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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

vermag, verursacht dieser maulkvrbnrtige Zwang einen Schmerz, der sich zur
Raserei steigern kann, wenn versucht wird, einem ganzen Volksstamm seine
Sprache gewaltsam zu nehmen.

Diese Art Vaterlandsliebe ist also unmittelbar und natürlich. Sie bedarf
zu ihrer Kräftigung keiner Überlegung, keiner Belehrung, sie wird vielmehr
durch beides leicht geschwächt. Sie denkt anch nicht daran, die Vorteile zu
berechnen, die ihr das Vaterland gewährt; der Vorteil ist eben das Leben im
Vaterlande, in der heimischen Landschaft, in den heimischen Sitten, im Gebrauch
der Muttersprache, worin sie sich wohlfühlt, wie der Fisch im Wasser, während
sie fern davon vor Betrübnis und ungestillter Sehnsucht vergeht. Ganz anders
verhält es sich mit der Anhänglichkeit an den Staat. Die ist gar keine natür¬
liche Empfindung, sondern nur durch Reflexion möglich. Sie setzt voraus:
Kenntnis der Staatseinrichtungen, Vertrautheit mit der Geschichte des Staates,
Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung und Einsicht in die Vorteile,
die das Bürgerrecht im Staate gewährt. Da alle diese Bedingungen in kleinen
Staaten viel leichter erfüllt werden können als in großen, fo entwickelt sich
der politische Patriotismus natürlich zuerst in kleinen Gemeinwesen, in städtischen
und Bauernrepubliken. Bietet sich der oben geschilderte natürliche Patrio¬
tismus, die Anhänglichkeit an eine landschaftlich abgeschlossene charakteristische
Heimat als Grundlage oder Wurzel dar, was bei den ältern Schweizer Kan¬
tonen und den Ditmarscheu wie auch bei den griechischen Staaten der Fall
war, so ist dort die Vaterlandsliebe am allergesündesten und unerschütter-
lichsten. Ein außerordentlich festes Band bilden auch gemeinsam ausgeführte
mühevolle und mit Opfern hergestellte Bauten, sei es zu Schutz und Trutz
gegen feindliche Nachbarn oder Elemente, sei es zum Schmuck der Baterstadt;
was dem Schweizer, dem Tiroler seine Berge, das waren dem Athener seine
Akropolis und seine Flotte, dem Niederländer seine Dämme und Kanäle und
Schiffe, das ist noch heute dem Florentiner z. B. seine Domkuppel und sein
San Giovanni.

Während der Bürger des Kleinstaats den Gegenstand seiner Liebe stets
ganz oder fast ganz greifbar vor Angen hat und durch die tägliche thätige
Teilnahme daran das Bewußtsein seiner lebendigen Gegenwart, seiner Wichtig¬
keit und seiner wohlthätigen Eigenschaften niemals verliert, läßt es sich beim
Grvßftnat kaum verhüten, daß er die Natur eines Abstrnktums nuuehme, das
so wenig Liebe, Anhänglichkeit und Begeisterung einzuflößen vermag wie
irgend ein andrer Begriffsschatten. In Monarchien kommt die Person des
Monarchen zu Hilfe, in dem der Staat verkörpert erscheint; der Monarch ist
ein Mensch, und einen Menschen kann man lieben. Freilich vergegenwärtigen
mich die Beamten den Staat. Allein, wir dürfens uns nicht verhehlen, es ist
sehr schwierig, es ist vielleicht pshcholvgisch unmöglich, den Staatsanwalt (als
solchen), den Gerichtsvollzieher und den Polizisten zu lieben. Leichter fällt es


Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit

vermag, verursacht dieser maulkvrbnrtige Zwang einen Schmerz, der sich zur
Raserei steigern kann, wenn versucht wird, einem ganzen Volksstamm seine
Sprache gewaltsam zu nehmen.

Diese Art Vaterlandsliebe ist also unmittelbar und natürlich. Sie bedarf
zu ihrer Kräftigung keiner Überlegung, keiner Belehrung, sie wird vielmehr
durch beides leicht geschwächt. Sie denkt anch nicht daran, die Vorteile zu
berechnen, die ihr das Vaterland gewährt; der Vorteil ist eben das Leben im
Vaterlande, in der heimischen Landschaft, in den heimischen Sitten, im Gebrauch
der Muttersprache, worin sie sich wohlfühlt, wie der Fisch im Wasser, während
sie fern davon vor Betrübnis und ungestillter Sehnsucht vergeht. Ganz anders
verhält es sich mit der Anhänglichkeit an den Staat. Die ist gar keine natür¬
liche Empfindung, sondern nur durch Reflexion möglich. Sie setzt voraus:
Kenntnis der Staatseinrichtungen, Vertrautheit mit der Geschichte des Staates,
Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung und Einsicht in die Vorteile,
die das Bürgerrecht im Staate gewährt. Da alle diese Bedingungen in kleinen
Staaten viel leichter erfüllt werden können als in großen, fo entwickelt sich
der politische Patriotismus natürlich zuerst in kleinen Gemeinwesen, in städtischen
und Bauernrepubliken. Bietet sich der oben geschilderte natürliche Patrio¬
tismus, die Anhänglichkeit an eine landschaftlich abgeschlossene charakteristische
Heimat als Grundlage oder Wurzel dar, was bei den ältern Schweizer Kan¬
tonen und den Ditmarscheu wie auch bei den griechischen Staaten der Fall
war, so ist dort die Vaterlandsliebe am allergesündesten und unerschütter-
lichsten. Ein außerordentlich festes Band bilden auch gemeinsam ausgeführte
mühevolle und mit Opfern hergestellte Bauten, sei es zu Schutz und Trutz
gegen feindliche Nachbarn oder Elemente, sei es zum Schmuck der Baterstadt;
was dem Schweizer, dem Tiroler seine Berge, das waren dem Athener seine
Akropolis und seine Flotte, dem Niederländer seine Dämme und Kanäle und
Schiffe, das ist noch heute dem Florentiner z. B. seine Domkuppel und sein
San Giovanni.

