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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

schon beim Briefträger, namentlich beim Geldbriefträger, am leichtesten beim
Leutnant; leider kann nicht jeder Ort im Reiche sein Bataillon oder seine
Schwadron haben. Auch Gebäude versinnbildlichen den Staat; und die Reichs¬
post an jedem Orte, schon der Briefkasten ist als Stützpunkt und Anreger
patriotischer Empfindungen von nicht geringer Bedeutung. Allein der Kirch¬
turm, dazu die Kreuze und Heiligenbilder, fallen doch noch mehr in die Augen,
und wo die Gewohnheit besteht, täglich der Messe beizuwohnen, da gewinnt
der Verkehr des Einzelnen mit dein Gemeinwesen, dessen Bundeszeichen und
-feier sie bildet, einen solchen Grad von Lebendigkeit, daß der Staat der katho¬
lischen Kirche gegenüber im Nachteile bleibt. Bei patriotischen Festen würde
es sehr schwierig sein, zu ermitteln, wie viel von der da ausbrechenden Be¬
geisterung dem Vaterlande und wie viel davon dem guten Stoff und der
gemütlichen Kameradschaft auf Rechnung zu setzen sei. , Fast nur in Zeiten
höchster Gefahr oder Not, oder sooft der Staat eine ganz außerordentliche
Leistung zum Wohle des Gemeinwesens vollbracht hat, die sich jedem Einzelnen
fühlbar macht, fast nur in solchen Füllen ist den Angehörigen des Großstaats
eine allgemeine und lebhafte patriotische Bewegung des Herzens möglich. Die
Badener waren bekanntlich bis 1870 großdeutsch. Was hat sie bekehrt, so-
daß sie seitdem die begeistertsten unter den nationalen geblieben sind? "Sehen
Sie, sagte mir einst ein Bürger einer badischen Kleinstadt, das ist mein Hans!
So viele Jahre hatte ich gearbeitet und gespart, ehe ich es mir bauen, den
Traum meines Herzens verwirklichen konnte; eben war es fertig geworden, da
brach der Krieg aus! Herr Gott! dachte ich damals, wenn die Franzosen
herüberkommen, wenn sie unser Städtchen beschießen, dann ist meine ganze
Lebensarbeit verloren! Werden uns die Preußen helfen? Sie haben geholfen!
Unter ihrem Schutz sind wir für immer geborgen! Da haben Sie meine Politik!"
Und nach dem Jahre 1806, als von einem Ende des deutschen Vaterlandes
bis zum andern die Felder von den Hufen feindlicher Rosse zerstampft, die
Häuser niedergebrannt, die Viehherden weggetrieben, die Einwohner mit uner¬
schwinglichen Lasten beschwert waren, da wurde es jedem Aclerhäusler und
jedem Handwerksgesellen klar: wenn wir die Franzosen nicht aus dem Lande
jagen, bleiben wir und unsre Nachkommen Sklaven und sind keinen Augenblick
unsers Lebens, Leibes und Eigentums sicher; wie sollen wir aber der Franzosen
Herr werden, wenn niemand da ist, der unsre Kräfte zusammenfaßt? Und wer
könnte das, als nur ein gemeinsamer Staat? So lebte damals die Idee des
deutschen Nationalstaats in allen Herzen mit Notwendigkeit auf. Und die
Bauern, die in jener Zeit freie Herren ihrer Scholle wurden, sie wurden durch
diesen Befreiungsakt natürlicherweise gut preußisch samt Kindern und Kindes-
kindern; sie empfanden und erkannte" es, was es heißt, preußische Unterthanen
(damals noch nicht Staatsbürger!) zu sein und den König von Preußen zum
angestammten Fürsten zu haben. Es hieße der menschlichen Natur unmögliches


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

schon beim Briefträger, namentlich beim Geldbriefträger, am leichtesten beim
Leutnant; leider kann nicht jeder Ort im Reiche sein Bataillon oder seine
Schwadron haben. Auch Gebäude versinnbildlichen den Staat; und die Reichs¬
post an jedem Orte, schon der Briefkasten ist als Stützpunkt und Anreger
patriotischer Empfindungen von nicht geringer Bedeutung. Allein der Kirch¬
turm, dazu die Kreuze und Heiligenbilder, fallen doch noch mehr in die Augen,
und wo die Gewohnheit besteht, täglich der Messe beizuwohnen, da gewinnt
der Verkehr des Einzelnen mit dein Gemeinwesen, dessen Bundeszeichen und
-feier sie bildet, einen solchen Grad von Lebendigkeit, daß der Staat der katho¬
lischen Kirche gegenüber im Nachteile bleibt. Bei patriotischen Festen würde
es sehr schwierig sein, zu ermitteln, wie viel von der da ausbrechenden Be¬
geisterung dem Vaterlande und wie viel davon dem guten Stoff und der
gemütlichen Kameradschaft auf Rechnung zu setzen sei. , Fast nur in Zeiten
höchster Gefahr oder Not, oder sooft der Staat eine ganz außerordentliche
Leistung zum Wohle des Gemeinwesens vollbracht hat, die sich jedem Einzelnen
fühlbar macht, fast nur in solchen Füllen ist den Angehörigen des Großstaats
eine allgemeine und lebhafte patriotische Bewegung des Herzens möglich. Die
Badener waren bekanntlich bis 1870 großdeutsch. Was hat sie bekehrt, so-
daß sie seitdem die begeistertsten unter den nationalen geblieben sind? „Sehen
Sie, sagte mir einst ein Bürger einer badischen Kleinstadt, das ist mein Hans!
So viele Jahre hatte ich gearbeitet und gespart, ehe ich es mir bauen, den
Traum meines Herzens verwirklichen konnte; eben war es fertig geworden, da
brach der Krieg aus! Herr Gott! dachte ich damals, wenn die Franzosen
herüberkommen, wenn sie unser Städtchen beschießen, dann ist meine ganze
Lebensarbeit verloren! Werden uns die Preußen helfen? Sie haben geholfen!
Unter ihrem Schutz sind wir für immer geborgen! Da haben Sie meine Politik!"
Und nach dem Jahre 1806, als von einem Ende des deutschen Vaterlandes
bis zum andern die Felder von den Hufen feindlicher Rosse zerstampft, die
Häuser niedergebrannt, die Viehherden weggetrieben, die Einwohner mit uner¬
schwinglichen Lasten beschwert waren, da wurde es jedem Aclerhäusler und
jedem Handwerksgesellen klar: wenn wir die Franzosen nicht aus dem Lande
jagen, bleiben wir und unsre Nachkommen Sklaven und sind keinen Augenblick
unsers Lebens, Leibes und Eigentums sicher; wie sollen wir aber der Franzosen
Herr werden, wenn niemand da ist, der unsre Kräfte zusammenfaßt? Und wer
könnte das, als nur ein gemeinsamer Staat? So lebte damals die Idee des
deutschen Nationalstaats in allen Herzen mit Notwendigkeit auf. Und die
Bauern, die in jener Zeit freie Herren ihrer Scholle wurden, sie wurden durch
diesen Befreiungsakt natürlicherweise gut preußisch samt Kindern und Kindes-
kindern; sie empfanden und erkannte» es, was es heißt, preußische Unterthanen
(damals noch nicht Staatsbürger!) zu sein und den König von Preußen zum
angestammten Fürsten zu haben. Es hieße der menschlichen Natur unmögliches


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/360>, abgerufen am 26.06.2024.