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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor sehr

Als Ergänzung zu den "Kulturpflanzen und Haustieren" sind die "Skizzen
und Streiflichter" über Italien zu lese". Mau möchte sagen, sie seien als
Monologe niedergeschrieben. Wenigstens hat der Verfasser sich erstaunlich
geringe Mühe gegeben, ihnen Leser zu schaffen. Er überließ sie der in Riga
erscheinenden, über einen eng begrenzten Leserkreis nicht hiuauskommeudeu
Baltischen Monatsschrift. Dann wurden sie von einem Se. Petersburger Ver¬
leger in Buchform herausgegeben (1866), blieben aber in Deutschland wiederum
fast unbemerkt. Aus ihrem Dunkel hervorgezogen wurden sie erst durch die
zweite Auflage (1879), zu der ein Hehn als Freund und Landsmann nahe¬
stehender Berliner Buchhändler die Initiative ergriff, ein Verdienst, für das
ihm leider immer noch nicht gar viele, diese aber wärmstens dankbar sind.
Denn seitdem hat sich das Urteil unbestritten festgestellt, daß wir in Hehns
Buch das Geistvollste und Schönste, was seit Goethe deutscherseits über Italien
gesagt worden ist, besitzen, wobei sich aufs neue die Beobachtung aufdrängt,
daß das tiefste sympathetische Verhältnis zum Süden und zum Klassischen am
häufigsten -- gewiß nicht zufällig -- von Männern des Nordens gewonnen
wird: Winckelmann, Carstens, Thvrwnldseu, Schinkel, Niebuhr -- zum Ab¬
schluß Hehn. Der Versuch, deu Inhalt im Auszug zu bringen, wäre Ver¬
sündigung an einem Buche, in dem der Stoff ganz Geist, d. i. Form geworden
ist. Auf zwei des Verfassers Persönlichkeit näher angehende Eigentümlichkeiten
möchten wir aber noch hinweisen. Es ist, so selten das Wörtchen "ich" darin
vorkommen mag, eine Bekenntnisschrift: "So sei denn auch dieses Buch, sagt
die Vorrede von 1879, nichts als ein Zeugnis mehr, daß es immer noch
Einzelne unter uns giebt, die dem idealen Gedanken, der unsre klassische Dichtung
und Philosophie geschaffen hat, nicht völlig entsagen mögen; die sich bestreben,
wie Winckelmann und Goethe, wie Schelling und Hegel anzuschauen, zu em¬
pfinden und zu denken; die gegen Plattheiten, wie induktiv und deduktiv, und
gegen Streitfragen, ob die Welt, die ja alles in sich saßt, ein Übel sei oder
nicht, nur Verachtung hegen; die, was sie auch im einzelnen als ihr Fach
betreibe,:, seien es Kegelschnitte oder Werk- und Buchführung oder der Beruf
des Zivilingenieurs oder das Geschäft des Apothekers oder etwas andres, doch
das Bedürfnis fühlen, ein Ganzes zu werden und wahre Menschlichkeit in sich
zu entwickeln; die endlich, um das letztere zu erreichen, ans der Dürre der
Technik und Mechanik, des gemeinen Verstandes und groben Nutzens gern zu
.Kunst und Altertum, zu der Naturgestalt und uralten Kultur des Südens
wie zu einer reinen Bildungs- und Lebensquelle flüchten." Hat Hehn Unrecht,
wenn er glaubt, daß es nur wenige Einzelne seien, die mit ihm so denken und
wollen? Vor aller Augen liegt, welche unermeßliche Bedeutung von Winckel¬
mann ab die Anschauung Italiens für das höhere Geistesleben unsrer Nation
gehabt hat; nicht minder unwidersprechlich ist aber, daß dieser Einfluß seit der
Mitte des Jahrhunderts stetig zurückebbt, daß Italien uns innerlich um eben-


