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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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von Selbständigkeit, dnß es die Sachlage gänzlich verkennen hieße, wenn man
sie, wo sie auf eigne Faust Politik trieben, wie abtrünnige Statthalter beur¬
teilen wollte. Trotzdem würde es den Kaisern gelungen sein, die Reichs-
verfassung aufrecht zu erhalten, wenn sie wenigstens daheim geblieben wären.
Aber als die Hohenstaufen deu Schwerpunkt des Reiches nach Italien und noch
dazu in dessen Südspitze verlegten, da hörte die physische Möglichkeit aus;
selbst bei unsern heutigen höchst vollkommnen Verkehrsverhültuissen wäre es
unmöglich, Deutschland von Sizilien aus zu regieren. Das Schicksal der letzten
drei Hohenstaufen mag im Lichte der Poesie noch so tragisch schön erglänzen,
ihre Sache mag vom legitimistischen Standpunkte aus noch so unanfechtbar
gerecht sein -- eine deutsche Sache ist sie nicht; nur der allerdings gerecht¬
fertigte Haß gegen den gemeinsamen Gegner, den Papst, hat dazu verleitet, sie
dafür zu halten. Wahr ist an der bei uns hergebrachten Auffassung jener
Verhältnisse nur so viel, daß die Päpste in der kritischen Periode unter den
letzten Hohenstaufen und nach deren Untergänge die Abneigung der deutscheu
Fürsten, ihre eignen Rechte freiwillig zu beschränken und so eine lebensfähige
Zentralgewalt herzustellen, nach Möglichkeit verstärkt und die Verwirrung im
Reiche klug ausgenützt haben. Wo, wie in England und in dem damaligen
Frankreich, das nicht die Hälfte des heutigen umfaßte, die Gunst der geo¬
graphischen Lage und ein geschlossenes, nicht zu umfangreiches Gebiet die Ent¬
stehung des Volksstaates begünstigten, da trat dieser hervor, sobald die Be¬
dingungen: ein leidlich gebildeter Beamtenstand, eine erträgliche Wehrverfassnng
und Finanzwirtschaft, vorhanden waren. Den erfolgreichen Widerstand der
Engländer gegen den Papst unter Ednard I. führt Breche selbst an (nur der
elende Johann ohne Land hatte sich zu des Papstes Knechte gemacht; das
Volk zu knechten, war den Verbündeten beiden Despoten, dein geistlichen und
dein weltlichen, nicht gelungen); er Hütte mich das einmütige Zusammenstehen
von König und Volk in Frankreich gegen die Anmaßungen des Papstes
Bonifaz VIII. nicht unerwähnt lassen sollen.

Neben diesen großen Staatenbildungen aber wucherte überall im Kleinen
ein reiches politisches Leben. Man soll doch nicht vergessen, daß in der zweiten
Hälfte des Mittelalters der bairische, der sächsische und der brandenburgische
Staat fertig wurden; gewiß sehr achtungswerte politische Schöpfungen! Und
daß ein allmähliches Erwachsen des Grvßstantes aus kleinern politisch reifen
Bestandteilen weit gesünder ist und die Bürgschaft längerer Dauer gewährt,
als wenn nach orientalischer Art ein Völkergemisch schnell zusammenerobert
und erst nachträglich der Versuch gemacht wird, das Ganze politisch zu organi-
siren. Der Versuch ist bisher stets mißlungen; es ist überall bei einem äußer¬
lichen Zusammenfesseln der Glieder geblieben, die auseinanderfielen, sobald der
Despot fiel, der die Enden der Ketten in seiner Hand hielt. Ein solches rein
äußerliches und für die Völker wie für die Kultur im ganzen wertloses


von Selbständigkeit, dnß es die Sachlage gänzlich verkennen hieße, wenn man
sie, wo sie auf eigne Faust Politik trieben, wie abtrünnige Statthalter beur¬
teilen wollte. Trotzdem würde es den Kaisern gelungen sein, die Reichs-
verfassung aufrecht zu erhalten, wenn sie wenigstens daheim geblieben wären.
Aber als die Hohenstaufen deu Schwerpunkt des Reiches nach Italien und noch
dazu in dessen Südspitze verlegten, da hörte die physische Möglichkeit aus;
selbst bei unsern heutigen höchst vollkommnen Verkehrsverhültuissen wäre es
unmöglich, Deutschland von Sizilien aus zu regieren. Das Schicksal der letzten
drei Hohenstaufen mag im Lichte der Poesie noch so tragisch schön erglänzen,
ihre Sache mag vom legitimistischen Standpunkte aus noch so unanfechtbar
gerecht sein — eine deutsche Sache ist sie nicht; nur der allerdings gerecht¬
fertigte Haß gegen den gemeinsamen Gegner, den Papst, hat dazu verleitet, sie
dafür zu halten. Wahr ist an der bei uns hergebrachten Auffassung jener
Verhältnisse nur so viel, daß die Päpste in der kritischen Periode unter den
letzten Hohenstaufen und nach deren Untergänge die Abneigung der deutscheu
Fürsten, ihre eignen Rechte freiwillig zu beschränken und so eine lebensfähige
Zentralgewalt herzustellen, nach Möglichkeit verstärkt und die Verwirrung im
Reiche klug ausgenützt haben. Wo, wie in England und in dem damaligen
Frankreich, das nicht die Hälfte des heutigen umfaßte, die Gunst der geo¬
graphischen Lage und ein geschlossenes, nicht zu umfangreiches Gebiet die Ent¬
stehung des Volksstaates begünstigten, da trat dieser hervor, sobald die Be¬
dingungen: ein leidlich gebildeter Beamtenstand, eine erträgliche Wehrverfassnng
und Finanzwirtschaft, vorhanden waren. Den erfolgreichen Widerstand der
Engländer gegen den Papst unter Ednard I. führt Breche selbst an (nur der
elende Johann ohne Land hatte sich zu des Papstes Knechte gemacht; das
Volk zu knechten, war den Verbündeten beiden Despoten, dein geistlichen und
dein weltlichen, nicht gelungen); er Hütte mich das einmütige Zusammenstehen
von König und Volk in Frankreich gegen die Anmaßungen des Papstes
Bonifaz VIII. nicht unerwähnt lassen sollen.

