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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Viktor Hehn

soviel ferner gerückt ist, als die Zahl der jährlichen Besucher sich verhundert¬
facht hat. Ja es gilt bereits als eine unvermeidliche Legitimation kerndeutscher
Gesinnung, auch rückwärts die die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllende
Begeisterung sür Italien als eine willkürliche Schwärmerei, als ente undeutsche
Verirrung zu brandmarken. Auch in Betreff Italiens also war Hehn
"Reaktionär," Ihm galt bis ans Ende Italien als die dem Deutschen taug¬
lichste Schule der Erweiterung und Entäußerung seines Selbst. "Wer aus
Italien kommt, geht veredelt umher, wie mit einem zweiten Gesicht begabt.
Bedenkt man, wie sehr der deutsche Geist auf das Wesen und wie wenig er auf
die Erscheinung gerichtet ist, so mochte man jedem Deutschen, der dessen wert
ist, zu seiner Bildung wünschen, daß er gezwungen würde, eine Weile in der
Atmosphäre antiken, romanischen, südlichen Lebens zu atmen. Dort ist noch
Schönheit und Idealität, um die freche Realistik zu mildern, der wir uns
neuerdings ergeben zu haben scheinen. Denn nicht bloß Ergänzung des uns
Fehlenden soll uns Italien bringen, sondern vor allem Sicherung unsers Be¬
sitzes, Abwendung drohenden Verlustes."

Nach allein Bisherigen braucht der Leser nicht erst nach dem Namen dessen
zu fragen, den Hehn als den größten Deutschen "auf idealem und sittlichem
Gebiete" verehrte. Goethes Schriften waren sein Lebensbegleiter von den
Knabenjahren an, und er hatte sich in ihnen eine so gründliche und prompte
Velesenheit erworben, wie bestenfalls einige wenige von denen, die die Goethe¬
forschung als Beruf betreiben. Aber an die Aufzeichnung seiner "Gedanken
über Goethe" ging er erst, als sich ihm die Wege auf seinem wissenschaftlichen
Spezialgebiet, wie wir gesehen haben, versperrten, und als dem Siebzigjährigen
der Wunsch rege werden möchte, noch ein Schlußwort zu feinem Leben zu sprechen.
Es war aufrichtige Bescheidenheit, aber eine, deren Richtung er ironisch verhüllt,
wenn er in einem Privatbriefe an einen ihn zur Veröffentlichung seiner Studien
ermunternden schrieb: "Wenn die Herren von der Zunft über manches die
Achseln zucken werden, so muß ich mirs gefallen lassen; ein Bönhase wie ich
soll sich nicht unter die Meister drängen." Den wahren Grund seines Zögerns
finden wir in einem objektiv auf Goethe angewandten, aber sicher aus sub¬
jektiver Erfahrung gewonnenem Satze: "Und doch bedarf der Genius, und je
größer er ist, umso mehr, der Einstimmung und Frende, des Gegenklanges
von außen, nur dieser reizt ihn, sich zu öffnen, die gesammelten Schätze herzu¬
geben, die Scham, die Schmerzen zu überwinden, die mit jeder Ablösung vom
Herzen verbunden sind." Die Tageskritik und ihr folgend das Lesepnblikmn
warf sich beim Erscheinen des Buches mit leider bezeichnendem Vergnügen ans
die in glänzenden polemischen Scharmützeln durchgeführte Einleitung, als wäre
sie die Hauptsache; sie sollte aber nichts, als zwischen dem Verfasser und den
Lesern die Bahn frei machen für den positiven Gehalt der folgenden Kapitel.
Vor allem wieder überrascht hier Hehn durch die Ursprünglichkeit und Tiefe


Viktor Hehn

soviel ferner gerückt ist, als die Zahl der jährlichen Besucher sich verhundert¬
facht hat. Ja es gilt bereits als eine unvermeidliche Legitimation kerndeutscher
Gesinnung, auch rückwärts die die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllende
Begeisterung sür Italien als eine willkürliche Schwärmerei, als ente undeutsche
Verirrung zu brandmarken. Auch in Betreff Italiens also war Hehn
„Reaktionär," Ihm galt bis ans Ende Italien als die dem Deutschen taug¬
lichste Schule der Erweiterung und Entäußerung seines Selbst. „Wer aus
Italien kommt, geht veredelt umher, wie mit einem zweiten Gesicht begabt.
Bedenkt man, wie sehr der deutsche Geist auf das Wesen und wie wenig er auf
die Erscheinung gerichtet ist, so mochte man jedem Deutschen, der dessen wert
ist, zu seiner Bildung wünschen, daß er gezwungen würde, eine Weile in der
Atmosphäre antiken, romanischen, südlichen Lebens zu atmen. Dort ist noch
Schönheit und Idealität, um die freche Realistik zu mildern, der wir uns
neuerdings ergeben zu haben scheinen. Denn nicht bloß Ergänzung des uns
Fehlenden soll uns Italien bringen, sondern vor allem Sicherung unsers Be¬
sitzes, Abwendung drohenden Verlustes."