Viktor sehr

Als Ergänzung zu den „Kulturpflanzen und Haustieren" sind die „Skizzen
und Streiflichter" über Italien zu lese». Mau möchte sagen, sie seien als
Monologe niedergeschrieben. Wenigstens hat der Verfasser sich erstaunlich
geringe Mühe gegeben, ihnen Leser zu schaffen. Er überließ sie der in Riga
erscheinenden, über einen eng begrenzten Leserkreis nicht hiuauskommeudeu
Baltischen Monatsschrift. Dann wurden sie von einem Se. Petersburger Ver¬
leger in Buchform herausgegeben (1866), blieben aber in Deutschland wiederum
fast unbemerkt. Aus ihrem Dunkel hervorgezogen wurden sie erst durch die
zweite Auflage (1879), zu der ein Hehn als Freund und Landsmann nahe¬
stehender Berliner Buchhändler die Initiative ergriff, ein Verdienst, für das
ihm leider immer noch nicht gar viele, diese aber wärmstens dankbar sind.
Denn seitdem hat sich das Urteil unbestritten festgestellt, daß wir in Hehns
Buch das Geistvollste und Schönste, was seit Goethe deutscherseits über Italien
gesagt worden ist, besitzen, wobei sich aufs neue die Beobachtung aufdrängt,
daß das tiefste sympathetische Verhältnis zum Süden und zum Klassischen am
häufigsten — gewiß nicht zufällig — von Männern des Nordens gewonnen
wird: Winckelmann, Carstens, Thvrwnldseu, Schinkel, Niebuhr — zum Ab¬
schluß Hehn. Der Versuch, deu Inhalt im Auszug zu bringen, wäre Ver¬
sündigung an einem Buche, in dem der Stoff ganz Geist, d. i. Form geworden
ist. Auf zwei des Verfassers Persönlichkeit näher angehende Eigentümlichkeiten
möchten wir aber noch hinweisen. Es ist, so selten das Wörtchen „ich" darin
vorkommen mag, eine Bekenntnisschrift: „So sei denn auch dieses Buch, sagt
die Vorrede von 1879, nichts als ein Zeugnis mehr, daß es immer noch
Einzelne unter uns giebt, die dem idealen Gedanken, der unsre klassische Dichtung
und Philosophie geschaffen hat, nicht völlig entsagen mögen; die sich bestreben,
wie Winckelmann und Goethe, wie Schelling und Hegel anzuschauen, zu em¬
pfinden und zu denken; die gegen Plattheiten, wie induktiv und deduktiv, und
gegen Streitfragen, ob die Welt, die ja alles in sich saßt, ein Übel sei oder
nicht, nur Verachtung hegen; die, was sie auch im einzelnen als ihr Fach
betreibe,:, seien es Kegelschnitte oder Werk- und Buchführung oder der Beruf
des Zivilingenieurs oder das Geschäft des Apothekers oder etwas andres, doch
das Bedürfnis fühlen, ein Ganzes zu werden und wahre Menschlichkeit in sich
zu entwickeln; die endlich, um das letztere zu erreichen, ans der Dürre der
Technik und Mechanik, des gemeinen Verstandes und groben Nutzens gern zu
.Kunst und Altertum, zu der Naturgestalt und uralten Kultur des Südens
wie zu einer reinen Bildungs- und Lebensquelle flüchten." Hat Hehn Unrecht,
wenn er glaubt, daß es nur wenige Einzelne seien, die mit ihm so denken und
wollen? Vor aller Augen liegt, welche unermeßliche Bedeutung von Winckel¬
mann ab die Anschauung Italiens für das höhere Geistesleben unsrer Nation
gehabt hat; nicht minder unwidersprechlich ist aber, daß dieser Einfluß seit der
Mitte des Jahrhunderts stetig zurückebbt, daß Italien uns innerlich um eben-


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[0322] Viktor sehr Als Ergänzung zu den „Kulturpflanzen und Haustieren" sind die „Skizzen und Streiflichter" über Italien zu lese». Mau möchte sagen, sie seien als Monologe niedergeschrieben. Wenigstens hat der Verfasser sich erstaunlich geringe Mühe gegeben, ihnen Leser zu schaffen. Er überließ sie der in Riga erscheinenden, über einen eng begrenzten Leserkreis nicht hiuauskommeudeu Baltischen Monatsschrift. Dann wurden sie von einem Se. Petersburger Ver¬ leger in Buchform herausgegeben (1866), blieben aber in Deutschland wiederum fast unbemerkt. Aus ihrem Dunkel hervorgezogen wurden sie erst durch die zweite Auflage (1879), zu der ein Hehn als Freund und Landsmann nahe¬ stehender Berliner Buchhändler die Initiative ergriff, ein Verdienst, für das ihm leider immer noch nicht gar viele, diese aber wärmstens dankbar sind. Denn seitdem hat sich das Urteil unbestritten festgestellt, daß wir in Hehns Buch das Geistvollste und Schönste, was seit Goethe deutscherseits über Italien gesagt worden ist, besitzen, wobei sich aufs neue die Beobachtung aufdrängt, daß das tiefste sympathetische Verhältnis zum Süden und zum Klassischen am häufigsten — gewiß nicht zufällig — von Männern des Nordens gewonnen wird: Winckelmann, Carstens, Thvrwnldseu, Schinkel, Niebuhr — zum Ab¬ schluß Hehn. Der Versuch, deu Inhalt im Auszug zu bringen, wäre Ver¬ sündigung an einem Buche, in dem der Stoff ganz Geist, d. i. Form geworden ist. Auf zwei des Verfassers Persönlichkeit näher angehende Eigentümlichkeiten möchten wir aber noch hinweisen. Es ist, so selten das Wörtchen „ich" darin vorkommen mag, eine Bekenntnisschrift: „So sei denn auch dieses Buch, sagt die Vorrede von 1879, nichts als ein Zeugnis mehr, daß es immer noch Einzelne unter uns giebt, die dem idealen Gedanken, der unsre klassische Dichtung und Philosophie geschaffen hat, nicht völlig entsagen mögen; die sich bestreben, wie Winckelmann und Goethe, wie Schelling und Hegel anzuschauen, zu em¬ pfinden und zu denken; die gegen Plattheiten, wie induktiv und deduktiv, und gegen Streitfragen, ob die Welt, die ja alles in sich saßt, ein Übel sei oder nicht, nur Verachtung hegen; die, was sie auch im einzelnen als ihr Fach betreibe,:, seien es Kegelschnitte oder Werk- und Buchführung oder der Beruf des Zivilingenieurs oder das Geschäft des Apothekers oder etwas andres, doch das Bedürfnis fühlen, ein Ganzes zu werden und wahre Menschlichkeit in sich zu entwickeln; die endlich, um das letztere zu erreichen, ans der Dürre der Technik und Mechanik, des gemeinen Verstandes und groben Nutzens gern zu .Kunst und Altertum, zu der Naturgestalt und uralten Kultur des Südens wie zu einer reinen Bildungs- und Lebensquelle flüchten." Hat Hehn Unrecht, wenn er glaubt, daß es nur wenige Einzelne seien, die mit ihm so denken und wollen? Vor aller Augen liegt, welche unermeßliche Bedeutung von Winckel¬ mann ab die Anschauung Italiens für das höhere Geistesleben unsrer Nation gehabt hat; nicht minder unwidersprechlich ist aber, daß dieser Einfluß seit der Mitte des Jahrhunderts stetig zurückebbt, daß Italien uns innerlich um eben-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/322>, abgerufen am 26.06.2024.