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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

zumuten, wollte man fordern, daß solche Stimmungen in gewöhnlichen Zeiten
mit ungeschwächter Kraft und begleitet von der ungetrübten Einsicht jener
Tage fortdauern sollen. Sobald es not thut, findet sich die richtige Stimmung
schon wieder ein. Überhaupt hält keine gesunde Natur eine gehobene Stimmung,
eine leidenschaftliche Spannung auf die Dauer aus. Offenbart sich doch die
zuverlässigste aller Arten von Liebe, die Mutterliebe, bei vielen Müttern einzig
und allein in der unauffälligen täglichen Pflichterfüllung und bricht nur beim
Tode des Kindes in leidenschaftlicher Form hervor.

Eben auf diese dauernde Wirkung, die treue, gleichmäßige, anspruchslose
Pflichterfüllung zielt nun allerdings Th. Breche gerade ab. Aber ehe man
in seine Klaget? einstimmt und die Notwendigkeit einer förmlichen Erneuerung
des Volksgeistes zugiebt, wäre doch vorher zu erwägen, ob es im großen
und ganzen an jener Pflichterfüllung und der Vereitwilligkeit zu ihr fehlt.
Opposition gegen die Regierung, und sollten nenn Zehntel des Volkes daran
teilnehmen, würde noch kein Beweis dafür sein. Sie würde zunächst nur
beweisen, daß eine Mehrheit des Volkes über das Gemeinwohl andrer Meinung
ist als die Regierung (worin ja möglicherweise Anmaßung und Selbstüber¬
schätzung liegt), aber nicht, daß sie gegen das Gemeinwohl gleichgiltig oder
gar vou vaterlandsverräterischer Gesinnung ist. Oder glaubt Breche im Ernste,
daß die Mäuner der Opposition, um bei deu zwei von ihm hervorgehobenen
Haftpflichten zu bleiben, sämtlich Stenerbetrüger seien und daß sie im
Kriegsfalle fahitenflüchtig werden würden? Das ist richtig, daß sich die Wir-
kungen des letzten großen Krieges weit weniger schön ausnehmen als die der
Befreiungskriege; aber es ist mich leicht einzusehen, woher das kommt. Die
Siege von 1813, 14 und 15 brachten Erlösung aus einer zehnjährigen Not,
die jeder nicht bloß in seinem Gemüte, sondern an seinem Geldbeutel und in
seinem Magen gespürt hatte; und was man nach errungenen Siege vor sich
sah, das war nicht ein üppiges Genußleben, souderu lange, mühselige Arbeit
zur Wiederherstellung des vernichteten Wohlstands. Vor 1870 hingegen hatte
kein Mensch irgendwelche vou außen verhängte Not gelitten; von Gefahr hatten
sich nur die Bewohner der Westgrenze, und diese nur eiuen Augenblick bedroht
gesehen. Das Elend der Schlachtfelder in Frankreich bekam nicht der zehnte
Teil der Einwohner zu Gesicht, und als unsre ruhmreichen Truppen heim¬
kehrten, da brachten sie die Milliarden mit. Daher Anno 1815 die andächtig
fromme, demütig bußfertige und doch so unendlich erhebende Stimmung und
1870 eine übermütig leichtfertige Hurra- und Champagnerstimmung, bei der
mau aus dem lachenden Jubel gar nicht herauskam, die sich schon währeud
des Krieges hie und da in wüsten Orgien auflohte (es ist der Fall vorgekommen,
daß die Honoratioren einer preußischen Stadt ,,zu Ehren" der kriegsgefangenen
französischen Offiziere und zu eignem Vergnügen, natürlich mit französischem
Gelde, eine nächtliche Orgie veranstalteten) und die nach dein Friedensschlusse


Grenzboten III 1L90 45
Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

zumuten, wollte man fordern, daß solche Stimmungen in gewöhnlichen Zeiten
mit ungeschwächter Kraft und begleitet von der ungetrübten Einsicht jener
Tage fortdauern sollen. Sobald es not thut, findet sich die richtige Stimmung
schon wieder ein. Überhaupt hält keine gesunde Natur eine gehobene Stimmung,
eine leidenschaftliche Spannung auf die Dauer aus. Offenbart sich doch die
zuverlässigste aller Arten von Liebe, die Mutterliebe, bei vielen Müttern einzig
und allein in der unauffälligen täglichen Pflichterfüllung und bricht nur beim
Tode des Kindes in leidenschaftlicher Form hervor.