Während der Bürger des Kleinstaats den Gegenstand seiner Liebe stets
ganz oder fast ganz greifbar vor Angen hat und durch die tägliche thätige
Teilnahme daran das Bewußtsein seiner lebendigen Gegenwart, seiner Wichtig¬
keit und seiner wohlthätigen Eigenschaften niemals verliert, läßt es sich beim
Grvßftnat kaum verhüten, daß er die Natur eines Abstrnktums nuuehme, das
so wenig Liebe, Anhänglichkeit und Begeisterung einzuflößen vermag wie
irgend ein andrer Begriffsschatten. In Monarchien kommt die Person des
Monarchen zu Hilfe, in dem der Staat verkörpert erscheint; der Monarch ist
ein Mensch, und einen Menschen kann man lieben. Freilich vergegenwärtigen
mich die Beamten den Staat. Allein, wir dürfens uns nicht verhehlen, es ist
sehr schwierig, es ist vielleicht pshcholvgisch unmöglich, den Staatsanwalt (als
solchen), den Gerichtsvollzieher und den Polizisten zu lieben. Leichter fällt es


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[0359] Der Patriotismus als Wurzel der Sittlichkeit vermag, verursacht dieser maulkvrbnrtige Zwang einen Schmerz, der sich zur Raserei steigern kann, wenn versucht wird, einem ganzen Volksstamm seine Sprache gewaltsam zu nehmen. Diese Art Vaterlandsliebe ist also unmittelbar und natürlich. Sie bedarf zu ihrer Kräftigung keiner Überlegung, keiner Belehrung, sie wird vielmehr durch beides leicht geschwächt. Sie denkt anch nicht daran, die Vorteile zu berechnen, die ihr das Vaterland gewährt; der Vorteil ist eben das Leben im Vaterlande, in der heimischen Landschaft, in den heimischen Sitten, im Gebrauch der Muttersprache, worin sie sich wohlfühlt, wie der Fisch im Wasser, während sie fern davon vor Betrübnis und ungestillter Sehnsucht vergeht. Ganz anders verhält es sich mit der Anhänglichkeit an den Staat. Die ist gar keine natür¬ liche Empfindung, sondern nur durch Reflexion möglich. Sie setzt voraus: Kenntnis der Staatseinrichtungen, Vertrautheit mit der Geschichte des Staates, Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung und Einsicht in die Vorteile, die das Bürgerrecht im Staate gewährt. Da alle diese Bedingungen in kleinen Staaten viel leichter erfüllt werden können als in großen, fo entwickelt sich der politische Patriotismus natürlich zuerst in kleinen Gemeinwesen, in städtischen und Bauernrepubliken. Bietet sich der oben geschilderte natürliche Patrio¬ tismus, die Anhänglichkeit an eine landschaftlich abgeschlossene charakteristische Heimat als Grundlage oder Wurzel dar, was bei den ältern Schweizer Kan¬ tonen und den Ditmarscheu wie auch bei den griechischen Staaten der Fall war, so ist dort die Vaterlandsliebe am allergesündesten und unerschütter- lichsten. Ein außerordentlich festes Band bilden auch gemeinsam ausgeführte mühevolle und mit Opfern hergestellte Bauten, sei es zu Schutz und Trutz gegen feindliche Nachbarn oder Elemente, sei es zum Schmuck der Baterstadt; was dem Schweizer, dem Tiroler seine Berge, das waren dem Athener seine Akropolis und seine Flotte, dem Niederländer seine Dämme und Kanäle und Schiffe, das ist noch heute dem Florentiner z. B. seine Domkuppel und sein San Giovanni. Während der Bürger des Kleinstaats den Gegenstand seiner Liebe stets ganz oder fast ganz greifbar vor Angen hat und durch die tägliche thätige Teilnahme daran das Bewußtsein seiner lebendigen Gegenwart, seiner Wichtig¬ keit und seiner wohlthätigen Eigenschaften niemals verliert, läßt es sich beim Grvßftnat kaum verhüten, daß er die Natur eines Abstrnktums nuuehme, das so wenig Liebe, Anhänglichkeit und Begeisterung einzuflößen vermag wie irgend ein andrer Begriffsschatten. In Monarchien kommt die Person des Monarchen zu Hilfe, in dem der Staat verkörpert erscheint; der Monarch ist ein Mensch, und einen Menschen kann man lieben. Freilich vergegenwärtigen mich die Beamten den Staat. Allein, wir dürfens uns nicht verhehlen, es ist sehr schwierig, es ist vielleicht pshcholvgisch unmöglich, den Staatsanwalt (als solchen), den Gerichtsvollzieher und den Polizisten zu lieben. Leichter fällt es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/359>, abgerufen am 26.06.2024.