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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Patnotismus als Wurzel der Sittlichkeit

Vielleicht auch die deutschen Bruderstämme und hört deren Mundart lieber als
das Welsche; er liebt ganz gewiß deu Kaiser Weißbart, der jeden Sommer
einige Wochen in der Nähe seiner heimatlichen Berge weilte, um seiner Helden¬
thaten und seiner Freundlichkeit und seines ehrwürdigen Charakters willen, aber
das alles ist noch keine Liebe zum deutschen Vaterlandes Die ist auch gar
nicht so ohne weiteres möglich, weil Deutschland ein viel zu großes Land ist,
als daß man es leicht überschauen und lieben konnte. I^moti mutig. enpicko;
was man nicht kennt, das begehrt und das liebt man auch nicht. Vor der
Zeit der Eisenbahnen gab es im Bauernstande die Handwerker kamen ja
weiter herum -- sehr wenig Leute, die über ihre engere Heimat hinaus¬
gekommen wären. Nun giebt es in Dentschland Gegenden von ganz Ver¬
schiednem Charakter: Hochgebirge, Mittelgebirge, Flachland, Weinland, Ge¬
treideland, Kartvffelland, Nadelholz- und Laubhvlzregionen, Flußland, Seeuland,
Meeresküste, wasserlose Gegenden. Der Bewohner der einen kann sich, wenn
er nicht zu den Gereisten gehört, von dem Aussehen der übrigen und ihrem
Leben gar keine Vorstellung machen; wie soll er diese Gegenden, wie soll er
ihre Gesamtheit lieben? Wir Gebildeten freilich lieben unser Vaterland gerade
deshalb, weil es eine solche Mannichfaltigkeit, einen solchen Reichtum von
Schönheit und Naturschätzen umschließt. Aber zu dieser Liebe sind Nur durch
Reflexion, zum Teil durch den Schulunterricht gelangt, und Empfindungen,
die ans der Reflexion entspringen, können sich mit den unmittelbaren an Stärke,
Innigkeit und Dauerhaftigkeit niemals messen.

Und wer weiß! Wenn die Gemsen in deu Tiroler Bergen weggeschossen,
alle Schluchten überbrückt, alle Wildbäche fein säuberlich eingedämmt, alle
Gipfel mit der Eisenbahn zu befahren sein werden, wenn alle Berge von
schirmen Hotelwirten ausgebeutet sein werden, und die Käsemacherei auf der
Abu im Auftrage einer Molkerei-Aktiengesellschaft von akademisch gebildeten
Direktoren rationell betrieben werden wird, wenn es keine Tiroler Schlitzen
mehr geben wird, sondern nur noch ein paar österreichische Regimenter, in
denen Tiroler stecken, wenn die Mundart des Berliner Salvntirolers und die
des echten Tirolers in einen Brei zusammengeflossen fein werden, wer weiß,
ob es dann auch nur noch Tiroler Patriotismus geben wird! Ja man darf
fragen, ob dein internationalen Frack, dein internationalen Zylinder, dem inter¬
nationalen Hotelkellner, dem internationalen Schlafwagen, dem internationalen
Zeitungsgeschwätz und dem internationalen Aktienschwindel irgend ein Volks-
tum auf die Dauer Stand zu halten vermögen wird? Am festesten wurzelt
noch die Anhänglichkeit an die Sprache, weil es mit Ausnahme der wenigen,
die von Jugend auf an mehrsprachiges Wesen gewöhnt worden find, alleil
Menschen äußerst schwer fällt, sich einer fremden Sprache bedienen zu müssen.
Es ist unbequemer, als das Gehen auf allen Vieren, und sobald das Gemüt
ins Spiel kommt, das sich in einer fremden Sprache gar nicht zu äußern


Der Patnotismus als Wurzel der Sittlichkeit

Vielleicht auch die deutschen Bruderstämme und hört deren Mundart lieber als
das Welsche; er liebt ganz gewiß deu Kaiser Weißbart, der jeden Sommer
einige Wochen in der Nähe seiner heimatlichen Berge weilte, um seiner Helden¬
thaten und seiner Freundlichkeit und seines ehrwürdigen Charakters willen, aber
das alles ist noch keine Liebe zum deutschen Vaterlandes Die ist auch gar
nicht so ohne weiteres möglich, weil Deutschland ein viel zu großes Land ist,
als daß man es leicht überschauen und lieben konnte. I^moti mutig. enpicko;
was man nicht kennt, das begehrt und das liebt man auch nicht. Vor der
Zeit der Eisenbahnen gab es im Bauernstande die Handwerker kamen ja
weiter herum — sehr wenig Leute, die über ihre engere Heimat hinaus¬
gekommen wären. Nun giebt es in Dentschland Gegenden von ganz Ver¬
schiednem Charakter: Hochgebirge, Mittelgebirge, Flachland, Weinland, Ge¬
treideland, Kartvffelland, Nadelholz- und Laubhvlzregionen, Flußland, Seeuland,
Meeresküste, wasserlose Gegenden. Der Bewohner der einen kann sich, wenn
er nicht zu den Gereisten gehört, von dem Aussehen der übrigen und ihrem
Leben gar keine Vorstellung machen; wie soll er diese Gegenden, wie soll er
ihre Gesamtheit lieben? Wir Gebildeten freilich lieben unser Vaterland gerade
deshalb, weil es eine solche Mannichfaltigkeit, einen solchen Reichtum von
Schönheit und Naturschätzen umschließt. Aber zu dieser Liebe sind Nur durch
Reflexion, zum Teil durch den Schulunterricht gelangt, und Empfindungen,
die ans der Reflexion entspringen, können sich mit den unmittelbaren an Stärke,
Innigkeit und Dauerhaftigkeit niemals messen.

Und wer weiß! Wenn die Gemsen in deu Tiroler Bergen weggeschossen,
alle Schluchten überbrückt, alle Wildbäche fein säuberlich eingedämmt, alle
Gipfel mit der Eisenbahn zu befahren sein werden, wenn alle Berge von
schirmen Hotelwirten ausgebeutet sein werden, und die Käsemacherei auf der
Abu im Auftrage einer Molkerei-Aktiengesellschaft von akademisch gebildeten
Direktoren rationell betrieben werden wird, wenn es keine Tiroler Schlitzen
mehr geben wird, sondern nur noch ein paar österreichische Regimenter, in
denen Tiroler stecken, wenn die Mundart des Berliner Salvntirolers und die
des echten Tirolers in einen Brei zusammengeflossen fein werden, wer weiß,
ob es dann auch nur noch Tiroler Patriotismus geben wird! Ja man darf
fragen, ob dein internationalen Frack, dein internationalen Zylinder, dem inter¬
nationalen Hotelkellner, dem internationalen Schlafwagen, dem internationalen
Zeitungsgeschwätz und dem internationalen Aktienschwindel irgend ein Volks-
tum auf die Dauer Stand zu halten vermögen wird? Am festesten wurzelt
noch die Anhänglichkeit an die Sprache, weil es mit Ausnahme der wenigen,
die von Jugend auf an mehrsprachiges Wesen gewöhnt worden find, alleil
Menschen äußerst schwer fällt, sich einer fremden Sprache bedienen zu müssen.
Es ist unbequemer, als das Gehen auf allen Vieren, und sobald das Gemüt
ins Spiel kommt, das sich in einer fremden Sprache gar nicht zu äußern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/358>, abgerufen am 26.06.2024.