Eben auf diese dauernde Wirkung, die treue, gleichmäßige, anspruchslose
Pflichterfüllung zielt nun allerdings Th. Breche gerade ab. Aber ehe man
in seine Klaget? einstimmt und die Notwendigkeit einer förmlichen Erneuerung
des Volksgeistes zugiebt, wäre doch vorher zu erwägen, ob es im großen
und ganzen an jener Pflichterfüllung und der Vereitwilligkeit zu ihr fehlt.
Opposition gegen die Regierung, und sollten nenn Zehntel des Volkes daran
teilnehmen, würde noch kein Beweis dafür sein. Sie würde zunächst nur
beweisen, daß eine Mehrheit des Volkes über das Gemeinwohl andrer Meinung
ist als die Regierung (worin ja möglicherweise Anmaßung und Selbstüber¬
schätzung liegt), aber nicht, daß sie gegen das Gemeinwohl gleichgiltig oder
gar vou vaterlandsverräterischer Gesinnung ist. Oder glaubt Breche im Ernste,
daß die Mäuner der Opposition, um bei deu zwei von ihm hervorgehobenen
Haftpflichten zu bleiben, sämtlich Stenerbetrüger seien und daß sie im
Kriegsfalle fahitenflüchtig werden würden? Das ist richtig, daß sich die Wir-
kungen des letzten großen Krieges weit weniger schön ausnehmen als die der
Befreiungskriege; aber es ist mich leicht einzusehen, woher das kommt. Die
Siege von 1813, 14 und 15 brachten Erlösung aus einer zehnjährigen Not,
die jeder nicht bloß in seinem Gemüte, sondern an seinem Geldbeutel und in
seinem Magen gespürt hatte; und was man nach errungenen Siege vor sich
sah, das war nicht ein üppiges Genußleben, souderu lange, mühselige Arbeit
zur Wiederherstellung des vernichteten Wohlstands. Vor 1870 hingegen hatte
kein Mensch irgendwelche vou außen verhängte Not gelitten; von Gefahr hatten
sich nur die Bewohner der Westgrenze, und diese nur eiuen Augenblick bedroht
gesehen. Das Elend der Schlachtfelder in Frankreich bekam nicht der zehnte
Teil der Einwohner zu Gesicht, und als unsre ruhmreichen Truppen heim¬
kehrten, da brachten sie die Milliarden mit. Daher Anno 1815 die andächtig
fromme, demütig bußfertige und doch so unendlich erhebende Stimmung und
1870 eine übermütig leichtfertige Hurra- und Champagnerstimmung, bei der
mau aus dem lachenden Jubel gar nicht herauskam, die sich schon währeud
des Krieges hie und da in wüsten Orgien auflohte (es ist der Fall vorgekommen,
daß die Honoratioren einer preußischen Stadt ,,zu Ehren" der kriegsgefangenen
französischen Offiziere und zu eignem Vergnügen, natürlich mit französischem
Gelde, eine nächtliche Orgie veranstalteten) und die nach dein Friedensschlusse


Grenzboten III 1L90 45
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[0361] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit zumuten, wollte man fordern, daß solche Stimmungen in gewöhnlichen Zeiten mit ungeschwächter Kraft und begleitet von der ungetrübten Einsicht jener Tage fortdauern sollen. Sobald es not thut, findet sich die richtige Stimmung schon wieder ein. Überhaupt hält keine gesunde Natur eine gehobene Stimmung, eine leidenschaftliche Spannung auf die Dauer aus. Offenbart sich doch die zuverlässigste aller Arten von Liebe, die Mutterliebe, bei vielen Müttern einzig und allein in der unauffälligen täglichen Pflichterfüllung und bricht nur beim Tode des Kindes in leidenschaftlicher Form hervor. Eben auf diese dauernde Wirkung, die treue, gleichmäßige, anspruchslose Pflichterfüllung zielt nun allerdings Th. Breche gerade ab. Aber ehe man in seine Klaget? einstimmt und die Notwendigkeit einer förmlichen Erneuerung des Volksgeistes zugiebt, wäre doch vorher zu erwägen, ob es im großen und ganzen an jener Pflichterfüllung und der Vereitwilligkeit zu ihr fehlt. Opposition gegen die Regierung, und sollten nenn Zehntel des Volkes daran teilnehmen, würde noch kein Beweis dafür sein. Sie würde zunächst nur beweisen, daß eine Mehrheit des Volkes über das Gemeinwohl andrer Meinung ist als die Regierung (worin ja möglicherweise Anmaßung und Selbstüber¬ schätzung liegt), aber nicht, daß sie gegen das Gemeinwohl gleichgiltig oder gar vou vaterlandsverräterischer Gesinnung ist. Oder glaubt Breche im Ernste, daß die Mäuner der Opposition, um bei deu zwei von ihm hervorgehobenen Haftpflichten zu bleiben, sämtlich Stenerbetrüger seien und daß sie im Kriegsfalle fahitenflüchtig werden würden? Das ist richtig, daß sich die Wir- kungen des letzten großen Krieges weit weniger schön ausnehmen als die der Befreiungskriege; aber es ist mich leicht einzusehen, woher das kommt. Die Siege von 1813, 14 und 15 brachten Erlösung aus einer zehnjährigen Not, die jeder nicht bloß in seinem Gemüte, sondern an seinem Geldbeutel und in seinem Magen gespürt hatte; und was man nach errungenen Siege vor sich sah, das war nicht ein üppiges Genußleben, souderu lange, mühselige Arbeit zur Wiederherstellung des vernichteten Wohlstands. Vor 1870 hingegen hatte kein Mensch irgendwelche vou außen verhängte Not gelitten; von Gefahr hatten sich nur die Bewohner der Westgrenze, und diese nur eiuen Augenblick bedroht gesehen. Das Elend der Schlachtfelder in Frankreich bekam nicht der zehnte Teil der Einwohner zu Gesicht, und als unsre ruhmreichen Truppen heim¬ kehrten, da brachten sie die Milliarden mit. Daher Anno 1815 die andächtig fromme, demütig bußfertige und doch so unendlich erhebende Stimmung und 1870 eine übermütig leichtfertige Hurra- und Champagnerstimmung, bei der mau aus dem lachenden Jubel gar nicht herauskam, die sich schon währeud des Krieges hie und da in wüsten Orgien auflohte (es ist der Fall vorgekommen, daß die Honoratioren einer preußischen Stadt ,,zu Ehren" der kriegsgefangenen französischen Offiziere und zu eignem Vergnügen, natürlich mit französischem Gelde, eine nächtliche Orgie veranstalteten) und die nach dein Friedensschlusse Grenzboten III 1L90 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/361>, abgerufen am 26.06.2024.