Nach allein Bisherigen braucht der Leser nicht erst nach dem Namen dessen
zu fragen, den Hehn als den größten Deutschen „auf idealem und sittlichem
Gebiete" verehrte. Goethes Schriften waren sein Lebensbegleiter von den
Knabenjahren an, und er hatte sich in ihnen eine so gründliche und prompte
Velesenheit erworben, wie bestenfalls einige wenige von denen, die die Goethe¬
forschung als Beruf betreiben. Aber an die Aufzeichnung seiner „Gedanken
über Goethe" ging er erst, als sich ihm die Wege auf seinem wissenschaftlichen
Spezialgebiet, wie wir gesehen haben, versperrten, und als dem Siebzigjährigen
der Wunsch rege werden möchte, noch ein Schlußwort zu feinem Leben zu sprechen.
Es war aufrichtige Bescheidenheit, aber eine, deren Richtung er ironisch verhüllt,
wenn er in einem Privatbriefe an einen ihn zur Veröffentlichung seiner Studien
ermunternden schrieb: „Wenn die Herren von der Zunft über manches die
Achseln zucken werden, so muß ich mirs gefallen lassen; ein Bönhase wie ich
soll sich nicht unter die Meister drängen." Den wahren Grund seines Zögerns
finden wir in einem objektiv auf Goethe angewandten, aber sicher aus sub¬
jektiver Erfahrung gewonnenem Satze: „Und doch bedarf der Genius, und je
größer er ist, umso mehr, der Einstimmung und Frende, des Gegenklanges
von außen, nur dieser reizt ihn, sich zu öffnen, die gesammelten Schätze herzu¬
geben, die Scham, die Schmerzen zu überwinden, die mit jeder Ablösung vom
Herzen verbunden sind." Die Tageskritik und ihr folgend das Lesepnblikmn
warf sich beim Erscheinen des Buches mit leider bezeichnendem Vergnügen ans
die in glänzenden polemischen Scharmützeln durchgeführte Einleitung, als wäre
sie die Hauptsache; sie sollte aber nichts, als zwischen dem Verfasser und den
Lesern die Bahn frei machen für den positiven Gehalt der folgenden Kapitel.
Vor allem wieder überrascht hier Hehn durch die Ursprünglichkeit und Tiefe


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[0323] Viktor Hehn soviel ferner gerückt ist, als die Zahl der jährlichen Besucher sich verhundert¬ facht hat. Ja es gilt bereits als eine unvermeidliche Legitimation kerndeutscher Gesinnung, auch rückwärts die die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllende Begeisterung sür Italien als eine willkürliche Schwärmerei, als ente undeutsche Verirrung zu brandmarken. Auch in Betreff Italiens also war Hehn „Reaktionär," Ihm galt bis ans Ende Italien als die dem Deutschen taug¬ lichste Schule der Erweiterung und Entäußerung seines Selbst. „Wer aus Italien kommt, geht veredelt umher, wie mit einem zweiten Gesicht begabt. Bedenkt man, wie sehr der deutsche Geist auf das Wesen und wie wenig er auf die Erscheinung gerichtet ist, so mochte man jedem Deutschen, der dessen wert ist, zu seiner Bildung wünschen, daß er gezwungen würde, eine Weile in der Atmosphäre antiken, romanischen, südlichen Lebens zu atmen. Dort ist noch Schönheit und Idealität, um die freche Realistik zu mildern, der wir uns neuerdings ergeben zu haben scheinen. Denn nicht bloß Ergänzung des uns Fehlenden soll uns Italien bringen, sondern vor allem Sicherung unsers Be¬ sitzes, Abwendung drohenden Verlustes." Nach allein Bisherigen braucht der Leser nicht erst nach dem Namen dessen zu fragen, den Hehn als den größten Deutschen „auf idealem und sittlichem Gebiete" verehrte. Goethes Schriften waren sein Lebensbegleiter von den Knabenjahren an, und er hatte sich in ihnen eine so gründliche und prompte Velesenheit erworben, wie bestenfalls einige wenige von denen, die die Goethe¬ forschung als Beruf betreiben. Aber an die Aufzeichnung seiner „Gedanken über Goethe" ging er erst, als sich ihm die Wege auf seinem wissenschaftlichen Spezialgebiet, wie wir gesehen haben, versperrten, und als dem Siebzigjährigen der Wunsch rege werden möchte, noch ein Schlußwort zu feinem Leben zu sprechen. Es war aufrichtige Bescheidenheit, aber eine, deren Richtung er ironisch verhüllt, wenn er in einem Privatbriefe an einen ihn zur Veröffentlichung seiner Studien ermunternden schrieb: „Wenn die Herren von der Zunft über manches die Achseln zucken werden, so muß ich mirs gefallen lassen; ein Bönhase wie ich soll sich nicht unter die Meister drängen." Den wahren Grund seines Zögerns finden wir in einem objektiv auf Goethe angewandten, aber sicher aus sub¬ jektiver Erfahrung gewonnenem Satze: „Und doch bedarf der Genius, und je größer er ist, umso mehr, der Einstimmung und Frende, des Gegenklanges von außen, nur dieser reizt ihn, sich zu öffnen, die gesammelten Schätze herzu¬ geben, die Scham, die Schmerzen zu überwinden, die mit jeder Ablösung vom Herzen verbunden sind." Die Tageskritik und ihr folgend das Lesepnblikmn warf sich beim Erscheinen des Buches mit leider bezeichnendem Vergnügen ans die in glänzenden polemischen Scharmützeln durchgeführte Einleitung, als wäre sie die Hauptsache; sie sollte aber nichts, als zwischen dem Verfasser und den Lesern die Bahn frei machen für den positiven Gehalt der folgenden Kapitel. Vor allem wieder überrascht hier Hehn durch die Ursprünglichkeit und Tiefe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/323>, abgerufen am 26.06.2024.