Neben diesen großen Staatenbildungen aber wucherte überall im Kleinen
ein reiches politisches Leben. Man soll doch nicht vergessen, daß in der zweiten
Hälfte des Mittelalters der bairische, der sächsische und der brandenburgische
Staat fertig wurden; gewiß sehr achtungswerte politische Schöpfungen! Und
daß ein allmähliches Erwachsen des Grvßstantes aus kleinern politisch reifen
Bestandteilen weit gesünder ist und die Bürgschaft längerer Dauer gewährt,
als wenn nach orientalischer Art ein Völkergemisch schnell zusammenerobert
und erst nachträglich der Versuch gemacht wird, das Ganze politisch zu organi-
siren. Der Versuch ist bisher stets mißlungen; es ist überall bei einem äußer¬
lichen Zusammenfesseln der Glieder geblieben, die auseinanderfielen, sobald der
Despot fiel, der die Enden der Ketten in seiner Hand hielt. Ein solches rein
äußerliches und für die Völker wie für die Kultur im ganzen wertloses


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[0352] von Selbständigkeit, dnß es die Sachlage gänzlich verkennen hieße, wenn man sie, wo sie auf eigne Faust Politik trieben, wie abtrünnige Statthalter beur¬ teilen wollte. Trotzdem würde es den Kaisern gelungen sein, die Reichs- verfassung aufrecht zu erhalten, wenn sie wenigstens daheim geblieben wären. Aber als die Hohenstaufen deu Schwerpunkt des Reiches nach Italien und noch dazu in dessen Südspitze verlegten, da hörte die physische Möglichkeit aus; selbst bei unsern heutigen höchst vollkommnen Verkehrsverhültuissen wäre es unmöglich, Deutschland von Sizilien aus zu regieren. Das Schicksal der letzten drei Hohenstaufen mag im Lichte der Poesie noch so tragisch schön erglänzen, ihre Sache mag vom legitimistischen Standpunkte aus noch so unanfechtbar gerecht sein — eine deutsche Sache ist sie nicht; nur der allerdings gerecht¬ fertigte Haß gegen den gemeinsamen Gegner, den Papst, hat dazu verleitet, sie dafür zu halten. Wahr ist an der bei uns hergebrachten Auffassung jener Verhältnisse nur so viel, daß die Päpste in der kritischen Periode unter den letzten Hohenstaufen und nach deren Untergänge die Abneigung der deutscheu Fürsten, ihre eignen Rechte freiwillig zu beschränken und so eine lebensfähige Zentralgewalt herzustellen, nach Möglichkeit verstärkt und die Verwirrung im Reiche klug ausgenützt haben. Wo, wie in England und in dem damaligen Frankreich, das nicht die Hälfte des heutigen umfaßte, die Gunst der geo¬ graphischen Lage und ein geschlossenes, nicht zu umfangreiches Gebiet die Ent¬ stehung des Volksstaates begünstigten, da trat dieser hervor, sobald die Be¬ dingungen: ein leidlich gebildeter Beamtenstand, eine erträgliche Wehrverfassnng und Finanzwirtschaft, vorhanden waren. Den erfolgreichen Widerstand der Engländer gegen den Papst unter Ednard I. führt Breche selbst an (nur der elende Johann ohne Land hatte sich zu des Papstes Knechte gemacht; das Volk zu knechten, war den Verbündeten beiden Despoten, dein geistlichen und dein weltlichen, nicht gelungen); er Hütte mich das einmütige Zusammenstehen von König und Volk in Frankreich gegen die Anmaßungen des Papstes Bonifaz VIII. nicht unerwähnt lassen sollen. Neben diesen großen Staatenbildungen aber wucherte überall im Kleinen ein reiches politisches Leben. Man soll doch nicht vergessen, daß in der zweiten Hälfte des Mittelalters der bairische, der sächsische und der brandenburgische Staat fertig wurden; gewiß sehr achtungswerte politische Schöpfungen! Und daß ein allmähliches Erwachsen des Grvßstantes aus kleinern politisch reifen Bestandteilen weit gesünder ist und die Bürgschaft längerer Dauer gewährt, als wenn nach orientalischer Art ein Völkergemisch schnell zusammenerobert und erst nachträglich der Versuch gemacht wird, das Ganze politisch zu organi- siren. Der Versuch ist bisher stets mißlungen; es ist überall bei einem äußer¬ lichen Zusammenfesseln der Glieder geblieben, die auseinanderfielen, sobald der Despot fiel, der die Enden der Ketten in seiner Hand hielt. Ein solches rein äußerliches und für die Völker wie für die Kultur im ganzen wertloses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/352>, abgerufen am 26.06.2024.