliche solchen Treibens klar zu machen sucht.

sind wir demnach, wie gesagt, mit dem Verfasser vollkommen einverstanden
in der Ansicht, daß unser Patriotismus sorglicher Pflege, in viele» einzelnen
Fällen der Reinigung, Vertiefung, Klärung und Stärkung bedürfe, daß sogar
der Patriotismus mancher Leute als Heuchelei entlarvt werden müsse, um der
Ausbreitung dieses Übels vorzubeugen, so müssen wir ihm doch zum Vorwurfe
machen, daß er einen der wichtigsten Punkte übersehen hat, nämlich die
Schwierigkeit, die der Verallgemeinerung des Patriotismus entgegensteht. Dieses
Übersehe» befremdet um so mehr, als er die Schwierigkeit bei den alten Staaten
erkannt und mit dein Worte „Sklaverei" anch ausgesprochen hat.

Wie wir schon bemerkten, die Forderung, daß der Patriot vom Staate
keinen Vorteil erwarten dürfe, wäre einfach lächerlich. Der Staat ist eben
dazu da, deu Einzelnen manche Vorteile zu sichern, die sie sich in der Ver¬
einzelung nicht zu verschaffen vermögen. Zwar giebt es bei uns in Preußen
noch eine höhere Auffassung des Staates, nach der er die verkörperte sittliche
Weltordnung und der Quell aller höhern Kultur ist, nud in dieser Eigenschaft,
als höchstes Gut, auch von denen geliebt werden muß, denen er keinen materiellen
Vorteil gewährt; allein diese erhabene Staatsidee ist der Masse unzugänglich
und wird selbst von den Gebildeten mehr mit beifälligem Kopfnicken nach¬
gesprochen als im Herzen empfunden. Außerdem wird sie von zwei großen
Parteien entschieden abgelehnt, deren eine die Kirche und deren andre die
gebildete Menschheit aller Staaten für die Trägerin der höchsten Kultnranf-
gaben erklärt. Wer bei seinen patriotischen Vestrebuugeu den Boden im Volke
nicht verlieren will, wird also zunächst das Hauptgewicht auf die greifbaren
und verständlichen Vorteile legen, die der Staat seinen Bürgern gewährt. Es
ist gewiß schändlich, wenn einer für die Vorteile, die ihm der Staat gewährt,
nicht einmal die Steuer zahlen will, die er zu zahlen schuldig ist; man darf
auch fordern, daß der Patriot in außerordentlichen Fällen außerordentliche
Opfer bringe und auf Vorteile verzichte; aber in gewöhnlicher Zeit angemessene
Vorteile vom Staate zu erwarten, das ist ganz und gar nicht schändlich, sondern
natürlich und notwendig.

Nun ist es klar, daß die Reichen im Staate, die gewöhnlich die Klinke
der Gesetzgebung in der Hand haben, sich selbst zuerst bedenke» werden, und
daß sie vor allen andern Staaten gerade diesen Staat schätzen, der ihnen
solche Vorteile sichert und der eigentlich mit ihnen, mit ihrer Gesamtheit zu-
sanunenfällt. Und ebenso klar ist es, daß die Armen, die als rechtlose


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[0362] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit in den hellen Wahnsinn der Gründer- und Tingeltangelwirtschaft ausbrach. Dieser Wirkung der großen Siege, so natürlich sie war, mußte nun allerdings und muß auch in Zukunft entgegengewirkt werden, nicht durch Bußpredigten, die nur verlacht werden würden, sondern durch die Jugenderziehung und den Erwachsenen gegenüber durch verstandesmäßige, kühle Erwägung, die das Un¬ vernünftige und Schädliche solchen Treibens klar zu machen sucht. sind wir demnach, wie gesagt, mit dem Verfasser vollkommen einverstanden in der Ansicht, daß unser Patriotismus sorglicher Pflege, in viele» einzelnen Fällen der Reinigung, Vertiefung, Klärung und Stärkung bedürfe, daß sogar der Patriotismus mancher Leute als Heuchelei entlarvt werden müsse, um der Ausbreitung dieses Übels vorzubeugen, so müssen wir ihm doch zum Vorwurfe machen, daß er einen der wichtigsten Punkte übersehen hat, nämlich die Schwierigkeit, die der Verallgemeinerung des Patriotismus entgegensteht. Dieses Übersehe» befremdet um so mehr, als er die Schwierigkeit bei den alten Staaten erkannt und mit dein Worte „Sklaverei" anch ausgesprochen hat. Wie wir schon bemerkten, die Forderung, daß der Patriot vom Staate keinen Vorteil erwarten dürfe, wäre einfach lächerlich. Der Staat ist eben dazu da, deu Einzelnen manche Vorteile zu sichern, die sie sich in der Ver¬ einzelung nicht zu verschaffen vermögen. Zwar giebt es bei uns in Preußen noch eine höhere Auffassung des Staates, nach der er die verkörperte sittliche Weltordnung und der Quell aller höhern Kultur ist, nud in dieser Eigenschaft, als höchstes Gut, auch von denen geliebt werden muß, denen er keinen materiellen Vorteil gewährt; allein diese erhabene Staatsidee ist der Masse unzugänglich und wird selbst von den Gebildeten mehr mit beifälligem Kopfnicken nach¬ gesprochen als im Herzen empfunden. Außerdem wird sie von zwei großen Parteien entschieden abgelehnt, deren eine die Kirche und deren andre die gebildete Menschheit aller Staaten für die Trägerin der höchsten Kultnranf- gaben erklärt. Wer bei seinen patriotischen Vestrebuugeu den Boden im Volke nicht verlieren will, wird also zunächst das Hauptgewicht auf die greifbaren und verständlichen Vorteile legen, die der Staat seinen Bürgern gewährt. Es ist gewiß schändlich, wenn einer für die Vorteile, die ihm der Staat gewährt, nicht einmal die Steuer zahlen will, die er zu zahlen schuldig ist; man darf auch fordern, daß der Patriot in außerordentlichen Fällen außerordentliche Opfer bringe und auf Vorteile verzichte; aber in gewöhnlicher Zeit angemessene Vorteile vom Staate zu erwarten, das ist ganz und gar nicht schändlich, sondern natürlich und notwendig. Nun ist es klar, daß die Reichen im Staate, die gewöhnlich die Klinke der Gesetzgebung in der Hand haben, sich selbst zuerst bedenke» werden, und daß sie vor allen andern Staaten gerade diesen Staat schätzen, der ihnen solche Vorteile sichert und der eigentlich mit ihnen, mit ihrer Gesamtheit zu- sanunenfällt. Und ebenso klar ist es, daß die Armen, die als rechtlose

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/362>, abgerufen am 26.06.2024.